SWR2 Forum Buch

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Forum Buch
Vom 28.02.2016 (17:05 – 18:00 Uhr)
Redaktion und Moderation: Carsten Otte
Mit neuen Büchern von: Roland Schimmelpfennig, Karen Duve, Heinz Strunk,
Christoph Hein, Michael Kumpfmüller
Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn
des 21. Jahrhunderts
Roman
S. Fischer Verlag
256 Seiten, 19,99 Euro
Rezension von Tobias Lehmkuhl
Karen Duve: Macht
Roman
Galiani Verlag
416 Seiten, 21,99 Euro
Carsten Otte im Gespräch mit Birgit Koss
Heinz Strunk. Der goldene Handschuh
Roman
Rowohlt Verlag
256 Seiten, 19, 95 Euro
Rezension von Carolin Courts
Christoph Hein: Glückskind mit Vater
Roman
Suhrkamp Verlag
527 Seiten, 22,95 Euro
Carsten Otte im Gespräch mit Sigrid Löffler
Michael Kumpfmüller: Die Erziehung des Mannes
Roman
Kiepenheuer und Witsch
240 Seiten, 18,99 Euro
Rezension von Brigitte Neumann
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Roland Schimmelpfennig: An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn
des 21. Jahrhunderts
Von Tobias Lehmkuhl
„An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, das
klingt so gut, dass man es gleich wiederholen möchte, ernsthaft, vielversprechend.
Und so beginnt denn auch Roland Schimmelpfennigs Debütroman mit ebendiesem
Satz:
ZITAT: „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
überquerte ein einzelner Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen
Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen. Der Wolf kam von Osten. Er lief über
das Eis der zugefrorenen Oder, erreichte das andere Ufer des Flusses und bewegte
sich dann weiter Richtung Westen. Hinter dem Fluss stand die Sonne noch tief über
dem Horizont.“
Fast märchenhaft mutet das an, und tatsächlich wird hier eine mythische Landschaft
aufgerufen: der weite, vereiste, beinahe menschenleere Osten. Hinter Berlin beginnt
ja bekanntlich Sibirien.
ZITAT: „Der Wolf lief im Morgenlicht unter dem wolkenlosen Himmel über weite,
schneebedeckte Felder, bis er den Rand eines Waldes erreichte und darin
verschwand.“
Wie aus der Zeit gefallen scheint diese Szenerie: Hat man es hier wirklich mit einem
Roman des Jahres 2016 zu tun? Wurde der Osten, wurden Berlin und sein
brandenburgisches Hinterland nicht in den neunziger und noch Anfang der
zweitausender Jahre ein ums andere Mal beschworen? Und ist es jetzt nicht
angezeigt, über den Nahen Osten, über Bundeswehrsoldaten in Afghanistan, über
Flüchtlinge im Mittelmeer oder wenigstens, das hat sich doch bewährt, über
Familiengeschichten aus der Nazizeit zu schreiben? Interessiert Roland
Schimmelpfennig alles nicht.
ZITAT: „Einen Tag später fand ein Jäger dreißig Kilometer westlich des zugefrorenen
Flusses in einem Wald die blutigen Überreste eines Rehs. Neben dem toten Reh im
Schnee fand der Jäger die Spuren eines Wolfes. Das war in der Nähe von Vierlinden
bei Seelow. Den letzten Wolf hatte man hier vor über hundertsechzig Jahren
gesehen, im Jahr 1843.“
Märchen, oder auch eine alte Legende: Schimmelpfennigs Sprache ist, wie in seinen
Theaterstücken, so einfach wie poetisch. Und natürlich interessieren ihn nicht nur
Tiere. Der Wolf bewegt sich in seinem Roman, wie es sich für einen Wolf gehört, im
Hintergrund, nur hin und wieder tritt er, einer Epiphanie gleich, ins Gesichtsfeld der
Menschen: Ein polnischer Bauarbeiter, der auf der Autobahn Richtung Berlin
eingeschneit im Stau steht, fotografiert ihn. Ein Spätkaufbesitzer sieht das Foto in
einer Zeitung und macht sich selbst auf die Suche nach dem Tier. Zwei
Brandenburger Jugendliche, die von zu Hause ausreißen und im Wald einen toten
Jäger finden, kreuzen später den Weg des Wolfes, als sie in einem Rohbau im
Prenzlauer Berg Unterschlupf finden. „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu
Beginn des 21. Jahrhunderts“ ist ein Geschichtenmosaik, in dem Wolfsspuren von
einer Geschichte zur anderen führen. Wo ein Wolf ist, ist freilich ein Gewehr nicht
weit.
ZITAT: „Sie liefen im Dunkeln auf die Tankstelle zu. Autos blendeten auf, hupten,
überholten sie. In ihren schwarzen Sachen waren das Mädchen und der Junge am
Straßenrand kaum auszumachen. Er trug das Gewehr über der Schulter,
eingewickelt in eine der Decken aus der Kapelle. Das Gewehr war schwer.“
Und wenn in einer Geschichte ein Gewehr auftaucht, kann man sicher sein, dass es
irgendwann abgefeuert wird. Roland Schimmelpfennig hält sich an diese Regel,
überhaupt ist sein Roman nicht darauf angelegt, mit Konventionen zu brechen.
„Konventionell“ aber mag man ihn gleichwohl nicht nennen. Souverän wäre das
treffendere Attribut. Hier weiß einer, was er erzählen will, und er weiß um seine
Mittel.
Fasziniert ist er dabei weniger von der Weite des Ostens, als von den Schnittstellen
der Stadt: Orte, die seine Protagonisten passieren, um sich dort zu begegnen oder
auch zu verpassen: Der Vater, der die ausgerissenen Jugendlichen sucht, und selber
auf der Flucht ist - vor dem Alkohol. Der polnische Bauarbeiter, der seine Freundin
verlässt, weil sie von einem anderen ein Kind erwartet, die Frau, die die Tagebücher
ihrer Mutter verbrennt, weil sie selbst darin nicht vorkommt. Vieles kreist hier um den
erwähnten entkernten prenzlberger Altbau, um leere, freie Räume also.
Entsprechend vermeidet es Schimmelpfennig sein erzählerisches Netz zu eng zu
ziehen. Manche Spur verliert sich, andere Linien hingegen überlagern sich mehrfach.
So wirkt seine Geschichte aus Geschichten stets plausibel, realistisch.
Fraglos ein gutes, ein solides Buch, das einfache Dinge in kraftvolle Sprache fasst.
Wer allerdings nach Ungehobeltem oder nach der großen Überraschung sucht, wird
hier sicher nicht fündig. Unter den Nominierten für den Preis der Leipziger
Buchmesse ist „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.
Jahrhunderts“, das leiseste, unspektakulärste Buch. Neben der kompromisslosen
Mördergeschichte Heinz Strunks, dem monumentalen, tausendseitigen
Geschichtspanorama Guntram Vespers, der fast ebenso langen postapokalyptischen
Vision Nis-Momme Stockmanns sowie den Gedichten Marion Poschmanns, nimmt
es sich gleichwohl geradezu erfrischend normal aus.
Heinz Strunk. Der goldene Handschuh
Von Carolin Courts
Autorin:
Manche Bücher kann man genießen. Andere muss man aushalten. „Der goldene
Handschuh“ fällt ohne jeden Zweifel in die zweite Kategorie – egal, aus welchem
Blickwinkel man ihn betrachtet. Das bedeutet keineswegs, dass er weniger
lesenswert wäre. Aber man muss ihn sich halt zutrauen. Als Test, was die
individuelle Fähigkeit zum Aushalten angeht, möge folgende Passage dienen:
Literaturauszug:
Oh Gott. Das Gebiss ist halb aus dem Mund gerutscht, das Kopfkissen nass vom
Speichel. Eine Oma, er hat wieder eine kaputte, alte Oma mitgenommen. Eine, die
ins Bett macht, und wer weiß, was sonst noch. Eine hatte ihm mal ins Bett
geschissen, die musste er an den Haaren aus der Wohnung schleifen. Sie wollte
ums Verrecken nicht gehen. Er musste sie schlagen, treten, kneifen, sogar beißen,
bis sie endlich, mit letzter Kraft, wegkroch, erzlangsam über den Hausflur und auf
allen Vieren die Treppe hinunter. Er hat sie nie wiedergesehen, wahrscheinlich ist sie
tot. Ganz sicher sogar.
Autorin:
Es ist eine sehr fremde, eine vollkommen empathiefreie, von Alkohol und Drogen
zerätzte Welt, in die Heinz Strunk den Leser hinabführt. Die Hauptfigur firmiert unter
dem Spitznamen „Fiete“. Irgendwer im Hamburger Rotlichtmilieu hat sich den
ausgedacht. Wer und wann und warum – vergessen. Eigentlich heißt der Mann,
dessen größter Ehrgeiz dem Abschleppen von Bettgefährtinnen gilt, Fritz. Fritz
Honka. Und seine Lieblingskneipe auf dem Kiez heißt „Zum goldenen Handschuh“.
Der Name meint einen Boxhandschuh. Klar: Wer hier nicht bereit ist, Gewalt
auszuüben, geht unter. Wer hier verkehrt, hat nichts mehr zu verlieren, hat jeden
Anstand und jede Hemmung schon lange abgeworfen…
Literaturauszug:
Fiete beobachtet gern Schlägereien. Ein Typ mit schneeweißem Rollkragen versucht
besonders witzig zu sein. „Guck mal, was sind denn das für Fickfehler.“ Auweia. Das
hätte er besser nicht sagen sollen. Ein fetter, alter Mann haut ihm ansatzlos eine
rein. Der weiße Pullover erwischt den Dicken bei den Ohren. Gleich zieht er mit aller
Kraft an ihnen, als wolle er sie abreißen. Wie der Dicke wohl ohne Ohren aussieht.
Der bäumt sich auf, brüllt in viehischer Trunkenheit, schreit vor Wut und Schmerz.
Hier ist was los, denkt Fiete, da ham wir den Salat, ein Elend alles. Der Dicke kann
nicht aufhören, er will weitermachen, bis der Pullover tot ist.
Autorin:
Eines wird sehr deutlich auf den 250 Seiten des Romans: Ein Menschenleben zählt
nicht viel in diesem Schlamm, in dem Fritz Honka vor sich hin existiert. Wer in den
1970er-Jahren regelmäßig Zeitung gelesen hat, wird sich vielleicht erinnern: Honka
hat es wirklich gegeben, er hat zwischen1970 und 1975 vier Frauen ermordet. Doch
während die journalistische Außenperspektive immer einen eiskalten,
unberechenbaren Serienkiller gezeichnet hat, lesen sich die Tötungen bei Heinz
Strunk so beiläufig wie rustikal, aus der Logik der Figur heraus fast naheliegend…
Literaturauszug:
Anna ist inzwischen eingeschlafen. Das passt ihm nicht, er kann jetzt wieder und will
ran, aber sie liegt da wie ein Stück Dachpappe bei Regen. Er rüttelt an ihren
Schultern, doch sie presst mit aller Kraft die Beine zusammen. Da packt ihn eine
unwahrscheinliche Wut. Er reißt mit beiden Pranken diesen gänzlich verballhornten
Schädel hoch und haut ihn mehrmals gegen den Nachttischschrank.
Autorin:
Die Figurenrede als Erzähltechnik erweist sich als geradezu geniale Wahl. Heinz
Strunk erspart es sich dadurch, sich dem Mörder formal gänzlich anzuverwandeln.
Gleichzeitig ist er auch nicht genötigt, das Geschilderte zu bewerten. So sitzen der
Autor und sein Publikum gemeinsam zwischen Baum und Borke und lassen einfach
geschehen, was geschieht. Aus nächster Nähe. Egal, ob Honka gerade mordet oder
glaubt, sich verliebt zu haben…
Literaturauszug:
Einmal, als er endlich mal wieder alleine mit Helga ist, bittet sie um einen Korn.
Etwas scheint sie zu bedrücken. Fiete traut sich nicht zu fragen, aber schließlich
rückt sie von alleine raus mit der Sprache: Dass sie sich im Leben auch was anderes
erträumt hätte, als Büros zu putzen. Fiete weiß darauf nichts zu sagen, er weiß auch
nicht, ob sein Rat gefragt ist oder er nur zuhören soll. Helga hat wirklich schöne
große Dinger. Fiete möchte sie endlich anfassen, er kann sich kaum noch
beherrschen. Aber wenn er jetzt einen Fehler macht, war’s das, vielleicht für immer.
Autorin:
Es sind nicht nur Passagen wie diese, die den Roman zu einem fiktionalen Text
machen. Zwar hat Heinz Strunk das meiste von dem, was über den realen Honka
bekannt geworden ist, 1:1 in sein Buch einfließen lassen. Aber so viel ist das ja gar
nicht, es bleibt genügend Fläche für Interpretation und Vorstellung. Zusätzlich
schneidet der Autor immer wieder Szenen aus einem ganz anderen Milieu, mit ganz
anderen Protagonisten, dazwischen. Hier wird das zweite, das reiche Gesicht von
Hamburg erkennbar. Doch es zeigt sich: Die Adligen von der Elbchaussee haben
ihre eigenen Abgründe…
Literaturauszug:
Karl von Lützow trinkt am liebsten alleine. Nichts ist schrecklicher, als eine
lächerliche Figur abzugeben, hinter deren Rücken despektierliche Bemerkungen
gemacht werden. Er gönnt sich ein Glas Campari-Orangensaft. Lästige
Nebenwirkung: Nachher ist er geil wie eine Natter. Mit schwerer Zunge ruft er Frauke
an. Wie weit er bei ihr wohl gehen kann? Ziemlich weit. Er wird sie beschimpfen als
fette Kuh mit zu kleinen Eutern. Ohne je mit ihr darüber gesprochen zu haben, ist er
sicher, dass sie nur darauf wartet. Er greift ihr in die Haare, zieht den Kopf in den
Nacken, dass die Wirbel knacken, und rotzt ihr ins Gesicht.
Autorin:
Die Lebensbedingungen der Betuchten sind naturgemäß angenehmer als die von
Fritz Honka und Konsorten. Aber ihre Perversionen, ihre körperlichen Gebrechen,
ihre schmierigen Gedanken sind genauso unappetitlich, genauso quälend zu lesen.
Was natürlich ein essentieller Subtext ist. Je länger das Hin- und Her zwischen den
Gesellschaftsschichten gesponnen wird, desto mehr vermischt sich alles. Zumal
Heinz Strunk fast sämtliche Figuren an irgendeinem Punkt in den „Goldenen
Handschuh“ schickt. Dort sammeln sich die erfundenen und die realen Personen, die
mörderischen Sorgen und die alltäglichen Probleme, die Not, die Gier, die
Verzweiflung aller. Dort entblößt sich der Mensch in seiner Urform…
Literaturauszug:
„Was hoch war, wird niedrich werden, was viel war, wird wenich sein.“ SoldatenNorbert zieht eine Fuhre Schleim die Nase hoch und schüttelt sich. „Ich hab einen
Geschmack im Mund, als hätte ich Scheiße gekaut.“ Er guckt dumm und langsam.
Wilhelm Heinrich von Dohren, der Dritte, versucht, genau so langsam zu gucken.
„Weissu, wie ich mich `n ganzen Tag fühl? Als hädde ich Säure im Hirn, Flammen
anne Eier und Kacke im Mund.“ Wilhelm Heinrich ahnt, was gemeint ist. So ungefähr
fühlt er sich durchgehend, er würde es nur etwas anders ausdrücken.
Autorin:
Lustiger wird es nicht mehr. Wer von Heinz Strunk weitere autobiographisch gefärbte
Schenkelklopfer-Lektüre erwartet hatte, wird hier eine buchstäblich bittere
Enttäuschung erleben. Wobei man durchaus hätte gewarnt sein können: Der Roman
ist für den renommierten Preis der Leipziger Buchmesse 2016 nominiert, wo
Spaßbücher traditionell eher nicht vorkommen. Die Nominierung ist Anfang Februar
bekannt geworden und war den meisten Feuilletons eine gesonderte Erwähnung
wert. Man hatte es diesem Heinz Strunk, der mal als „Humorist“ und mal als
„Comedian“ etikettiert wird, wohl nicht zugetraut. Ein Fehler, wie sich zeigt. „Der
goldene Handschuh“ ist ein großer Wurf geworden. Hart und mitten ins Gesicht.
Michael Kumpfmüller: Die Erziehung des Mannes
Von Brigitte Neumann
Mit diesem Roman ist die geneigte Leserin schon nach ein paar Seiten per Du, denn
Anti-Helden wie Georg kennt sie etliche. Und Leserinnen werden‘s ja wohl
überwiegend sein, die ein Buch mit dem Titel „Die Erziehung des Mannes“ in die
Hand nehmen. Das ist auch deshalb ganz wahrscheinlich, weil etwa 80 % aller
Romane ohnehin von Frauen gelesen werden. Für diesen Titel gibt es also einen
großen Markt, denn suggeriert „Die Erziehung des Mannes“ nicht, dass wir es hier
mit einer exemplarischen Geschichte zu tun haben, einer über die Erziehung des
Mannes im Allgemeinen? Oder handelt es sich gar um einen Leitfaden, wie Frauen
sich den Mann an ihrer Seite gefügig machen können? Der Autor Michael
Kumpfmüller spielt mit solchen Erwägungen:
7:00 Die Ironie, die in dem Titel steckt, wenn Sie mal „Die Erziehung des
Mannes“ im Netz eingeben, wo Frauen über die notwendige Erziehung des
Mannes nachdenken, und da geht’s dann darum, seine maßlose Triebnatur
unter Kontrolle zu bringen und andererseits ihn für den Haushalt zu gewinnen,
sag ich mal vorsichtig. Ich hab gestern noch mal eine gefunden, da stand, jeder
Mann ist ein Hund, ich sag Ihnen, wie man ihn erziehen muss. Wer das in
diesem Sinne erwartet, wird an diesem Buch natürlich nicht viel Freude haben.
Freude von diesem Buch zu erwarten ist vielleicht überhaupt ein wenig vermessen,
denn es geht darin um die Geschichte eines Mannes, der nur selten das Gefühl hat,
dass sein Leben ihm wirklich gehört. Was wir von Michael Kumpfmüller erhalten sind
eher Einsichten in die Vertracktheit des Sujets. Und dieses Sujet heißt Frauen,
Familie, Liebe und was das alles für einen Mann heute bedeutet.
Die Frauenbewegung wollte ja, dass der Mann sich ändert, sagt Kumpfmüller …
10.00 … und zwar jetzt nicht nur in diesem banalen Sinn, dass er auf Macht und
Geltung verzichtet, denn das tut er schon. Sondern indem er nämlich
weiblicher wird. Meine Beobachtung ist: Wenn der Mann weiblicher wird, wird
er häuslicher, er wird mehr zum Vater, als es die Männer vorher je gewesen
sind, aber auf der Rückseite stellt sich ein völlig ungewollter Effekt ein,
nämlich für dieses Weibliche wird der Mann dann von denselben Frauen, die
wollen, dass er weiblicher wird, mit Verachtung gestraft. Das erlebe ich, aber
auch mit vielen Männern, mit denen ich gesprochen habe, als Falle. Denn
daraus ergibt sich, dass man nie weiß, was man in welchem Moment sein
muss. 12:31 Da läuft was falsch. Da bin ich sozusagen als Feminist dagegen.
Im ersten Teil des Romans „Die Erziehung des Mannes“ erleben wir Georg, den
angehenden Musikwissenschaftler und Komponisten, allerdings nicht als einen
seiner weiblichen Seite aufgeschlossenen, sondern schlicht als
entscheidungsschwachen jungen Mann, der zu dominanten Frauen neigt und sich
alles aus der Hand nehmen lässt. Sogar den Entschluss, zu heiraten und Kinder zu
kriegen. Nie ist er ganz dafür, aber er ist auch nicht ganz dagegen. Er überlässt sich
lieber, und zwar zu seinem Unglück einem herrischen Wesen namens Jule. Ob sie
ihn erzieht? Erziehung scheint hier das falsche Wort. Denn Erziehung ist Prägung.
Und die hat Georg zu diesem Zeitpunkt bereits hinter sich.
Bis wir erfahren, wie es zu Georgs seelischen Lähmungen kommen konnte, hält sich
unser Mitgefühl für ihn in Grenzen. Warum? Er gehört zum Typus des Mannes, der
sich in Ermangelung eigener Vitalität von der Lebendigkeit seiner Partnerinnen
ernährt. Der Mann als schwarzes Loch: zieht Masse an, und ist dabei nichts weiter
als ein leeres Magnetfeld. Frauen, die nicht aufpassen, können rückstandslos darin
verschwinden. Ein Mal im Leben macht Georg einen Punkt. Es ist eine
lebensrettende Maßnahme: Er trennt sich von Jule. Aber die lässt ihn nicht los,
schafft es, die einzige erfüllende Liebesbeziehung, die Georg je in seinem Leben hat,
zu zerstören und setzt zu diesem Zweck auch die drei gemeinsamen Kinder als
Waffen ein. Die Begründung: Er habe ihr die besten Jahre des Lebens gestohlen.
Womit sie nicht ganz Unrecht hat.
Die wahre Ursache für Georgs quälende Indifferenz schildert Michael Kumpfmüller
im zweiten Teil des Romans. Seine Unterwerfung war demnach lange vor dem
Auftauchen der ersten Frau vollzogen worden, und zwar durch den übermächtigen
Vater. Er war es, der die Weichen stellte. Er signalisierte dem Knaben bei jeder
seiner gefürchteten Abrechnungsreden bei Tisch: Du bist ein Versager.
Der Rückblick in Georgs Kindheit ist das mitreißend erzählte Herzstück des Romans.
Ein Bericht über Erziehung als Akt fortgesetzter Demütigung, so wie Kafka sie in
seinem Brief an den Vater schildert. „Zwischen uns war es kein eigentlicher Kampf.
Ich war bald erledigt; was übrigblieb war Flucht, Verbitterung, Trauer.“
Der Brief an den Vater war für mich als 16-jähriger ein extrem wichtiger Text,
allerdings hab ich als 16-Jähriger nicht sehen können, dass das natürlich ein
literarischer Text ist. Kafka hat den ja bekanntlich seinem Vater nie gegeben.
Das hat nicht nur den Grund, dass er gut beraten war, das nicht zu tun,
sondern weil es eben eine Fiktion eines Vaters ist. Und das hat mich jetzt beim
Schreiben meines Vaterkapitels vielleicht auch geführt, dass ich mir immer
bewusst war, dass der Vater dieses Georgs, der mit meinem Vater zweifellos zu
tun hat, dass das eine Fiktion ist. Freudianisch gesagt: Es gibt immer einen
realen Vater und eine reale Mutter und es gibt immer eine Entsprechung im
Kopf und die sind nicht unbedingt identisch. 3:28
Als Erwachsener und während einer mit Gewinn absolvierten Psychotherapie
erinnert Georg sich, dass der Vater nicht nur ihn, sondern alle in seiner Umgebung
mit vernichtenden Attacken überzogen hat – die Mutter, indem er seine Freundinnen
mit heim brachte, die Verwandten, vor denen er als Rechthaber und Despot auftrat,
seine Untergebenen im Ministerium, indem er sie sämtlich für unfähig erklärte. Georg
erkennt: Der Vater ist so. Er meinte ihn gar nicht. Nicht einmal mit seiner Wut. Und in
seiner Frau Jule erkennt er Charakterzüge des Vaters wieder: „Ihr Hass hatte nicht
viel mit mir zu tun, ich war nur ein Platzhalter, der Idiot ihrer unzufriedenen Existenz.“
Mit Jule wiederholt Georg das Muster seiner Vaterbeziehung – freudianisch gesagt.
Der Vater ist die Ursache für die tiefverwurzelte, lebenslängliche Unsicherheit, die
zum Schluss, in Georgs Sechzigern, in eine - so vom Autor apostrophierte - letzte
Beziehung mündet, die er mit erschöpfter Gelassenheit akzeptiert. Die Beziehung mit
einer Frau von früher, die ihm quasi zuläuft und bleibt. Sie waren füreinander so
etwas wie „freundliche Gespenster aus der Vergangenheit“, schreibt Kumpfmüller.
Es liest sich wie eine Kapitulation.
„Wir sind Gefangene“, heißt ein Roman von Oskar Maria Graf. Und Michael
Kumpfmüller erinnert in „Die Erziehung des Mannes“ daran, dass jeder nur ein
gewisses Quantum an Energie hat, um sich aus seiner ihm zugewachsenen
Gefangenschaft zu befreien, die ja nach den prägenden Jahren der Kindheit, eine
verinnerlichte ist. Ihr ist schwerer zu entrinnen als jedem äußeren Gefängnis. Das ist
die Warnung, die der Roman „Die Erziehung des Mannes“ von Michael Kumpfmüller
auf eindringliche Weise ausspricht.