Lebenszeichen vom 25.09.2016

Früher war ich jünger - Nachdenken über
mein linkes Knie
Von Monika Buschey
Lebenszeichen
25.09.2016
Sprecherin:
Spätestens dann, wenn du feststellst, dass Männer in Uniform dir vorkommen wie kleine Jungen,
sagt M., musst du einsehen, dass du alt bist. Nein, betont er, nicht alt wirst, wie du gern einer
Redewendung folgend von dir behauptest. Bist, muss es heißen. Dass du alt bist.
Versuche einfach mal, dich aus der Perspektive eines 17jährigen zu betrachten, sagt R. Siehst du.
Denke daran, wie du selbst die Welt gesehen hast, als du 17 warst: Es gab die Gleichaltrigen und die
wenig Älteren. Und es gab die anderen. Du hattest nichts gegen die. Es waren einfach
Erscheinungen jenseits deines Interesses. Und du hast nicht weiter differenziert zwischen 50jährigen
und 70jährigen. Der Unterschied war dir nicht wichtig, die eine Gruppe dir so gleichgültig wie die
andere. Autoritätspersonen machten phasenweise eine Ausnahme. Vielleicht warst du abhängig von
ihrem Urteil. Allein – die schillernden Flügel des Eros streiften sie nicht, für deine jungen Augen
waren sie beinahe unsichtbar. R. meinte noch, er sei ganz gut in Kontakt mit seinen Gefühlen der
jungen Jahre, und manchmal passiere es ihm, dass sich der gnadenlose Blick von damals auf sein
heutiges Ich richte. Ein schmerzlicher Moment.
Übrigens, was die Uniformen anbelangt: M. hat recht. Beim ersten Krankenhausaufenthalt meines
Lebens, ich war 59, erschienen mir die Ärzte in ihren gleichförmigen weißen oder grünen Kitteln so
jung, dass ich mich fragte, als zwei von ihnen auf mich zu kamen, ob die wohl schon Abitur hätten.
Einer stellte sich als der Stationsarzt vor.
Nachdem ich fünfzig geworden war, passierte etwas Merkwürdiges, ohne dass es mir auf Anhieb
gelungen wäre, einen Zusammenhang herzustellen zwischen meinem Alter und dem Umstand, dass
neuerdings und scheinbar von einem Tag auf den anderen Unterschriften und Anschreiben,
Gebrauchsanweisungen, Rezepte, Rechnungen, Bildzeilen und Klappentexte so seltsam klein
gedruckt waren. Unbegreiflich. Wollten diejenigen, die das formuliert hatten, verhindern, dass es
gelesen wurde? Warum, was war da los?
Als ich dann endlich spitz gekriegt habe, dass der Besuch beim Optiker nicht länger aufzuschieben
war, bin ich erschrocken. Was habe ich sonst noch alles nicht bemerkt? Welche Veränderungen
entgehen meiner Aufmerksamkeit? Sind sie vielleicht den anderen längst aufgefallen, bloß mir nicht?
Gehört das vielleicht auch schon zum Alterungsprozess, dass man sich einen milden,
entschuldigenden Blick auf die eigenen Unzulänglichkeiten leistet?
Brillen pflastern meinen Weg seither, finden sich auf Schritt und Tritt, eine in der Küche fest
verankert, am PC sowieso, am Bett eine, und wenn ich ausgehe, trage ich eine am Kettchen mit mir
und eine in der Tasche, gekuschelt zwischen Kamm und Lippenstift. Das leicht Verschrobene habe
ich mir als meine besondere Note ausgelegt. Und in diesem wie in anderen Zusammenhängen
festgestellt: Was in der Jugend als charmant gilt, als leicht verrückt vielleicht, als originell, verträumt
und sehr individuell: Im Alter wird es übel genommen. Spinnt die? Weiß die überhaupt noch, was sie
tut?
Noch bin ich lernfähig. Ein gewaltiges Vorurteil, jahrzehntelang gepflegt, konnte überwunden werden.
Dank der Hilfe von G. Sie, die wenig Ältere, ist mein Vorbild. Dass ich eines niemals, niemals
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
machen würde, war die Gewissheit schlechthin: In ein Fitness-Studio gehen, das wäre das Letzte.
Selbstverrat und Selbstverleugnung. Ein freiwilliges Sich-Ausliefern an Folterinstrumente.
Undenkbar.
Im Idealfall gehe ich zweimal pro Woche. Jeweils eine halbe Stunde. Die Foltermaschinen, diese
gigantischen Insekten, konnten als Scheinriesen entlarvt werden. Meine Lektüre während des
Trainings: die T-Shirts der Mit-Trainierenden. Wish your where beer, steht da oder auch: Die Besten
werden die Ersten sein. Ich genieße den Vorteil, bei meinen schweißtreibenden Übungen von den
Jüngeren quasi nicht bemerkt zu werden. Sie unterhalten sich ungeniert. Durch mich sehen sie
hindurch.
Sprecher:
U. ist entsetzt: Zum ersten Mal hat ihr ein Mann – höchstens halb so alt wie sie – in der U-Bahn
einen Platz angeboten. Wann ist man alt, fragt sich der niederländische Schriftsteller Cees
Nooteboom. Er fragte es sich in dem Moment,
Zitator:
...als ein attraktives Mädchen vor mir in der Straßenbahn aufstand. Ich verstand nicht, was sie wollte.
Und als ich es verstand, setzte ich mich, um ihr einen Gefallen zu tun. Aber glücklich war ich nicht.
Ich möchte noch immer selber für ältere Damen und schwangere Frauen aufstehen. Vor allem traf
mich die Tatsache, dass sie bereits festgestellt hatte, dass ich alt war, als mir das noch gar nicht in
den Sinn gekommen war. Sie sah außen etwas, das ich innen nicht spürte.
Sprecher:
Wann also ist man alt? Wenn es unter denen, die gestorben sind, mehr Bekannte gibt als unter den
Lebenden.
Sprecherin:
Und wann hat das alles angefangen? Ein Anhaltspunkt könnte sein, dass plötzlich – (dieses Plötzlich
spielt in der Selbstbeobachtung eine entscheidende Rolle: Da mag etwas für Dritte lange schon
deutlich gewesen sein, und plötzlich bemerkst du es selbst), dass also plötzlich etwas nicht mehr
geht, was lange selbstverständlich war. Der Kontrast – jahrzehntelang vorhanden und ohne
Dankbarkeit genutzt, dann verloren – ist ziemlich hart. Während es mühelos gelang, erschien es als
weiter nicht erwähnenswert, als normal und alltäglich: Das Treppenherunterlaufen ohne Hand am
Geländer zum Beispiel. Eine schnelle Folge von Schritten, im Takt des Herzschlags vielleicht, ein
hurtiger Rhythmus, eine Angelegenheit für Beine und Füße, der Blick durfte frei geradeaus sein Ziel
suchen.
Der Schlaf, die beste Zuflucht, die sich denken lässt, wird, fürchte ich, nie wieder werden, was er
war. Offenbar gehört er zu denen, die mich lange nicht so mögen, wie ich sie. Er gewährt meistens
nur kurze Gastspiele, oft bleibt er aus. Das ein oder andere wird zeitweise wieder besser – nichts
wird nochmal richtig gut.
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Sprecher:
William Shakespeare beschreibt in einer seiner Komödien – er selber wurde 52 Jahre alt – sieben
Lebensstufen. Bereits die vorletzte ist unangenehm. Nur noch Geiz und mürbes Fleisch und krumme
Knochen. Die letzte Phase knüpft wieder an die Kindheit an. Nur fällt das Liebliche und Niedliche
weg: Verlust der Selbständigkeit, keine Zähne mehr, kein Geschmack, kein Tastsinn, die Augen
trübe. Der Dichter zählt nicht weiter auf, was sonst noch alles fehlt, er belässt es bei einem gnädigen:
alles. Alles weg.
Zitator:
Niemand will wissen, was ihm im Alter bevorsteht. Wir sehen es zwar aus nächster Nähe täglich,
aber um uns selbst zu schonen, machen wir aus dem Alter ein Tabu: der Gezeichnete selber soll
verschweigen, wie widerlich das Alter ist. Dieses Tabu, nur scheinbar im Interesse des Alternden,
verhindert sein Eingeständnis vor sich selbst und verzögert den Freitod so lange, bis die Kraft auch
dazu fehlt.
Sprecher:
Ein sarkastisches Gedankenspiel leistet sich der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Er ist 1911
geboren und wurde achtzig Jahre alt. In seinen 50gern beschäftigte ihn die Idee einer sehr speziellen
Vereinsgründung, im zweiten Tagebuch berichtet er davon. Es geht um die Verjüngung der
Gesellschaft. Es geht darum, dass die Alten, die Gezeichneten, wie er sie nennt, überzeugt werden
sollen, aus freien Stücken auf weiteres Altern zu verzichten.
Auf weiteres Altern verzichten – kann man es schöner sagen?
Zitator:
Das Gebot, das Alter zu ehren, stammt aus Epochen, als hohes Alter eine Ausnahme darstellte. Wird
heute ein alter Mensch gepriesen, so immer durch Attest, dass er verhältnismäßig noch jung sei,
geradezu noch jugendlich. Unser Respekt beruht immer auf einem NOCH. (noch unermüdlich, noch
heute eine Erscheinung, durchaus noch beweglich in seinem Geist, und so weiter). Unser Respekt
gilt in Wahrheit nie dem Alter, sondern ausdrücklich dem Gegenteil: dass jemand trotz seiner Jahre
noch nicht senil sei.
Sprecherin:
Nur die sehr beherzten Kneipenbesitzer und Bediener wagen noch das in diesem Lokal übliche Du,
wenn sie dich sehen und zugleich gewahren, dass du einer anderen Generation angehörst als sie
selber. Nicht so schlimm. Schlimmer, wenn in Lokalen, in denen du frühe geduzt wurdest – falls es
davon überhaupt noch welche gibt – dir jetzt die förmliche Anrede entgegen kommt. Ausgenommen
natürlich die, die mit dir älter werden. A., mein Friseur aus Teheran, war immer ein Du. Was mich
mehr noch als sein fachliches Können an ihn bindet.
Yesterday, ein Titel der Beatles, Alleingang Paul McCartney, damals war er wohl in seinen 20gern.
Ich höre die Ansage im Radio und denke, ach, auch schon wieder vierzig Jahre her. Da sagen sie es:
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Entstanden vor 50 Jahren, seither tausendfach gecovert round the world. Es braucht kein langes
Nachrechnen um zu gewahren, dass ich damals schon gelebt habe. Yesterday war für mein Gefühl
einfach immer da. Wie ein Freund aus Sandkastenzeiten, keine Yesterday-freie Zeit in meinem
Leben.
I’m not half the man I used to bee – habe ich mich nicht immer vollkommen wiedererkannt in dieser
Zeile, mit fünfzehn nicht anders als heute? Wird nicht überhaupt vieles auf die Alterskarre geladen,
was früher schon ganz genau so war? Namen zum Beispiel sind mir doch auch damals manchmal
nicht eingefallen. Ohne dass ich darüber erschrocken wäre.
Sprecher:
Der Schriftsteller Martin Walser, beinahe 90 inzwischen, beschwert sich: Seit er alt sei und es noch
immer wage, Erotik und, ja, auch Sex zum Thema seiner Romane zu machen, müsse er sich sagen
lassen, er sei altersgeil. Als wäre es eine Unverschämtheit seinerseits, dieses Thema weiterhin zu
seinem zu machen. Früher ja, da war es angebracht, zu bewundern sogar. Jetzt dagegen: grotesk,
tragisch, pervers. Dabei gehe es doch um Sprache. Um eine Geschichte, deren Qualität vom Alter
des Autors nicht abhänge.
Sprecherin:
S. erzählt – er ist zehn Jahre jünger als ich und wird von mir als sehr jung empfunden, weil er
schlank und lebhaft ist und die Haare nicht verliert – er erzählt also, er sei im Wartezimmer seines
Zahnarztes kurz eingenickt. Geweckt hat ihn das helle Stimmchen einer Sechsjährigen:
Mami, warum schläft der Opi?
Verfolgt dich eine solche Episode länger als einen Tag, besteht Grund zu der Annahme, dass du dich
irgendwie ertappt fühlst, als würdest du deiner Umwelt den Jüngeren bloß vorspielen. Als wüssten
allerdings im Grunde alle, dass es eine Täuschung ist. Nur spricht es keiner aus, um dir die Illusion
zu erhalten, von deinen Mitmenschen für jünger gehalten zu werden als du bist.
Sprecher:
Warum nur schmeichelt es uns, für jünger gehalten zu werden?
Wie alt sind Sie? wird der Neue im Kollegenkreis gefragt.
Raten Sie, antwortet er mutig.
37! wird geschätzt.
41! Unverhohlener Triumph in seiner Stimme.
Sprecherin:
H. bemerkt mit leichter Ungeduld, dass wir, die Angehörigen eines geburtenstarken Jahrgangs, die
ersten 60jährigen der Geschichte seien, die sich um 90jährige Angehörige kümmern. H. empört sich:
So etwas gab es noch nie! Zugleich müssen wir feststellen, dass die vielen Unverwüstlichen um uns
herum, die gen 100 streben, Kinder haben, die weit empfindlicher sind. Krebs, Herzinfarkte, Unfälle,
Depressionen, Burnout.
Ich komme schon bald die Stufen nicht mehr hoch, sagt H. Noch kann sie sich nicht überwinden, den
Treppenlift zu benutzen, den ihr greiser Vater souverän in den Dienst genommen hat.
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Sprecher:
Sobald wir die törichten Redensarten, die sich dem Alter nähern, auf uns selbst beziehen müssen,
empfinden wir Unbehagen. Scham sogar:
Mit 70 ist das Leben noch ein Park, mit 80 ein Garten - mit 90 ein Blumentopf.
Den Endkampf um Berlin haben wir nicht mitmachen müssen, keine Bombennächte im Bunker
verbracht, die Folgen von Hunger, Vertreibung und äußerster Not kennen wir nur aus
Dokumentarfilmen. Unser Damals hat ein freundliches Gesicht. Weißt du noch die „Nathan“Inszenierung von Peymann in Bochum? Mit der Giraffe und dem langen Steg in den Zuschauerraum
hinein? Oder der Rücktritt von Willy Brandt? Erinnerst du dich, als wir in Griechenland auf dem
glitzernden Meer einen singenden Mann im Ruderboot gesehen haben, der aussah wie Odysseus?
Die Zeit der Entdeckungen, der atemberaubenden Begeisterung scheint vorbei. Vielleicht die
bitterste Erkenntnis. Einem Kafka, einem Kleist, einem Gottfried Benn werden wir nicht mehr mit
frischen Sinnen begegnen. Weiterhin begleiten sie uns, trösten oder regen uns auf. Aber wir lesen
und hören nicht mehr mit unbefangener Neugier, wir betreten kein Neuland mehr, das Neu kommt
uns ebenso abhanden wie das Jung. Wir warten nicht mehr auf Wunder. Wir wagen uns nur noch
auf vertrautes Terrain, kennen jede Wegbiegung und jeden Hügel.
Ins Theater gehen und nochmal „Romeo und Julia“ sehen, drei Stunden sitzen? Haben wir nicht
seinerzeit die tolle Inszenierung von… wie hieß die noch?
Wir glauben zu wissen, was gut ist und sind der festen Meinung, dass das Erlebte nicht mehr zu
übertreffen sein wird. Wir sind nur noch schwer zu überraschen. Und wenn wir staunen, dann über
Verluste.
Sprecherin:
Noch wissen wir, wie wir heißen und wo wir wohnen. Die Geheimzahl für unsere Karte haben wir
auch schon früher manchmal vergessen. Ein Restaurant muss noch nicht danach ausgewählt
werden, ob die Toiletten sich auf derselben Ebene befinden. Aber jetzt ist es mir zum ersten Mal
passiert, dass ich ins erstaunte Gesicht der Arzthelferin blickte, die mir, nachdem sie ihren Bildschirm
aufmerksam studiert hatte, eröffnete, dass ich mir für den Untersuchungstermin ein falsches Datum
gemerkt habe. Nicht der Dienstag in dieser, sondern in der nächsten Woche. Ach so.
Sprecher:
W., Anfang achtzig, sieht sich neben seinem Sohn und seinen erwachsenen Enkeln, die ihre Freizeit
im Fitnessstudio verbringen und nebenbei als Model jobben, er, der Großvater also, empfindet sich –
ein Foto offenbart es überdeutlich – im Vergleich als eine Art Schrumpf-Gnom. Er muss es wohl
glauben, dass der, der zwischen den Prachtkerlen steht, wirklich er ist. Aber der Gnom, den er da
sieht, hat mit der Vorstellung, die W. von sich selber hat, nichts zu tun.
Sprecherin:
Korrigiere ich noch irgendetwas an meinem Äußeren, wenn ich an einem Spiegel oder einer
spiegelnden Schaufensterscheibe vorbei gehe? Selten. Ich ertappe mich dabei, dass ich den
Selbstbegegnungen im Spiegel ausweiche. Hat es noch Wert, überhaupt um Äußerlichkeiten besorgt
zu sein?
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Haben wir nicht feste Grundsätze, jene, die sich bildeten in der Jugendmaienblüte, als es um das
ging, was wir Konsumverzicht nannten, und darum, Muttchens und Papis zu zeigen, dass die richtige
und also die linke Gesinnung ihre deutlichste Ausprägung in der Kleidung und der Haartracht findet.
Die Haare vor allem lang. Dazu auf jeden Fall enge Jeans. Beides galt für beide Geschlechter.
Zurück zu den Grundsätzen, hinter denen wir uns verschanzen können und die helfen sollen, unsere
tiefe Unsicherheit zu verbergen. Haare färben: nein. Fettabsaugen: niemals. Liften: Um Gottes
Willen. Doch wer garantiert mir, dass ich morgen noch meiner Meinung sein werde?
Sprecher:
Im Krankheitsfall mit ernstem Vorzeichen ist dann sowieso alles ganz schnell ganz anders. Denkt der
alte, der alternde Mensch öfter an den Tod, an den eigenen wohl gemerkt, als der junge? Womöglich
hat man zum Philosophieren, zum Mutmaßen und Abwägen in der Jugend einfach mehr Muße und
weniger Angst. Der Tod ist dann ein mehr oder minder abstrakter Gedanke. Die eigene Sterblichkeit
ein fernes, konturloses Irgendwann, dem unendlich viele wichtigere Dinge vorgeschaltet sind.
Alternd, wenn das Irgendwann nicht mehr so fern ist, sind es wieder die realen, die naheliegenden
Probleme, die dir zum Grübeln über den großen Unbekannten keine Zeit lassen: Sind drei Termine
an einem Tag so dicht hintereinander noch zu schaffen? Will ich einem Freund von damals wirklich
noch einmal begegnen, oder belassen wir es am besten bei der guten Erinnerung, die wir aneinander
haben?
Sprecherin:
P. berichtet, er habe morgen einen Termin beim Orthopäden, übermorgen beim Neurologen,
Krankengymnastik am Mittwoch, Zahnreinigung am Freitag. Inzwischen betrachte er sich als eine
wandelnde Baustelle für Handwerker und Restauratoren: Kaum sind die Sturmschäden am Dach
beseitigt, steht der Keller wieder unter Wasser.
Die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung des Körpers und seiner Funktionen, die Organisation
von alledem nimmt so viel Raum ein, dass kaum eine ruhige Minute bleibt, um seinem baldigen
endgültigen Versagen auch nur einen Seitenblick zu gönnen. Dennoch spüren wir ihn deutlich, den
Tod, und sind wohl gerade deshalb so emsig bemüht, dieses Gespür mit Geschäftigkeit zu
überlagern. Ganz wegschieben lässt es sich nicht. Beerdigungen, an denen teilzunehmen wir immer
häufiger geladen sind, gehen uns noch lange nach, unabhängig davon, wie nahe uns der
Verstorbene stand. Gegen gewisse Witze sind wir allergisch geworden: Wenn du morgens auf
wachst und es tut dir nichts weh, dann bist du wahrscheinlich tot. Viele sind inzwischen
vorausgegangen. Gleichaltrige. Jüngere auch.
Dass wir bei aller Ernsthaftigkeit noch richtig auf die Palme gehen können, mag gelten als ein letztes
Aufbäumen der Lebenskraft. Schludrige Sätze, falsche Adjektive, Sprachklischees. Böse Zungen
werden es für altmodische Nörgelei halten: Ich halte dagegen und versuche das, was Professor
Higgins im Musical „My fair Lady“ – ein Mann in der Blüte der Jahre – als Muttersprachenmord
bezeichnet, auch in seinem Namen zu rächen.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Sprecher:
Und dann die Zumutungen der inzwischen auch schon nicht mehr neuen Rechtschreibregelungen.
Ein Essay des Lyrikers Rainer Kunze fasst es zusammen: Ein sehr feines, äußerst vielseitiges, auch
wohl kompliziertes Instrument wie unsere Sprache, sagt er, darf nicht so weit vergröbert werden,
dass möglichst alle – um nicht zu sagen auch die größten Trottel – damit arbeiten können. Es ist viel
besser, hinzunehmen, dass es nicht von jedem richtig zu gebrauchen ist, als seine wunderbaren
Möglichkeiten leichtfertig einzuschränken.
Bei Rainer Maria Rilke, gestorben mit Anfang fünfzig, geht es häufig um den Tod und immer um die
Sprache. Ein Sterbender in einer seiner Geschichten verharrt noch ein wenig im Leben, weil es gilt,
das Wort Korridor, das in seiner Gegenwart falsch ausgesprochen wurde, zu korrigieren. Nicht aus
Pedanterie, schreibt Rilke. Einfach nur, weil einer nicht aus der Welt gehen kann, ohne die Gewalt zu
mildern, die der Muttersprache angetan wurde.
Sprecherin:
Wer meiner Generation angehört, hat einen weiten Weg zurückgelegt. Den von der analogen Welt
zur digitalen. Manche sind auf halbem Weg stecken geblieben, verzweifelt oder verschollen. Ich
versuche mich im Slalom. Begonnen habe ich mit einer Haltung zwischen Ekel und dem Sich-Fügen
ins Unvermeidliche. Noch immer blicke ich nicht so gern auf Displays und Bildschirme. Aber so
einigermaßen komme ich zurecht. Habe allerdings kein Problem, mir helfen zu lassen von jungen
Männer, die ihr Erstaunen über meine Unfähigkeit und mein Desinteresse hinter professionellem
Eifer verbergen.
Beigesprungen ist mir der Schriftsteller John von Düffel. Er dürfte so ungefähr in meinem Alter sein.
Computer klar, Mailen auch, schreibt er, Internet, soweit es in dienender Funktion genutzt wird. Als
dann aber, schreibt er weiter, der Fortschritt möglich machte, dass jeder mit seinem smaten Phone
alles überall kann, da habe er, John von Düffel, für sich die Notbremse gezogen. Er müsse sich nicht
mit den neuen Dingern rumschlagen, dafür sei er schlicht zu alt. In der Ruhe und Unerreichbarkeit
sehe er einen Luxus, den es zu verteidigen gelte. Zum ersten Mal wird das Alter auf diese Weise zu
einem Schutzraum. Ein Paradies für Verweigerer, ein Inselreich für versnobte Träumer. Ich lege mir
eine Rechtfertigung zurecht, ein Satz für alle Lebenslagen. Es heißt nicht: Das kann ich nicht. Es
heißt: Ich muss es nicht mehr tun.
Zitator:
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei -
Sprecher:
Bertolt Brecht ist wenige Jahre vor seinem 60. Geburtstag gestorben.
Zitator:
… so sag ich dir, ich kann mich nicht erinnern. Und doch, ich weiß schon, was du meinst…
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Wirtschaften für den Glauben
Der geschäftige Geist und sein spirituelles Leben
Lebenszeichen
Von Frank Schüre
24.01.2015
Sprecherin:
Und doch.
E., ein Jahr älter als ich, stellt fest, dass die Chancen sinken, während die Ansprüche munter
steigen. Sitzen wir einander im Restaurant oder im Café gegenüber und ein geschätzt gleichaltriger
Mann betritt die Szene, sagt E. ihren Lieblingssatz:
Willze sowatt aufm Sofa sitzen haben?
Vorbei die Zeit der Leichtigkeit, kein heiteres Tandaradei mehr und kein Flirt im Vorübergehen. Wer
jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Nie mehr Menü, sagt B., nur noch à la carte.
Zwischen alledem habe ich meine Haltung noch nicht gefunden. Einen Mann natürlich auch nicht.
Noch treffen mich Blicke, ab und zu. Aber sie kehren nicht mehr zu mir zurück. Bin ich überhaupt
noch zumutbar, und was will ich mir zumuten? Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre, ich bin doch zu
schade für einen allein, singt Marlene Dietrich (sie wurde uralt dabei).
Ich flattere mal in diese, mal in jene Richtung, begreife mich als tragikomische Figur, suche Halt bei
den Dichtern, die müssen es sich gefallen lassen.
Zitator:
Hör‘ ich das Mühlrad gehen…
Sprecher:
Joseph Freiherr von Eichendorff ist fast 70 Jahre alt geworden.
Zitator:
Ich weiß nicht, was ich will
Ich möchte‘ am liebsten sterben
Da wär‘s auf einmal still.
Sprecherin:
Hat man es einmal ausgesprochen, kann man wieder Mut fassen.
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