Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 17.04.2016 O-Ton Schliephake: "Endlich war er da, an seinem Baum. Eigentlich war es gar nicht sein Baum. Er hat ihn nicht gepflanzt, er gehörte ihm auch nicht, aber seit Kindertagen stand dieser Baum hier auf dem Marktplatz. Er umarmte den Baum und hielt seine Wange an die knochige Rinde. Und plötzlich hatte er Bilder in seinem Kopf, erinnerte sich: Als Kind war er oft auf diesen Baum geklettert, hatte sich versteckt oben zwischen den Zweigen und Ästen. Und dann rief seine Mutter: 'Zachäus, komm runter, das Essen ist fertig“. Lang ist das her. Sprecherin: Es ist mucks-mäuschen-still in den Gemeinderäumen des Michaelisklosters in Hildesheim. Die Kinder haben sich nach vorne gebeugt, die Ohren wie gespitzt. Manche lauschen mit geschlossenen, andere mit kugelrunden offenen Augen. Die Atmosphäre ist dicht, die Stille wie geladen, als der Pfarrer Dirk Schiephake, Beauftragter für Kindergottesdienst der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers die biblische Geschichte vom jüdischen Zöllner Zachäus und seiner Begegnung mit Jesus vor knapp 2000 Jahren erzählt. Auch die Erwachsenen im Raum lauschen, einige mit leicht schiefgestelltem Kopf, um keines von den Bildern zu verpassen. O-Ton Schliephake: Und dann hörte ich an der Zollstation, wie die Kollegen sagten, "Da kommt einer aus Nazareth, der hat sogar einen Gelähmten geheilt". Den wollte ich sehen, unbedingt. Und dann schloss ich die Zollstation zu und lief zu dem Marktplatz. Und die Leute ließen mich nicht durch: "Dich kennen wir! Du stellst Dich hinten an!“ Und dann sah ich meinen Baum wieder. Ich hatte ihn seit Kindertagen nicht mehr beachtet. Dann kletterte ich hinauf und versteckte mich und von oben konnte ich sehen, wie immer mehr Menschen auf den Platz kamen. Hier war ich sicher. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 Und dann hörte ich diese Stimme: „Zachäus, komm vom Baum runter. Ich will mit Dir und Deiner Familie zu Abend essen!" Sprecher: Es ist eine jener Bibel-Geschichten, die davon erzählen, wie der Gottessohn jenseits aller Vorurteile jemanden wahr- und ernstnimmt, den die Gemeinschaft längst als ‚schlecht‘, als ‚Verräter‘, als ‚Kollaborateur‘ verstoßen hat. Eine Geschichte, in der alles neu wird. Ein uraltes Thema. Aber nicht schlau von der Kanzel verlesen, sondern frei erzählt. Mit ganz anderer Wirkung, sagt Dirk Schiephake. O-Ton Schiephake: Erzählen ist mehr als nur Hören. Ich sage immer: „Wir malen mit Worten Bilder“. Das heißt, was ich als Erzähler sehe, wenn ich das erzähle, sehen das meine Zuhörer auch. ‚Kino im Kopf‘ sagen die Kinder. Das was ich fühle mit einem Menschen, dieses Gefühl haben die Zuhörer auch. Das was ich rieche, das was ich schmecke, was ich anfasse. Das ist sozusagen eine ganzheitliche, sinnorientierte Form der Verkündigung. Und diese selbstentdeckten Bilder, die bleiben. Ich glaube das Erzählen von Erfahrungen, dass das ganz urmenschlich ist, dass das an die nächste Generation weitergegeben wird. In der Bibel vor allem in der hebräischen Bibel, im Alten Testament haben wir sozusagen aufgeschrieben Erzählung, die verschriftlicht worden sind. Das ist tatsächlich in der Theologie-Geschichte untergegangen. Das ist ein Stück Neuentdeckung. Sprecherin: Wenn heute in kirchlichen Gemeindehäusern ‚Bibelerzählen‘ auf dem Programm steht, dann schließt sich ein Kreis. Ein uralter, in dem auch die Geschichte des Christentums kaum mehr ist als ein Augenschlag. Wir alle kennen das unerklärliche Gefühl, dass sich auftut, wenn wir nachts am Feuer sitzen und über das Knistern des brennenden Holzes Geschichten lauschen, die erzählen von den Rätseln und Geheimnissen des Lebens, vom Unerklärlichen, vom Weltlichen und vom Heiligen, von menschlichen Erfahrungen. Das ist wie eingeprägt in die Zellen unseres Körpers, sagt Jon © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 2 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 Young, amerikanischer Erzählforscher und Wildnispädagoge. Ihn zieht es immer wieder zu den Buschleuten im Süden Afrikas, wo alles anfing. O-Ton Young (Übersetzer): Diese Menschen haben sich seit mindestens 130.000 Jahren Geschichten erzählt. Sie sind die gemeinsamen Urahnen der Menschheit in der Kalahari und dem Rift-Valley, auf die man uns alle genetisch zurückführen kann. Und vielleicht sitzen sie schon doppelt so lang. Die Frühgeschichtsforschung sagt, dass die ersten Menschen schon vor eine Viertelmillion Jahren an der Küste Südafrikas, nahe dem heutigen Kapstadt, um das Feuer saßen. Ich glaube wirklich, dass es so weit zurückgeht. Sprecher: Heilige Bücher gibt es in der langen Geschichte der menschlichen Spezies erst seit kurzem. Über Jahrhunderttausende wurden die Parabeln, Legenden, Mythen und Geschichten – die Essenzen menschlicher Erfahrungen – im nächtlichen Kreis am Feuer erzählt. Die mündliche Tradition des ‚Storytelling‘, des ‚Geschichtenerzählens‘ diente der Weitergabe kultureller Traditionen, sozialer Regelwerke, der Stammesgeschichte – aber auch der spirituellen Traditionen. Sprecherin: Das war bei den Buschleuten in der Kalahari seit Anbeginn der Zeiten so, sagt Jabulanda Gakelebone vom Bushmann-Stamm der San in Botswana, Sprecher der ‚First People of the Kalahari‘. O-Ton Gakelebone (Übersetzer): In meiner Kultur bedeutet Geschichtenerzählen, die jungen Menschen zu erziehen: Sie müssen lernen, in der Wildnis zu überleben, lernen, gute Eltern zu sein, lernen, Gefahren zu erkennen, Gut und Böse zu unterscheiden, die Schöpfung zu verstehen. Nehmen wir beispielsweise den Schöpfungsmythos der wilden Tiere, die für uns alle von der Antilope abstammen. Die Geschichten verbinden uns mit den wilden © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 3 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 Tieren und lehren uns, in Frieden mit ihnen zu leben, und sie zu erhalten. Das ganze Land ist voller solcher Geschichten. Alles was da ist, existiert, weil eine Geschichte dahinter liegt: Die Sonne, die Sterne, das Land, das Feuer, unsere Nahrung. Alles, was uns umgibt, lebt und ist mit der Erde verbunden. Das Land ist die Verbindung mit allem. Sprecherin: Schöpfungsgeschichten boten Erklärungsmodelle für das Unbegreifliche der Welt, in die sich der staunende Mensch geworfen wusste. Die oft über zahllose Generationen unverändert erzählten Geschichten wirkten dabei wie eine Brücke zu den Ahnen in der Vergangenheit, verbanden Mensch und Land, und wirkten wie ein Garant für kulturelle Traditionen. David Archie ist Medizinmann bei den Squamisch an der kanadischen Westküste. Er meint, dass wohl alle nomadisierenden Völker zu allen Zeiten mit Geschichten lebten. O-Ton Archie (Übersetzer): Es wäre nicht sinnvoll, gewesen, Dinge festzuhalten und aufzuschreiben, die wir dann hätten transportieren müssen. Also verwahrten wir die Informationen in unseren Herzen und Köpfen. Wohin wir auch kamen, feierten wir die erzählten Erinnerungen als tiefe Verbindung zum Land. Wenn eine neue Erinnerung und Verbindung dazu kam, passierte das im Kontakt mit dem, was an Geschichten schon da war. Sie wurden mündlich, ohne Schriftsprache, von Generation zu Generation weitergegeben. Indem es von den Ältesten an die Jüngeren übermittelt wurde, entstanden keine Hierarchien, alle waren gleich wichtig und jeder war Teil des Ganzen. Sprecher: Geschichten in Jäger- und Sammlerkulturen zu erzählen war eine hohe Kunst, die ein spezielles Training erforderte, eine Übung in Naturverbundenheit, ein Training der Achtsamkeit. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 4 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 Sprecherin: Die Erzähler und Erzählerinnen wurden darin ausgebildet, ihre Sinne so zu schärfen, dass sie eine maximale Wahrnehmung der lebendigen Welt entwickelten. Dazu gehörte Spuren zu lesen, Tiergeräusche zu verstehen, das Wetter zu deuten, mit der eigenen Intuition verbunden zu sein. Jon Young, der immer wieder bei den südafrikanischen KhoiSan, den Buschleuten in die Lehre geht, gibt einen Eindruck jener Kunst, die darin besteht, vergangene Erfahrungen so zu erzählen, dass die Zuhörer meinen, es geschähe alles in ihrer Gegenwart. O-Ton Young (Übersetzer): Wenn sie etwas erzählen, was in der Vergangenheit passiert, ob real oder im Land der Mythen, lassen sie uns über unsere Ohren, unseren Geruchssinn, unsere Emotionen, über alle verfügbaren Sinne am Geschehen teilhaben. Darin liegen die Kunst und die Macht des Geschichtenerzählens. (4:38) Dabei sind Spurenlesen und Geschichtenerzählen eng miteinander verbunden. Wenn Du von der Jagd zurückkommst, bringst Du eine Geschichte mit, die alle die nicht dabei waren, abends am Feuer von Deinen Erfahrungen lernen lässt. Und die Ältesten hören zu und stellen so sicher, dass wirklich alle mentalen Fähigkeiten des Erzählers entwickelt sind. Sprecher: In jenen frühen Kulturen, die in unmittelbarer Symbiose mit der natürlichen Welt lebten, war das Geschichtenerzählen mehr als Unterhaltung. Es war eine Schule der Verbundenheit mit der lebendigen Welt, es war die Qualitätskontrolle für offene Sinne, es war Leben lernen, es war Gefahrenabwehr zum Schutz der Gemeinschaft. Sprecherin: Geschichtenerzählen war überlebenswichtig, gerade in einer Welt voller Raubtiere, sagt der Jon Young und erzählt selbst eine Geschichte. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 5 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 O-Ton Young (Übersetzer): Es gibt in der zentralen Kalahari Botswanas einen Ältesten namens Sanama. Er ist Heiler bei den KhoiSan, aber auch Geschichtenerzähler. Ich saß eines Abends bei ihm, als er mir sagte, er würde später den Kindern des Stammes eine Geschichte erzählen. Es sei die älteste Geschichte, die er kenne, meinte er. Und es ist sicherlich auch die kürzeste, denke ich. Der Unterhaltungswert für die Kinder war groß: Sie wussten, der alte Mann erzählt. Sie kannten die Geschichte. Und sie kamen alle zusammen. Das Feuer wurde entzündet. Und er begann: „Vor langer langer Zeit fraßen die Löwen viele von uns Buschleuten. Ja, sie aßen viele von uns!“ Das war die ganze Geschichte, Anfang, Mitte und Ende. Die Kinder hatten sie schon Hundertmal gehört und wollten sie immer wieder hören. Sie dauerte 20 Sekunden. Sprecher: Diese existentiellen Gefahren, denen der Mensch in seiner langen Geschichte ausgesetzt war, haben wohl dazu geführt, dass er – unabhängig von Alter, Milieu und Kultur – so empfänglich ist für das Medium ‚Geschichte‘. Es galt, voneinander zu lernen, Wissen auszutauschen, sich über Gefahren zu informieren. Sprecherin: Doch der Zauber des ‚Storytelling‘ an den zeitlosen Lagerfeuern der Welt geht noch weiter. Mit den urzeitlichen Geschichten entstand Weltdeutung, mit Weltdeutung Bewusstsein, mit Bewusstsein Kultur, Identität, Gemeinschaft. Der Strom des Seins wurde in Erzählungen benannt, festgelegt und entschieden. Durch den zwischenmenschlichen Austausch über existentielle Erfahrungen im Geschichtenerzählen strukturierte sich Wahrnehmung, entstanden Strukturen im Gehirn. Ein unglaublicher Prozess zwischen äußerer und innerer Welt begann, sagt der Hirnforscher Gerald Hüther. O-Ton Hüther: Es ist ein toller Prozess, der jetzt schon fast esoterische Dimensionen annimmt, wenn man so oberflächlich draufschaut, denn hier wird ja etwas Immaterielles in Materie verwandelt. Eine Erfahrung, die ganz © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 6 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 immateriell ist, hinterlässt im Hirn Spuren, die der Hirnforscher in Form von neuen Vernetzungen sehen kann. Und diese neuen Vernetzungen, diese materielle Struktur, erzeugt dann Gedanken und Bewusstsein und Worte, die man nun wieder gar nicht mehr sehen kann, die ganz und gar immateriell sind. Also dieses große Kunststück der Verwandlung von Materie in Geist und von Geist in Materie ist das, was ständig in unserem Hirn ohnehin stattfindet. Sprecher: Im Geschichtenerzählen gestalten Gemeinschaften seit Jahrtausenden ihre Kultur. Da hinein gehören Jagderlebnisse, exemplarische Lebenserfahrung, kulturelles Wissen, Welterklärung, Schöpfungsmythen oder Erfahrungen mit Schicksalsschlägen. Ohne Schrift. Und die mündlichen Traditionen waren wie ein Netz aus Weisheiten, die die Menschen durchs Leben trugen. Sie boten Sicherheit, Orientierung, Sinn. Märchen entstanden daraus, Mythen, Heldengeschichten, aber auch Handlungsanweisungen für die persönlichen Übergänge. So sieht es auch der walisische Geschichtenerzähler und Mythologe Martin Shaw. O-Ton Shaw (Übersetzer): Mythen, Dichtung, Märchen und Geschichten sind eine Art geheimer Geschichte der Welt. Sie sind als magisches Wissen Teil der Stammeskulturen, dass über Jahrhunderte weiter gegeben wurde. Viele der Geschichten handeln von der Beziehung zwischen der Kultur – dem Stamm, dem Dorf, der Stadt – und den wilden Regionen drum herum: mythischen Orten voller Bären, Wälder, Berge und Flüsse. Und die Geschichten drehen sich dann oft darum, den sichern Ort – Familie, Arbeit, Heimat, Identität zu verlassen. Wenn Du über einen guten Erzähler der richtigen Geschichte begegnest, kannst Du Dich in den Fragen Deines eigenen Lebens wiederfinden: Wo hast Du Deinen Weg verloren? Was ist die Krise Deines Lebens? Mit welchen Drachen musst Du kämpfen? Wo kann Kummer und Not zu Schönheit werden? Und auf diese Weise können Mythologie und Geschichten Dir helfen, Deinen Lebenssinn wiederzuentdecken. Sie sind wie Schatztruhen, die Bilder und Metaphern enthalten, die Dir dabei helfen mit Stil und Würde durchs Leben zu kommen. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 7 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 Sprecherin: Erst viel später wurden die Geschichten und Mythen, die über zahllose Generationen nur mündlich überliefert worden waren, verschriftlicht. In den großen Heldensagen und Märchen, aber auch in ‚heiligen Büchern‘, den Upanischaden, der Bibel, dem Koran. Um sie herum bildeten sich nicht nur kulturelle und religiöse Institutionen, sondern auch Ideologien und Riten, welche ‚die Schrift‘ auslegten, nicht aber mehr ‚das Wort‘ zum Menschen brachten. In der Moderne und ihrer medialen Vielfalt ist die uralte Tradition des mündlichen ‚Story Telling‘ fast ausgestorben, damit aber auch der lebendige Zugang zum Wunder des Lebens verschüttet. Sprecher: Heute erzählen Fernsehen, Kino und Youtube Geschichten, die massenhaft konsumiert werden, aber kaum mehr kulturaufbauend wirken. Werbetexter erzählen symbolische Geschichten, um wirkungsvoll ein Produkt auf dem Markt zu platzieren. Drehbuchautoren praktizieren mediales ‚Storytelling‘ um ihre Botschaft lebendig zu machen. Das Erzählen tradierter Weisheit von Mensch zu Mensch, von Oma zu Enkel, von Lehrer zu Schüler aber verschwindet. Doch es gibt Bemühungen, die alten Werkzeuge der neu zu entdecken und den alten Zauber des Erzählens neu zu wecken. Dazu gehört die Ausbildung zum Bibelerzähler, zur Bibelerzählerin, wie sie Dirk Schliephake in Kooperation mit den großen Kirchen anbietet. O-Ton Schliephake: Diese Ausbildung will dieses alte Handwerk des Bibelerzählens, was einige Tausend Jahre alt ist, Kunstwerk und Mundwerk, wieder neu beleben. Die Teilnehmerinnen veranstalten eigene Bibelerzählabende. Sie erzählen im Gottesdienst, in der Messe, im Kindergottesdienst, bei Frauennachmittagen, bei Männerabenden. Und plötzlich zieht dieses Erzählen Kreise, Kreise, Kreise. Und ich glaube es ist ein neuer ökumenischer Weg. Sprecher: Da werden die kunstvollen Einstiege geübt, wie hier die Bibelpassage, wo Jesus auf dem See Genezareth über das Wasser zu den Jüngern läuft: Die © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 8 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 Körperhaltung, die Betonung, der Kontakt zum Hörer, die Dramaturgie, die emotionale Durchdringung, die sinnliche Präsenz. Sprecherin: Es sind fast dieselben Qualitäten, die seit Jahrzehntausenden von den Geschichtenerzählern in ursprünglichen Kulturen trainiert werden. Denn auch dort überließ man die Geschichten des Volkes nicht jedem, sondern suchte sich die Talente und trainierte sie etwa als Schamanen. Nötig war nicht weniger als die absolute Achtsamkeit, die wache Verbindung zu allem, was ist, sagt Jamunda Gakelebone, Bushman aus Botswana. O-Ton Gakelebone (Übersetzer): Ich habe gelernt, die Geschichten des Landes zu lesen. Wenn ich jetzt irgendwo im Niemandsland der Kalahariwüste ausgesetzt würde, bräuchte ich nur fünf Sekunden, um zu wissen, wo es lang geht. Die Vögel, die Schatten würden mich leiten, in der Nacht würden der Mond und die Sterne mir mein zu Hause zeigen. Das Land erzählt seine Geschichte. Und die ist wie ein eng gewobenes Netz. Da gibt es Vögel, oh, wenn ich sie sehe, weiß ich, dass Löwen in der Nähe sind. Jedes Tier erzählt eine Geschichte und bedeutet etwas für mein Leben. Wenn Du sie hörst, musst Du sie verstehen können. Du brauchst alle Achtsamkeit, die möglich ist. Deshalb hören wir zu! Sprecher: Dabei war die Ausbildung zum Erzähler immer auch eine Art spiritueller Schulung. Ging es doch darum, Erfahrungen mit allen Sinnen zu machen und weiterzugeben zur Stärkung einer Verbundenheit. Sprecherin: Und je mehr das gelang, desto mehr war man im Kontakt mit dem Ganzen, dem Göttlichen, dem Heiligen und konnte auch heilen, glaubt der Anthropologe und Kulturforscher Jon Young. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 9 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 O-Ton Young (Übersetzer): Mit ‘heilig’ ist dann ‘vollständig verbunden’ gemeint. In vielen indigenen Sprachen ist das ‚Heilige‘ und die ‚Verbundenheit mit allem, was ist‘ praktisch das Gleiche. Geschichtenerzähler hatten die Fähigkeit, Menschen mit Dingen, Erfahrungen, ja mit ‚dem Wunder‘ zu verbinden. Und in vielen Kulturen waren sie zugleich die Heiler. Denn ‚Heilen‘ bedeutet doch, Zerbrochenes wieder zusammen zu fügen. Indem die Erzähler das mit Worten machten, heilten sie und heiligten das, was Heiligkeit verloren hatte. Und das ist dann Heilung. Sprecher: Geschichtenerzähler brauchen Zuhörer, brauchen Gegenüber, brauchen Gemeinschaft. In einer Gesellschaft, in der niemand mehr richtig zuhört, gibt es auch keine Geschichtenerzähler. Und wo niemand aufmerksam, neugierig und emphatisch zuhört, erzählt auch niemand mehr seine eigene Lebensgeschichte, den eigenen Mythos, die eigene Heldenreise voller Kämpfe, Prüfungen, Herausforderungen, Niederlagen und Siege. Sprecherin: Doch dann verlieren sich die Menschen, verlieren den Sinn, den Stolz, die Würde und Identität. Sie fühlen sich selbst nicht mehr und werden zum ungesehenen ‚Nobody‘, vegetieren im sozialen Niemandsland. Dazu kann es kommen, wenn Minderheiten nicht gehört werden, wenn Alte ausgegrenzt werden, wenn Vertriebene und Flüchtlinge ihre Geschichte nicht erzählen können. Das ist überall so. Im südafrikanischen Kapstadt hat die Sozialaktivistin Gilian Wilton, die selber von den Buschleuten, den ‚KhoiSan‘ abstammt, deshalb einen ‚Storytelling Garden‘ gegründet, wo das Schweigen, die Scham, die Isolation durchbrochen werden kann und man sich wieder zuhört. O-Ton Wilton (Übersetzer): Dahinter steht die Idee, sich – über alle Unterschiede hinweg – zuzuhören und zu bezeugen, um die größere Gemeinschaft zu stärken. Wir sehen so viele traurige und einsame Menschen, die nicht an sich glauben. Wenn sie ihre Geschichte erzählen, werden sie als das gesehen, was sie sind und erkennen, welches Geschenk ihre © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 10 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 einzigartige Biographie für andere ist. Und wenn wir einander zuhören, erkennen wir auch, dass wir nicht allein sind. Sprecher: Fast alle Geschichte erzählen vom Wandel, der Mythenforscher Joseph Campell sprach sogar vom ‚Mythos‘ der Transformation: Der Held oder die Heldin muss aufbrechen, eine Weile im Schwellenland des Wandels leben und kann dann einziehen ins Neue Leben. Wenn keine Geschichten vom Wandel mehr erzählt werden, fehlen die Vorbilder für Veränderungsprozesse. Dann bleiben Menschen bei ihrem einmal angenommenen Lebensablauf und sind unfähig zum Aufbruch. Sprecherin: Identität ist die Geschichte, die wir uns selbst über uns erzählen. Sie ist der Orientierungsrahmen, mit dem wir festlegen, wer wir sind, was wir können, wofür wir leben, woran wir glauben. „Damit das Leben einen Sinn hat, muss die Geschichte aber aufgehen“, meint die Schweizer Psychologin und Therapeutin Ega Friedmann. O-Ton Friedmann: Wenn unsere Geschichte nicht mehr aufgeht, verlieren wir den Sinn. Darum ist es so schwierig, seine Geschichte zu verändern. Also die Geschichten bewegen sich nicht mehr, wenn wir voller Ressentiments sind gegen das, was in der Vergangenheit passiert ist, alle diese negativen Gefühle halten uns in der Geschichte fest und wir können sie nicht mehr erweitern. Sprecher: Was früher vielleicht von geschichtenerzählenden Heilern begleitet wurde, ist heute die Aufgabe von Therapeuten. Sie helfen, wenn alte Lebensvorstellungen zusammenbrechen, aber neue noch nicht erkennbar sind. Sie hören sich die Geschichten der Menschen an, kratzen an den Wurzeln der überholten Selbstbilder, spüren Widersprüche und prägende Traumata auf. Im besten Falle zerbricht dann die alte Rüstung, die nicht mehr passt und eine © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 11 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 neue Identität, eine neue Geschichte mit neuem Sinn bekommt Raum. Dann wachsen die Menschen. Und das Gefühl von Sinnlosigkeit und Sterben wandelt sich in die Erfahrung von Neugeburt. Tausende von alten Geschichten thematisieren dieses Grundmuster von Tod und Wiedergeburt. Sprecherin: Der alte Archetyp wirkt weiter. Was kulturell aber neu ist, ist das Wissen um die Macht der eigenen Geschichte und die unbegrenzte Möglichkeit, sie zu verändern. Dazu braucht es ein Wissen um die eigene Geschichte. Der Philosoph Tom Amarque nennt das ein ‚narratives Bewusstsein‘. O-Ton Amarque: Ich glaube der erste Schritt ist, sich bewusst zu machen, dass wir, egal wann wir den Mund aufmachen, wir immer nur Geschichten erzählen. Wir erzählen Geschichten darüber, was wir gestern gemacht haben, was wir morgen machen werden, wie wir die Welt deuten Um die Welt überhaupt in irgendeiner Form verändern zu können, muss man zu einem gewissen Grad auch seine Narrative verändern, oder zumindest erweitern, hinterfragen und für sich neu prüfen. Klimawandel, Kapitalismus, Ökonomie, Beziehung, dass wir da auch eine andere Perspektive auf die Ereignisse der Welt einnehmen müssen, um uns adäquater und moralischer verhalten zu können. Sprecherin: Die Welt ist, wie sie ist, weil wir sie so gestalten. Wenn unsere Geschichte sich wandelt, dann strukturieren wir unsere Wahrnehmung um, verändern unsere Handlungen und wandeln die Welt. Das kennt jeder, der sich einmal verliebt hat: Die Welt beginnt zu leuchten, alles fließt zusammen. Können wir also mit neuen Geschichten über die Welt die Wirklichkeit verändern? Sprecher: Vielleicht sind wir wie die ersten Menschen, die vor 250.000 Jahren um das Feuer saßen und mit Geschichten die bedrohliche Dunkelheit des Nichts ausfüllten. Die Metaphern suchten um die Schöpfung zu besingen, Mythen © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 12 Heilige Geschichten - Die Wiederentdeckung der Tradition des Geschichtenerzählens Von Geseko von Lüpke Lebenszeichen 14.06.2015 erfanden, die die Welt erklärten. Immer wieder erzählt, bis es irgendwann aufgeschrieben wurde. Gelesen wurde, aber nicht mehr gehört, gefühlt und erlebt. Und die Geschichten ihre Macht verloren. Sprecherin: Das Story-Telling wird wiederentdeckt. In den alten Kulturen, in der narrativen Psychologie, in den Kirchen. Vielleicht braucht der moderne Mensch auch alte Geschichten in einer Zeit, in der er das Maß verloren hat und glaubt, gottgleich jede Wirklichkeit erschaffen oder beherrschen zu können. Menschen brauchen zeitlose Geschichten, die sie mit dem Netz des Lebens verbinden. Die Orientierung zumindest, sagt Dirk Schliephake, der Pfarrer und Bibelerzähler, wird gesucht. O-Ton Schliephake: Meine Erfahrung ist bei Bibelerzählnächten, dass da plötzlich Kirchendistanzierte kommen, die sich kaum über die Schwelle trauen, junge Paare, das die sagen: „Boah, so habe ich Bibel noch nie gehört!" Das ist Brot für die Seele © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 13
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