Lebenszeichen

Späte Chancen – Alt werden kann neue
Freiheit bringen
Von Gisela Keuerleber
Lebenszeichen
01.05.2016
O-Ton Beate Weber:
Wenn auf einmal Leere da ist, wenn der Partner weg ist, dann zeigt sich auch, ob
man selbständig gewesen ist, oder man sich nur auf seinen Partner verlassen hat.
Wenn man da nicht raus kommt, dann kommt man auch im Alter nicht klar.
O-Ton Jutta Wilke:
Farbe muss sein, auch mal irgendwas Gewagtes, aber auch nicht mehr im
Miniröckchen, man darf da so eine gewisse Grenze nicht überschreiten, dass man
von hinten aussieht wie 14 und von vorne wie 66.
O-Ton Uwe Adler:
Das wichtigste in dieser Phase ist, loslassen können. Darüber nachdenken, was ich
mit dieser neu gewonnenen Freiheit anfangen kann. Mal sich selbst an den Haaren
ziehen, selbst initiativ werden, nach draußen zu gehen, was gibt es.
Erzählerin:
Älter werden sei nichts für Feiglinge, sagte einmal die amerikanische Schauspielerin Bette
Davies, inzwischen ist ihr Satz ein geflügeltes Wort unter Spaßvögeln, Buchautoren und
Werbetextern. Dass Älterwerden ein Gewinn sein kann – so wie es in alten archaischen
Kulturen als selbstverständlich galt – das scheint längst in Vergessenheit geraten. Das Bild
vom alten Weisen passt allerdings auch kaum zu den heutigen 60 und 70 Jährigen, die viel
unterwegs sind, Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen und sich häufig ehrenamtlich
engagieren. Doch die Zahl derjenigen, die sich mit den zunehmenden Jahren bewusst und
mit Gewinn auseinander setzen, nimmt zu.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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Späte Chance – Alt werden kann neue Freiheit bringen
Von Gisela Keuerleber
Lebenszeichen
01.05.2016
O-Ton Margret Hilleringsmann:
Ja ich möchte Sie bitten ein Elfchen zu schreiben... drei Worte, das letzte Wort ist
dann die Quintessenz oder das Fazit… und das ganze so wie wir besprochen haben
zum Thema Übergange, Älterwerden - viel Spaß dabei.
Erzählerin:
Kann man älter werden lernen? Zwölf ältere Frauen sitzen in einem Seminarraum über
Notizzetteln und machen sich darüber Gedanken. Was hält diese Lebensphase bereit?
Welches Bild existiert heute über das Alter? Und welche Erwartungen, Hoffnungen oder
Ängste tauchen in diesem Lebensabschnitt auf?
Zitator:
Niemand wird alt, weil er eine Anzahl Jahre, hinter sich gebracht hat. Man wird nur alt,
wenn man seinen Idealen Lebewohl sagt. Mit den Jahren runzelt die Haut, mit dem
Verzicht auf Begeisterung aber runzelt die Seele.
Erzählerin:
Mit einem Gedicht, wie diesem von Albert Schweitzer, gibt die Leiterin des Seminars,
Margret Hilleringmann, Impulse zum Nachdenken. Schon der Titel der Veranstaltung „Der
weise Leichtsinn – vertrauensvoll alt werden“ sagt, dass es darum geht, älter werden als
‚Entwicklung mit Potential’ zu verstehen und nicht – wie in früheren Jahrzehnten - als
Abfolge von Krankheiten, Verlusten und abnehmenden Fähigkeiten.
In einem Raum der Tagungsstätte Soest der Evang. Frauenhilfe in Westfalen, haben sich
Lehrerinnen, Sekretärinnen, Hausfrauen und Geschäftsfrauen im Kreis versammelt und
sprechen über ihre Erwartungen. In der Mitte des Stuhlkreises brennt eine Kerze in einer
großen Schale, die mit Zweigen und einem schimmernden Tuch geschmückt ist. Etliche
Frauen sind von der Vorstellung angetan, mit zunehmendem Alter zu einer Art ‚weisen
Leichtsinns’ zu gelangen:
O-Ton Frau 2:
Genau der hat mich angesprochen, dieser Widerspruch, weise und gleichzeitig
leichtsinnig sein. Das Leichtsinnige, das ist es, was ich mir wünsche. Weil mir das
Spaß macht, weil mir das ne Leichtigkeit macht.
Von dem braven Mädchen, möchte ich einiges ablegen, aber auch einiges bewahren.
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Späte Chance – Alt werden kann neue Freiheit bringen
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01.05.2016
O-Ton Frau 1:
Das Wort Leichtsinn wird im Alltag ja immer negativ besetzt, ich denke nicht nach
über die Konsequenzen. Und hier entwickelte sich für mich so ein Verständnis von
Leichtigkeit oder die Leichtigkeit macht einen Sinn für mein Leben.
Erzählerin:
Wo stehe ich in meinem Leben, was gilt es loszulassen, was bewahre ich? Diese Fragen
führen die Frauen zu langen und tiefen Gesprächen. Es kommen Verletzungen zur Sprache,
Schuldgefühle, Ballast aus der Vergangenheit, manche trauern um Verpasstes, erzählen von
unerfüllten Sehnsüchten. Und doch liegt im Raum so etwas wie eine Erwartung: Es ist noch
nicht zu spät, es gibt noch Chancen, Neues zu wagen. So sieht es auch die Forschung: Im
so genannten Dritten Lebensalter – also in der Lebensphase von 60-80 – verfügen die
Menschen über ein hohes Maß an Intelligenz, das es ihnen ermöglicht, sich neue Themen
und Tätigkeiten zu erschließen: Paul Baltes einer der führenden Gerontologen schrieb
einmal:
Zitator (Zitat von Paul Baltes):
„Dass auch der alternde Kopf noch über ein beträchtliches Potenzial verfügt, belegen
Studien des Berliner Max-Planck-Instituts. Insbesondere ist es die so genannte
„kristalline“ Pragmatik, die kulturgebundenes Wissen und Denken widerspiegelt und
auf Übung beruht: Zu ihr zählen Sprachvermögen, Fachwissen und soziale
Kompetenz – Fähigkeiten, die bis ins hohe Alter erhalten bleiben können, sofern sie
ausgeübt und nicht durch Krankheiten beeinträchtigt werden.“
Erzählerin:
Nicht nur die Forschung, sondern auch eine Armada an Ratgeber-Literatur und
Orientierungshilfen beschäftigt sich mit dem Älter werden. „Männer altern, Frauen verändern
sich“ – ein Satz den der alte Frauenversteher und –verehrer Goethe gesagt haben soll. Fest
steht, beide Geschlechter müssen sich spätestens ab der Lebensmitte mit Veränderungen
und Lebensübergängen auseinandersetzen. Die Statistik zeigt, dass Männer und Frauen in
Deutschland seit den 50er Jahren ein ganzes Lebensjahrzehnt länger leben und zwar bei
relativ guter Gesundheit. Diese geschenkten Jahre gilt es zu gestalten – eine Phase, die
voller Veränderungen sein kann, vielleicht auch schwierig, oft überraschend und schön. Also
erstmal den Kiefer locker machen, offen werden für alles Mögliche, für Neues vor allem.
Denn in einem Lebensabschnitt, der früher Alter genannt wurde - heute sagt man Drittes
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Späte Chance – Alt werden kann neue Freiheit bringen
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01.05.2016
Lebensalter– ist durchaus noch mit Überraschungen zu rechnen. Margret Hilleringmann, die
Leiterin des Seminars „Weiser Leichtsinn-Vertrauensvoll alt werden“, dass die Evangelische
Frauenhilfe in Soest veranstaltet, nimmt die Teilnehmerinnen auf eine Phantasiereise mit:
Mit Körperübungen, Phantasiereisen, Gedankenspielen und Meditation sollen kreative Kräfte
wach gerufen werden. Immer wieder gibt es Reflexionsphasen, die ermöglichen sollen,
Zugang zu sich selbst zu finden und vor allem Zugang zu den eigenen Ressourcen.
O-Ton Frau 2:
Was natürlich mit Frauen auch schön ist, weil die sich sehr öffnen, man kriegt sehr
viele Inputs, über die man nachdenken kann. Über mich nachzudenken, zu mir einen
Bezug zu bekommen, was wir dann in der Mediation sehr intensiv konnten.
Erzählerin:
Älter werden ist ein stetiger Entwicklungsprozess: Mit 30 Jahren lassen wir die Jugendjahre
hinter uns, entwickeln mit 40 dann volle Power und vielleicht bald schon eine frühe MidlifeKrise, die 50 Jährigen sind zwar auf der Spitze ihres Könnens, erleben aber auch erste
körperliche Verwundungen. So beschreibt es die amerikanische Journalistin Gail Sheehy,
die in den 70er Jahren den Begriff der midlife-crisis populär machte. Jede Entwicklung
verläuft unterschiedlich. Mal gibt es harte Brüche, dann wieder sanfte Übergänge. Jutta
Wilke kennt beides.
O-Ton Jutta Wilke:
Als mein Mann gestorben ist, war ich ja 46, also relativ jung. Jetzt bin ich 66, habe
aber eigentlich schon mit 59 aufgehört regelmäßig zu arbeiten. Und dann hab ich
gedacht, nur mit dir selber kannst du dich ja auch nicht nur beschäftigen, der Sohn
war ja aus dem Haus, da musste ich mich ja schon lange nicht mehr kümmern, ist ja
auch nicht mehr gewünscht, dann hab ich immer gedacht, ja was kann ich machen,
Erzählerin:
Übergänge meistern – eine der großen Lebensaufgaben. Nicht nur im Alter. Hilfreich sind bei
der Bewältigung die Familie und Freunde, Gespräche, Zuwendung und Vertrauen. Vor allem
Vertrauen auf sich selbst und die eigene Kraft. Und doch sind solche Übergänge sehr
anstrengend, erklärt die Gestalttherapeutin Margret Hilleringmann.
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01.05.2016
O-Ton Margret Hilleringmann:
Übergänge sind in der Regel begleitet von widersprüchlichen Gefühlen, da ist alles
dabei, von Traurigkeit, Enttäuschung, Einsamkeit, Ängstlichkeit, aber auch
hoffnungsfroh. Wir haben ganz viele Übergänge in unserem Leben, und was in
unserer westlichen Kultur fehlt, das sind Übergangsriten. Bei Frauen gibt es z.B. die
Zeit, nicht mehr fruchtbar zu sein, das ist ein Übergang, oder ich bin verheiratet und
es kommt die Scheidung, ich bin dann Single - auch das ist ein Übergang oder ich
bin gesund und werde plötzlich krank. Auch das ist ein Übergang.
O-Ton Uwe Adler:
Als ich erfahren habe, dass ich auf der Liste mit den 51er Jahrgängen stehe, morgens
um 9, ein Dienstag, da waren bei mir alle Emotionen vorhanden, dass ich den ganzen
Tag neben mir gestanden habe, dann hab ich gesagt, ich weiß es.
Erzählerin:
Uwe Adler erinnert sich an den Tag, als er sich vor acht Jahren entschied, seine
Arbeitsstelle zu kündigen. Seinem Jahrgang war eine großzügige Abfindung angeboten
worden und er verabschiedete sich von vielen Berufsjahren als Logistikmanager, Jahre die
angefüllt waren mit Verantwortung und Höchstleistungen, guter Teamarbeit aber auch viel
Eigenverantwortung für wichtige Projekte. Als seine Firma von einem neuen Eigentümer
übernommen und von Köln nach Wuppertal verlegt worden war wählte er den Ausstieg.
Beim Übergang in den plötzlichen Ruhestand hat sich der damals 58 Jährige auf seine Liebe
zum Handwerk besonnen.
O-Ton Uwe Adler:
Ich habe immer schon gerne mit den Händen gearbeitet, als Ausgleich zur
Kopftätigkeit, brauchte ich immer meinen Part, dass ich die Wohnung ausgebaut, oder
renoviert habe und Möbel gebaut habe und dann habe ich mir überlegt, das möchte
ich gerne richtig machen.
Erzählerin:
Zunächst hatte er die Idee, als reifer Lehrling bei einem Schreinermeister eine Ausbildung zu
machen. Doch kaum hatte er den Ausbildungsplatz, erlitt der Meister einen Herzinfarkt und
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01.05.2016
schloss seinen Betrieb. Stattdessen belegte Uwe Adler Kurse in Holzbearbeitung. Stolz zeigt
er seine Werkstatt, wo jede Menge ausgefallene Hölzer stehen, einige angefangene
Werkstücke, Sägen und Hobel, die er selbst angefertigt hat. Es habe fast etwas Meditatives,
wenn er voller Konzentration das Holz bearbeite, sagt er und schwärmt davon, wenn der
Hobel anfängt zu singen, vorausgesetzt das Hobelmesser ist scharf genug.
O-Ton Uwe Adler:
Wenn man abends in der Werkstatt das Licht ausmacht, dann weiß man, da ist was
Neues entstanden, was einen selbst in die Lage versetzt die eigenen Formen zu
realisieren, was Schöneres gibt es nicht. Sich zu überlegen, mit ner Skizze in die
Werkstatt zu gehen, das umzusetzen. Im ersten Augenblick würde ich sagen, klar, ist
es ein Riesenglück, in diesem Alter in dieser Lebensphase als Alternative zum Beruf
zu erleben. Es ist noch was anderes, es ist Zufriedenheit.
Erzählerin:
‚Dürfen und nicht müssen, darauf kommt es jetzt an’, schreibt die Psychoanalytikerin Verena
Kast in ihrem Buch „Altern – immer für eine Überraschung gut.“ Sich selbst Ziele setzen,
Projekte beginnen – und dafür dann doch hin und wieder ein wenig müssen, um das
Begonnene zu Ende zu bringen, das ist erfüllend.
Ebenfalls einen raschen Übergang vom Berufsleben in den Ruhestand hat der ehemalige
Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD, Nikolaus Schneider erlebt.
Als seine Frau Anne vor 2 Jahren an Krebs erkrankte, legte er sein Amt nieder, um an der
Seite seiner Frau zu sein. Die Aufgabe des Amtes, war für ihn nicht ganz einfach.
O-Ton Nikolaus Schneider:
Es fängt mit Äußerlichkeiten an, Sie habenkein Büro mehr, keine Sekretärin, die
wunderbaren Referenten, die vieles organisieren und Ihnen zuarbeiten, kein
Dienstwagen mehr, kein Fahrer, alles selber machen, selbst Parkplatz suchen, also
das ist schon eine deutliche Einbuße an Lebensqualität , manchmal juckt‘s mich auch,
etwas zum Weg meiner Kirche zu sagen, ich kann meinen Senf nicht mehr zu allem
geben. Früher kam ja zu allem Anfragen von den Medien, ja, schade, da hätte ich
gerne was dazu gesagt.
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Späte Chance – Alt werden kann neue Freiheit bringen
Von Gisela Keuerleber
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01.05.2016
Erzählerin:
Loslassen können – eine wichtige Aufgabenstellung im Alter. Die Gerontologie-Forschung
spricht von ‚Anpassungsleistungen’: Die Ziele werden mit zunehmendem Alter zwar weniger,
aber sie fehlen nicht. Wer sich jedoch krampfhaft bemüht, immer der Alte oder die Alte zu
bleiben, verpasst die neuen Möglichkeiten. Heute genießt Nikolaus Schneider mit seiner
Frau den Ruhestand und plant eine lange Reise durch Italien, engagiert sich in Gremien für
den jüdisch-christlichen Dialog und den Friedensprozess – und er genießt es, viel Zeit für die
Familie und die Enkel zu haben. Neu und einmalig für die heutigen Senioren ist die Freiheit
und Offenheit, mit der unterschiedliche Lebensentwürfe gestaltet werden können. Bilder vom
Alter und von dem „was sich gehört“ haben an Wirksamkeit verloren. Zu viele ‚bunte’
Vorbilder zeigen, dass Älter werden voller Überraschungen sein kann.
O-Ton Jutta Wilke:
Früher hab ich gedacht, wenn ich alt bin, will ich mit meinem Mann auf den Segelboot
sitzen und Monate übers Meer segeln, aber das hat sich leider nicht realisieren
lassen, durch den Tod meines Mannes. Jetzt weiß ich, dass ich nicht alleine rum
schmottern will zuhause. Und deshalb fände ich es wunderbar, wenn ich in einem
Haus wohnen würde, mit Freunden, Bekannten , wo die Wege kurz sind, aber bitte
jeder in getrennten Wohnungen, wo man mal vorbei gehen kann und sagen, ach ich
hab zu viel gekocht, willst du mitessen oder mal Karten spielen kann. Das fänd ich
wunderbar.
Erzählerin:
Träumen, Pläne schmieden – dazu - so die 66 jährige Jutta Wilke – sei man nie zu alt. Ihr
Traum vom gemeinschaftlichen Wohnen auf einem alten Fabrikgelände, begleitet von einem
Architekten, scheiterte an der Baubehörde. Seitdem stagniert das Vorhaben, aber aufgeben
will die Gruppe nicht. Seit vielen Jahren ist Jutta Wilke verwitwet und lebt alleine. Als sie mit
Ende 50 in den Ruhestand ging, suchte sie sich ein Ehrenamt in einer
Trauerbegleitungsgruppe. Ältere Menschen können und müssen sich nicht mehr über ihre
beruflichen Leistungen und Erfolge definieren, aber sie können Erfahrungswissen
weitergeben. Mehr als die Hälfte aller 55 – 70 Jährigen nutzt Bildungsangebote oder
engagiert sich ehrenamtlich. Jutta Wilke ist nicht nur in der Trauerbegleitung aktiv, einmal in
der Woche hilft sie in einem Flüchtlingsheim Essen auszuteilen und sie kümmert sich um
zwei betagte Damen in ihrem Bekanntenkreis.
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01.05.2016
O-Ton Jutta Wilke:
Ja, dass ich z.B. sage, so wir machen heute mal einen Ausflug, oder wir gehen zus.
ins Museum, oder ich lade die dann mal zum Mittagessen ein, was die sich sonst viell.
nicht leisten könnten. Und da bekommt man ganz viel zurück, grade von den älteren
Leuten, die freuen sich total, und sagen dann immer, das war so ein schöner Tag,
habe ich schon lange nicht mehr gehabt. und das ist es einfach wert und da fühle ich
mich super nach. Ja weiß ich nicht, ob man das Helfersyndrom nennt, ja aber es
macht mir Freude, anderen Menschen helfen zu können// und es kommt zurück.
Erzählerin:
Wie viele ältere Menschen musste sich auch Beate Weber von ihren Plänen verabschieden,
den Ruhestand gemeinsam mit ihrem Partner zu verbringen. Als er starb musste sie ganz
plötzlich seine Firma übernehmen und sie dann abwickeln. Heute ist sie 78 Jahre alt. Trotz
ihrer Gehbehinderung engagiert sie sich in einem Seniorennetzwerk. Am Ball bleiben müsse
man – das rate sie allen Älteren, vor allem Frauen. In ihrem Alter seien fast die Hälfte der
Frauen verwitwet, erzählt sie, aber das dürfe keine Frau daran hindern, weiter am Leben
teilzunehmen. Dann erzählt sie aus ihrem eigenen Leben, wie schwer es für sie war, als sie
plötzlich Witwe wurde. Geholfen hat ihr die Tatsache, dass sie immer berufstätig war.
O-Ton Beate Weber:
Wenn auf einmal Leere da ist, wenn der Partner weg ist, es ist ne Leere da, aber
dann zeigt sich auch, ob man selbständig gewesen ist, oder man sich nur auf seinen
Partner verlassen hat. Grade in meiner Generation war es nicht selbstverständlich,
aber wenn eine Frau berufstätig ist dann ist sie selbständiger. und das ist leider noch
in meiner Generation, die Leute kommen überhaupt nicht klar. Und die ziehen sich
dann auch sehr zurück, auch diese Ängstlichkeit. Gut der ältere Mensch soll vorsichtig
sein, aber nicht ängstlich!
Erzählerin:
Lila Mantel, lila Mütze, am Gehstock eine Fahrradleuchte, damit sie auf der Straße besser
gesehen wird – so bewegt sich Beate Weber hinkend durch den Straßenverkehr. Sie benutzt
U-Bahn und Bus – was manchmal mühsam sei – aber man müsse ja am Ball bleiben, sagt
sie. Ihre Tage sind ausgefüllt, denn sie liebt es, mit Freunden ins Konzert und Theater zu
gehen und außerdem ist da noch ihre späte Berufstätigkeit. Weil sie als Buchhalterin immer
mit EDV-Systemen gearbeitet hat, interessierte sie sich auch später für neue
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01.05.2016
Datenverarbeitungsprogramme. Seit Jahren ist sie in der kleinen Firma ihres Enkels für die
Buchführung zuständig.
O-Ton Beate Weber:
Wir sind ein Familienbetrieb, haben grade neues Programm eingeführt, Der Server
steht in der Werkstatt – wir sind alle angeschlossen, ich hab erst gesagt mit dem
neuen Programm mach ich nichts mehr, aber ich kann‘s auch mit dem neuen
Programm.
Erzählerin:
Besonders eindrucksvoll ist die Offenheit und Neugier, mit der die 78 Jährige ihrer
Umgebung begegnet. Wie alle Mütter und Großmütter hat sie gerne ihre Familie an den
Feiertagen um sich versammelt, insbesondere an Weihnachten. Als das einmal nicht
klappte, hat sie improvisiert.
O-Ton Beate Weber:
Weihnachten vor ein paar Jahren, als es so schrecklich geschneit hatte, meine
Familie wohnt ja nicht hier – außer meinem Enkel- und ich saß hier an meiner
Festtafel, da kam der erste Anruf, Mutti wir kommen nicht aus dem Tal raus. Der
zweite Anruf kam, dass meine Schwiegertochter nicht kommen kann, da saß ich hier
mit meinem Essen, da hab ich meinen Enkel angerufen, ob er nicht ein paar Freunde
hätte und die sind gekommen. Und ich hab hier mit jungen Leuten Weihnachten
gefeiert, die ich eigentlich nur dem Namen nach kannte. Aber wenn die Familie mal
nicht kann, kann man sich auch andre Gäste einladen.
Erzählerin:
Flexibel sein und improvisieren, manchen Älteren fällt das schwer. Zu sehr hängen sie an
Gewohnheiten und Sätzen wie „das haben wir immer so gemacht“. Dabei ist das Gegenteil
im Alter ratsam: Gewohntes einmal anders zu machen, sich zum Beispiel an einen anderen
Tisch beim wöchentlichen Schachspiel-Treff zu setzen, einen häuslichen Rollenwechsel
auszuprobieren - dazu raten Neurologen und Therapeuten. Denn gewohnte Muster zu
durchbrechen, hält lebendig, trainiert Geist und Seele. So wird von dem berühmten Pianisten
Arthur Rubinstein erzählt, dass er im Alter sein Repertoire an Stücken bewusst reduziert hat.
Diese Stücke übte er intensiv, so dass er sie auch im Alter virtuos spielen konnte. Da er
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01.05.2016
nicht mehr so schnell spielen konnte, änderte er auch seine Spieltechnik: Vor besonders
schwierigen Stellen spielte er bewusst langsam – so wirkten die problematischen Passagen
dann wieder deutlich schneller. Die Frauen, die sich in Soest zu der Tagung „Vertrauensvoll
älter werden“ zusammen gekommen sind, lernen einen Katalog an Regeln kennen, die beim
älter werden hilfreich sein können.
O-Ton Margret Hilleringmann:
Welche Tugenden brauche ich zum älter werden? Es geht in erster Linie darum ein
sowohl als auch zu entwickeln, Selbstliebe und Nächstenliebe gehören zusammen,
Frauen, die für andere Sorge tragen - die Welt braucht solche Frauen, aber bitte, die
Selbstfürsorge nicht vergessen. Und das ist unsere Aufgabe, unsere eigenen
Krafttankstellen gut pflegen.
Erzählerin:
Eine Krafttankstelle kann auch die eigene Biografie sein. Die Erinnerung an gute
Erfahrungen während unseres Lebens gilt es wachzurufen. Sich daran zu erinnern, wer und
was uns geholfen hat Krisen zu meistern oder Erfolge zu erreichen, all das hilft, auf sein
eigenes Leben dankbar und versöhnt zu blicken. Die Erforschung der eigenen Biografie wird
in der Psychotherapie eingesetzt, um Lebensfreude und Lebenssinn zu finden. Auch viele
Ältere können davon profitieren, wenn sie anstatt zu fragen „soll das alles gewesen sein?
eher auf Bestandenes, Gelungenes und Geglücktes im Leben blicken. Auch Magret
Hilleringmann rät den Frauen ihres Seminars, sich an die Ressourcen der eigenen
Biographie zu halten.
O-Ton Margret Hilleringmann:
Was mir meine Vorbilder über das älter werden beigebracht haben, vergiss nie,
welches Kind du warst, und vergiss nie das Kind in dir. In meinem Fall, das Kind, das
über Bäche hüpft und vergiss nie diese Lebendigkeit in dir. Und Luise Reddemann ist
die Entwicklerin der positiven Psychologie hier in Dtl. Ich meine sie ist es gewesen,
die den Begriff des Anfängergeistes entwickelt hat. Das ist zugleich kindliches und
sehr weises, die ewig gleichen Situationen des Alltags immer wieder mit neuen
unverbrauchten Augen angucken, das hält uns lebendig, und hält unseren Geist wach
und macht unseren Sinn weit.
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01.05.2016
Erzählerin:
Den Anfängergeist wach halten – schon wieder eine Zauberformel, die beim Älterwerden
helfen soll. Man könnte es auch so formulieren: Neugierig und aufmerksam bleiben. Der 69
jährige Nikolaus Schneider empfiehlt seinen Altersgenossen:
O-Ton Nikolaus Schneider:
Ich denke, dass jeder seinen Weg finden muss, da gibt es keine Schablone, aber
mein Rat wäre, zieht euch nicht zurück, bleibt mitten im Leben. Wenn ich Kinder,
Enkelkinder habt, kümmert euch, die brauchen euch und ihr auch sie. Wenn ihr in
Vereinen seid, oder in Kirchengemeinden, oder sonst wo in öffentlicher
Verantwortung, bleibt den Themen treu, denkt weiter mit und beteiligt euch im
Gespräch und nutzt die freie Zeit ,um etwas für Geist und Körper zu tun.
Erzählerin:
So wie Uwe Adler, der nach seinem Berufsausstieg anfing, Holz zu bearbeiten, im Möbelbau
so gut wie perfekt ist und seit einiger Zeit versucht, Gitarren zu bauen. Und doch spürt der
groß gewachsene Mann, der meist voller Ideen und Energie steckt, ab und zu sein Alter.
O-Ton Uwe Adler:
Also wenn ich in der Hocke gewesen bin, und richte mich wieder auf, da merke ich
schon mein Alter und denke, früher ging das anders. Dafür habe ich aber was andres
gewonnen, das ist eine gewisse Gelassenheit und Abgeklärtheit. Mir macht man
heute nichtmehr ein x für ein u vor. Und von der Seite aus ist das in Relation gesetzt,
etwas, wo ich sage, wir sinn nimmer neu, aber es ist nicht die Phase, wo es
letztendlich aufhört. Wie et kütt, kütt et.
Erzählerin:
Gelassenheit, eine Fähigkeit, die mit zunehmenden Jahren große Bedeutung gewinnt, denn
es gibt einen Zusammenhang von Gesundheit und Gelassenheit. Er beruht auf dem
Vertrauen, mit den Anforderungen im Leben zurecht zu kommen. Gläubige Menschen
schöpfen aus ihrem Gottvertrauen und können so oft gelassener mit Ängsten und Verlusten
leben. Sich in der eigenen Lebenszeit zurechtzufinden, das ist es was beim Älterwerden
Gelassenheit gibt. Benjamin Franklin, Erfinder, Buchdrucker und Verleger, später einer der
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Gründer der Vereinigten Staaten hatte Gelassenheit und ein christliches Gottvertrauen im
Alter erlangt. Das zeigt seine Grabinschrift - von ihm selbst verfasst:
Zitator (Zitat von Benjamin Franklin):
„Hier liegt der Leib Benjamin Franklins, eines Buchdruckers, gleich dem Deckel eines
alten Buches, aus welchem der Inhalt herausgenommen und der seiner Inschrift und
Vergoldung beraubt ist. Eine Speise für die Würmer. Doch wird das Werk selbst nicht
verloren sein, sondern, wie er glaubt, dereinst wieder erscheinen.
Literaturhinweise:
Wolfgang Schmidbauer: Altern ohne Angst (Rowohlt)
Verena Kast: Altern - immer für eine Überraschung gut. (Patmos)
Hrsg. Susanne Breit-Kessler
Kerstin Lammer und Georg Ratz: Lust und Last der späten Jahre. (VELKD Gütersloher
Verlagshaus)
Julia Onken: Im Garten der neuen Freiheiten. Reiseführer für die späten Jahre. (CH Beck)
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