20150107 Joseph Wechsberg Heimkehr - WDR 3

Mosaik / Passagen
Sendedatum: 07.01.2015
Joseph Wechsberg: „Heimkehr“
Rezensent: Dirk Hohnsträter
Redaktion: Terry Albrecht
Joseph Wechsberg: Heimkehr
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort herausgegeben von Christoph
Haacker
Arco Verlag, Wuppertal 2014
210 Seiten, 15 Euro
Internettext
Eine Wiederentdeckung:
Die
Wechsberg
Rückkehr
über
seine
Reportage
nach
des
exilierten
Mähren
zeigt
Erfolgsautors
einen
Joseph
Epikureer
im
untergegangenen Europa.
Anmoderation
Der heute beinahe vergessene Autor Joseph Wechsberg (1907-1983) führte ein
bewegtes Leben. Unterwegs zwischen Wien, Paris und Prag, berichtete der polyglotte
Reporter aus aller Welt. Als Schiffsgeiger reiste er auf Dampfern nach New York und in
den Orient. 1938 ging Wechsberg ins Exil, zunächst nach Kanada, dann nach New
York und Hollywood. Dort erfand er sich als amerikanischer Bestsellerautor neu. Im
Mai 1945 kehrte er schließlich als Geheimagent mit der US-Army nach Europa zurück
und lebte seit den 1950er Jahren vornehmlich in Wien – als Europakorrespondent des
"New Yorker". Wechsberg, der für die berühmtesten Blätter der Welt schrieb und über
vierzig Bücher veröffentlichte, war ein Mann mit breit gestreuten Interessen: Er schrieb
über Musik, Feinkost und berühmte Persönlichkeiten ebenso wie über die politische
Lage im Kalten Krieg. Jetzt ist endlich wieder ein Buch von ihm im Handel: die zuerst
1946 erschienene Reportage "Heimkehr". Sie beschreibt Wechsbergs Rückkehr nach
Europa und führt von Deutschland über Prag in Wechsbergs Geburtsstadt Mährisch
Ostrau.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2015
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne
Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt,
noch verbreitet oder öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich
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Mosaik / Passagen
Sendedatum: 07.01.2015
Joseph Wechsberg: „Heimkehr“
Beitrag
Ich war der erste amerikanische Soldat in Mährisch Ostrau. Das heißt aber nichts, da
die Stadt von den Russen befreit worden war, und amerikanische Soldaten dort nichts
verloren hatten. Dennoch wollte ich dorthin, und ich kam auch dorthin. Aber es war
nicht so, wie ich es erhofft hatte.
Im Mai 1945 kehrt der Journalist Joseph Wechsberg nach Europa zurück, jenen
Kontinent, den er als Jude im Herbst 1938 verlassen musste. Wechsberg ist ein Mann
des guten Lebens: Er spielt Geige, schreibt über Wein und bereist die Welt mit
leidenschaftlicher Entdeckerfreude. Doch jetzt ist alles anders:
Ich machte mich auf nach Mährisch Ostrau, um die Eltern meiner Frau zu finden. (...) In
den letzten zwei Jahren hatten wir nichts mehr von ihnen gehört. Zwei Jahre, in denen
Europa langsam verblutete. (...) Ich fragte mich, ob ich meine Leute lebend vorfinden
würde.
Wechsberg reist durch eine Welt der Gerüchte, in der die Telephonleitungen gekappt
sind. Züge, die vor dem Krieg in weniger als sechs Stunden von Prag nach Ostrau
fuhren, brauchen nun bis zu fünfundzwanzig Stunden. Die Holzbänke der dritten
Klasse
sind
den
verwanzten
Polstern
der
ersten
vorzuziehen.
Doch
der
Weltenbummler und Feinschmecker bleibt auch unter widrigen Umständen seinem
Interesse am guten Leben treu:
Der Oberst füllte die Gläser, hob sein Glas und rief aus: 'Auf Präsident Truman! Auf
Marschall Stalin!'
Da war nichts zu machen. Ich leerte mein Glas in einem Zug. Falls Sie es noch nicht
wissen: Es gibt zwei Sorten von Wodka. Die eine ist das kommerzielle Zeug, das man
in den russischen Restaurants um die Zweiundzwanzigste Straße in New York
bekommt. Die andere Sorte wird von den Männern der Roten Armee konsumiert und
schmeckt wie eine Mischung aus Nitroglyzerin, Schwefelsäure und purem Feuer mit
einer Prise Radioaktivität.
Aus kleinen Szenen wie dieser komponiert Wechsberg ein anschauliches Bild des
Nachkriegseuropa. Wiener Würstel, guter Kaffee, amerikanische Zigaretten: für
Wechsberg zeigen Alltagsdinge, kulinarische zumal, den Zustand der Zeit an. Der
Friedensvertrag von Versailles, heißt es einmal, habe der Qualität der Butter an einem
Grenzort nichts anhaben können. Vor den Lesern entsteht auf diese Weise das Bild
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2015
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Mosaik / Passagen
Sendedatum: 07.01.2015
Joseph Wechsberg: „Heimkehr“
eines Europa, in dem ehemals parfümierte Herrschaften in schäbig gewordener
Garderobe auf heruntergekommenen Bahnhöfen frieren. Wechsbergs Schreibweise ist
lakonisch, oft geradezu telegrammartig, mit Sinn für Spannung. Vom Verleger
Christoph Haacker sorgfältig übersetzt und herausgegeben, ist dieses Buch voller
sprechender Episoden, die durch ihre bloße Beschreibung berühren. So auch, als der
Heimkehrer endlich sein Ziel erreicht:
Alles war jetzt vertraut, wenn auch auf verschwommene, unbestimmte Weise, als ob
die Umrisse der Dinge sich leicht verändert hätten. Ich fing an, mich an Einzelheiten zu
erinnern. Die dunklen Seitengassen, durch die ich mit meiner Freundin ging, die später
meine Frau wurde. Die Konditorei, in der wir unsere ersten Rendezvous hatten. (...) Als
der Konvoi an der Konditorei vorbei fuhr, warf ich einen flüchtigen Blick hinein. Die
Fenster waren zerschlagen. Es gab keine Winkel mehr, nur noch nackte Wände. An
der Rückwand war eine große rote Fahne befestigt.
Illustriert wird Wechsbergs Reise in eine zerstörte Vergangenheit durch Fotografien
aus dem Familienarchiv. Da sieht man das unerhört moderne Warenhaus Rix, erbaut
1928, zerbombt 1944. Es ist schwer erträglich, die Erinnerungen des Reporters an den
lebendigen, von Kommerz und Jazz beschwingten Heimatort zu lesen:
Mährisch Ostrau war eine schnellebige Stadt, in der das Geld schnell ausgegeben
wurde. Die Leute liebten es, einzukaufen und damit zu protzen. (...) Aus dem fernen,
exotischen, verwirrenden Kontinent namens Amerika war die Jazz-Ära
herübergeschwappt.
Von der Lebenslust und Weltlichkeit der Vorkriegsstadt ist
lediglich Wechsbergs
Bericht geblieben. Die Sensationen aus Ostrau, bemerkt er einmal, hätten "immer eine
Note von Flaubert" gehabt, doch jetzt gebe es "keine Schminke, keine Milch, keine
Vitamine und keine Zeit zum Sonnenbaden." An anderer Stelle trifft er den Schneider
seiner Familie, von dessen Klienten nur die Maße in seinem Kundenbuch übrig
geblieben sind.
Es ist der schmerzliche Kontrast zwischen der Unbeschwertheit eines genießerischen
Lebens, die Wechsberg den Menschen und sich selbst wünscht, und der bitteren
Wirklichkeit der Zerstörung, der dieses Buch kennzeichnet. Heute, umgeben von
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Mosaik / Passagen
Sendedatum: 07.01.2015
Joseph Wechsberg: „Heimkehr“
ebenso selbstverständlich wie sinnlos gewordenem Wohlstand, lohnt es sich, mit
diesem beinahe vergessenen Autor in die Vorgeschichte unserer Gegenwart zu reisen.
Willkommen zurück, Joseph Wechsberg!
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