Lebenszeichen

Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus
Redakteurin: Christina-Maria Purkert
Autor: Hans Volkmar Findeisen
Lebenszeichen
25.12.16
Sprecher:
Der kleine Jesus hat die Stirnfalte gerunzelt. Ein wenig grimmig und spitzbübisch zugleich sieht er
unter seiner Krone auf die Welt herab. Seine Händchen recken Zepter und Reichsapfel, die Zeichen
seiner Herrschaft, keck nach oben. Es scheint, als hätte Mutter Maria den Sprössling soeben zum
ersten Mal aus der Krippe heraus gehoben und auf ihren Arm gesetzt, um ihm sein neues Reich zu
zeigen. Monica Vroon, Textilkonservatorin am Aachener Dom, ist der einzige Mensch weit und breit,
der dem Jesuskind und seiner Mutter auf Augenhöhe begegnet. Immer dann, wenn sie ihre Aluleiter
aus der Abstellkammer holt und zwei, drei Meter zum Aachener Gnadenbild emporsteigt, um Mutter
und Kind für die hohen Festtage neu einzukleiden. Wie jetzt zu Weihnachten. Endkontrolle, ein
letzter Blick. Nicht nur biologisch und theologisch bilden Mutter und Kind eine Einheit. Im Gnadenbild
sind sie einst aus einem einzigen Stück Lindenholz geschaffen worden. Auch ihre Kleider sind nur im
Doppelpack als identische Sets zu haben. Mit dem einen Unterschied, dass Marias Gewänder
entsprechend ihrer Körpergröße so um einen Meter und zwanzig lang sein dürften, während das des
Neugeborenen nur etwa 40 Zentimeter misst. Im Alltag tragen die beiden grün, an den ganz
wichtigen Festtagen aber hilft ihnen Frau Vroon sich in strahlendes Weiß zu hüllen. Im Laufe des
Kirchenjahres erlebt die heilige Skulptur ein ständiges textiles Wechselspiel.
O-Ton Monica Vroon:
Weihnachten, das ist dann Hochfest. Für Feste wird sie weiß, silber, gold, also etwas Edles
angezogen, aber hauptsächlich weiß. Da nehme ich halt eines der schönsten Kleider, die wir
haben, und das wird dann auch mit viel Schmuck noch schöner gemacht.
Sprecher:
Kleider für Jesus? Kleider für einen Erlöser, der fast nackt in die Welt gekommen und diese fast
nackt am Kreuz wieder verlassen hat? Wie passen Nacktheit, textiler Pomp und das Heilige
zusammen? Frau Vroon, die Garderobiere des Heiligen, braucht sich um solche Fragen gelehrter
Wissenschaft erst mal nicht zu kümmern. Am Heiligen Abend, hat sie ein ganz anderes, sprich
praktisches Programm abzuarbeiten. Sie legt wie immer beim Kleiderwechsel eine Spätschicht ein.
Es wird eine Weile dauern, bis sie sich ins Auto setzten und zuhause in Belgien den Schlüssel im
Türschloss umdrehen kann.
O-Ton Monica Vroon:
Wir versuchen das zu machen, wenn die Kirche zu ist. Eigentlich ist nichts Schlimmes zu
sehen, wenn man die Kleider abnimmt. Das ist ja eine völlig bekleidete Statue, die wir da
haben. Aber wir möchten Maria ehren und die Kleider nicht abnehmen, wenn alle Leute
zugucken.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus
Von Hans Volkmar Findeisen
Lebenszeichen
25.12.16
Sprecher:
Naja, Maria schon. „Drunter“ besitzt sie gemalte dunkle Kleider. Aber Jesus? Wenn die Hüllen fallen,
ist er nackt: ein kleiner nackter Putto. Das muss so sein. Die Erzählung vom nackten und von der
Welt unbefleckten Kind in der Krippe diente den Menschen der Antike als Marker. Auch Herrscher
wie Philipp von Mazedonien oder Augustus haben ihre Biographien von ihren Hofschreibern mit
solchen Geburtsszenen ausstatten lassen. Und die Evangelisten, insbesondere Lukas, haben dieses
Motiv dann auch auf Jesus übertragen. Die Geburt eines „göttlichen Kindes“ signalisierte der antiken
Welt einen Neustart, den Anbruch eines neuen Äons, eines neuen Friedensreiches. Das göttliche
Kind auf den Armen seiner Mutter im Aachener Dom, wo kommt es eigentlich her?
O-Ton Monica Vroon:
Wahrscheinlich aus Deutschland. Anscheinend gab es die schon im 14. Jahrhundert. Dann ist
sie im Stadtbrand verbrannt zum Teil, und man hat aus Erinnerung die Statue nachgeschnitzt
in Lindenholz und hat die Asche der vorherigen Statue hinten in die Skulptur hineingesteckt.
Damit nichts verloren ging von dem alten wundertuenden Bild. Die Köpfe und die Hände der
beiden Statuen von Maria und Kind sind original. Die sind vom 14. Jahrhundert. Das sind nur
die Körper, die dazu geschnitzt sind im 16.
Sprecher:
Man vermutet, dass das Gnadenbild von Anfang an bekleidet wurde. Die ersten Ornate sind freilich
nicht mehr erhalten. Das erste noch erhaltene Kleiderset aus dem Jahr 1627 stammt aus der Zeit der
Gegenreformation - eine Schenkung der Isabella Clara Eugenia von Spanien. Bis in die Mitte des
letzten Jahrhunderts kamen weitere Schenkungen für das Gnadenbild dazu. Die Madonna…
O-Ton Monica Vroon:
…wird nicht umsonst die reichste Frau Aachens genannt. Sie hat einen Kleiderschrank mit 43
Kleidern drin, mehr wie ich habe (lacht).
Sprecher:
So gesehen muss aus Bethlehems Stall eine Schatzkammer geworden sein, in der sich teure Kleider
und Accessoires gleich haufenweise stapelten: Rosenkränze, Ketten, Kämme, Brillen, Uhren, eine
Parfümflasche, ein goldenes Taschenmesser und vieles mehr. Fast alle diese Schätze bleiben
natürlich unter Verschluss, wenn Frau Vroon in der Sakristei die Vorbereitungen dafür trifft, um in
aller Stille das Ritual des weihnachtlichen Kleiderwechsels im menschenleeren Dom zu zelebrieren.
Bis alles zurecht gelegt ist, dauert es natürlich noch eine Weile, und es bleibt genug Zeit, um über
den Horizont der Aachener Kirchtürme hinauszublicken und noch ein bisschen tiefer in die
Geschichte der Heiligen Röcke einzutauchen. Die Aachener sind stolz auf ihr Gnadenbild. Aber
Skulpturenkleider für Jesus, Maria und andere Heilige besaßen und besitzen andere Kirchen oder
Klöster auch. Charlotte Klack-Eitzen, Kunsthistorikerin an der Universität Hamburg, hat dafür
zahlreiche Belege gefunden, nicht nur in Deutschland.
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Das war überall ganz üblich und ist es noch immer, also auch in Italien, in Spanien, in Belgien
gibt es sehr viel bekleidete Skulpturen.
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Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus
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Sprecher:
Viel hilft viel. Auch in der Religion. Die Kunsthistorikerin kennt Beispiele, bei denen manchen Figuren
gleich mehrere Lagen Kleider übereinander angezogen wurden. Was ihr Gewicht in den Augen der
zeitgenössischen Betrachter und Gläubigen erhöhte.
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Sie haben eben nicht diesen Blick des Kunsthistorikers, der eben an den geschnitzten Falten
und an der aufwendigen Bemalung dieser Skulptur Freude hat, sondern sie wollen einfach
nur ihre Verehrung zum Ausdruck bringen, indem sie etwas Kostbares hinzufügen. Was man
natürlich auch wieder entfernen kann. Aber es ist erstmal ein Geschenk an diesen Heiligen.
Sprecher:
In Aachens Domsakristei ist Frau Vroon unterdessen in ihrem Element.
O-Ton Monica Vroon:
Soll ich Ihnen noch das Älteste zeigen? Das ist das da, schöner silberblauer Stoff, der
heutzutage leider etwas grau geworden ist, weil das Silber halt oxydiert ist mit Rosen drauf,
die von allen Seiten sichtbar sind und Lilien für Maria, die mit Perlen gestickt sind und sogar
emaillierte Fassungen mit kleinen Diamanten. Dieses Kleid trägt sie nur während der
Heiligtumsfahrt, die einmal pro sieben Jahre passiert, und dann muss sie das schönste Kleid
anziehen.
Sprecher
Schönheit ist eine Frage des Zeitgeschmacks. Das älteste Skulpturenkleidchen besitzt Aachen
freilich nicht. Seit der Zeit der Kreuzzüge explodierte der Kult mit den Heiligenkleidern förmlich. Die
älteste Sammlung aus dieser Zeit gehört dem Kloster Wienhausen bei Celle. Fast zwanzig Kleidchen
vor allem für das Jesuskind besitzt man dort. Grademal handtellergroß sind die kleinsten. Die
Geschichte der verwendeten Stoffe lässt sich über Italien bis nach China nachverfolgen. Wienhausen
zählt zu jenen norddeutschen Frauen-Klöstern, die nach der Reformation nicht säkularisiert, sondern
mit einer protestantischen Äbtissin an der Spitze als Damenstifte weiter geführt wurden und bis heute
bestehen. Der Boom der Heiligen Röcke hing insbesondere zusammen mit der Eroberung
Konstantinopels 1204 durch venezianische und fränkische Kreuzfahrer, die dort für ein halbes
Jahrhundert ein lateinisches Kaiserreich installierten. Damit begann eine Epoche eines höchst
lebendigen Kulturaustauschs zwischen Ost und West. Der Westen übernahm Elemente der „maniera
graeca“, der religiösen Kunst der Byzantiner. Die erste Welle des Kleiderbooms, so der Leipziger
Kunsthistoriker Johannes Tripps, erreichte Italien, insbesondere die Toskana.
O-Ton Johannes Tripps:
Man sieht diese Ikonen, die verhüllt werden, sich selbst enthüllen, und das folgt dann auch
bei wundertätigen Bildern beispielsweise in Florenz, dass man die verhüllt. Die Florentiner
haben mehrere Marienbilder, die einmal gegen Dürre helfen, das nächste Mal gegen
Krankheit, also riesig verehrt werden, und die verhüllt und enthüllt man dann auch
dementsprechend. Und da ist Byzanz…, ganz offensichtlich hat das einen Rieseneinfluss,
und der Einfluss bleibt.
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Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus
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Sprecher:
Die Begegnung mit dem Heiligen ist faszinierend und erschreckend zugleich. Das Spiel von
Verschleiern und Enthüllen durchzieht die Geschichte zahlloser Religionen. Dahinter steckt der
Versuch des Menschen, die Präsenz des Übermächtigen je nachdem zu nutzen oder zu bannen.
Heilige Statuen von Göttern oder Gottkaisern zu kleiden, zu parfümieren, zu speisen, zu betten, zu
waschen und wie lebendige und handelnde Wesen durch Städte und Provinzen zu tragen, alles das
existierte längst vor dem Entstehen des Christentums. Aber nachdem das Christentum im 4.
Jahrhundert zur römischen Staatsreligion wurde, wurde der antike Brauch auch auf Christus, den
Weltenbeherrscher, übertragen. Wienhausen, eine Gründung des Hochadels und Aachen als
mittelalterlicher Krönungsort bestätigen dies.
O-Ton Monica Vroon:
Die Krone, Zepter und so weiter, da behält sie dasjenige, was sie jetzt anhat.
Perlenketten, ein Rosenkranz für Maria und ein Rosenkranz für das Kind und noch ein Kreuz
dazu für Maria.
Sprecher:
Im Osten, im christlich-orthodoxen Byzanz, blieb es bei der starren Ikonenmalerei. Aber im Westen
wartete auf die heiligen Bildwerke eine strahlende Zukunft. Sie wurden bewegt und dreidimensional.
Das Bekleiden von heiligen Skulpturen gehörte zur Dramatik eines neu entstandenen geistlichen
Spiels. Dabei handelte es sich um eine Art kirchliches Welttheater, mit dem die leseunkundigen
Laien durch die Ereignisse des Kirchenjahres geführt wurden.
O-Ton Johannes Tripps:
Es ist vor allem, weil die Städte an Macht und Reichtum grade im 13. und 14. Jahrhundert
enorm neben den weltlichen und den kirchlichen Adel als Auftraggeber treten, dass eben
auch die Städte grade Heiligengeschichte, heilige Geschichte enorm inszenieren in ihren
Kirchengebäuden, wo wir mehrere Ringe im Gewölbe haben und eben wissen, dass ein Ring
dazu diente, an Mariä Himmelfahrt die Mutter Gottes ins Gewölbe hochzuziehen, also Mariä
Himmelfahrt nachzuspielen, im nächsten Christi Himmelfahrt, und im Chor hat man dann an
Pfingsten die Heiliggeisttaube fliegen lassen und hat brennende Wergbällchen, also
gezupften groben Flachs, nachgeworfen, um diese Feuerzungen zu symbolisieren, die über
Apostel und die Maria kamen. Das heißt, die Kirche, das Kirchengebäude wird immer mehr zu
einer Art Erlebnisraum, wo man die einzelnen Stadien des Kirchenjahres und der
Kirchenfeste tatsächlich inszenieren kann und daran teilnehmen.
Sprecher:
Im Aachener Dom hat die Konservatorin unterdessen damit begonnen, dem Gnadenbild erst einmal
die werktäglichen Kleider abzunehmen.
O-Ton Monica Vroon:
So jetzt fangen wir an mit der Krone, die den Schleier festhält. Wenn ich noch eine Hand
übrig habe, nehme ich schon einmal ein Zepter mit und dann klettert man wieder runter.
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Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus
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Sprecher:
Die erstmals von Franz von Assisi inszenierten Krippenspiele sind Teil der Dramatisierung des
Religiösen. Die einfachen Gläubigen empfanden solche Spiele als großen Gewinn. Gott war in
Christus ein Gott zum Anfassen und sehr menschlich geworden. Auf der anderen Seite standen die
Gebildeten, Kleriker und Mönche, die lateinisch sprachen und sich zumeist in den abstrakten
Diskursen der Scholastik verloren. Das geistliche Spiel spiegelte auch eine innere Spaltung der
Kirche wieder, die zwischen Priestertum und Laienreligiosität entstanden war. Wie auch immer. Dem
populären Kult um das Jesuskind war damit Tür und Tor geöffnet. Er blühte nicht nur in der Toskana
auf, sondern bald auch im Rheinland und in Flandern.
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Das wurde überall gemacht. Aber bekannt sind eben die Jesuskinder aus Mechelen, die in
großer Zahl noch erhalten sind. Sie sind alle unter sich recht ähnlich. Sie haben so eine
porzellanmäßige Bemalung, ganz hell rosa, sehr fein, immer so leicht geschlitzte Augen,
goldene Haare und so ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht (lacht), und sie stehen auf
so kleinen Sockeln, stehen frei und haben die Arme irgendwie mit einer kleinen goldenen
Kugel und einem Segensgestus nach vorne gestreckt und eignen sich deshalb besonders gut
zum Bekleiden.
Sprecher:
Jesuskind-Puppen wurden bekleidet oder unbekleidet verkauft. Für die so genannten Bambini
musste viel Geld investiert werden. Zu den Abnehmern gehörte nicht nur der Adel, sondern auch
reiche Stadtbürger. In solchen Familien war es üblich geworden, den ledigen Mädchen bei der
Verheiratung eine Jesuskindfigur zu schenken, möglicherweise auch als Talisman für die erhoffte
Geburt eigener Kinder.
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Man weiß auch, dass solche Jesuskinder den Nonnen geschenkt wurden in dem Moment, als
sie ins Kloster eintraten. Und einerseits wurden sie dann so als Trösterlein bezeichnet, eben
um den Abschied zu erleichtern, aber andererseits eben auch sicherlich als Andachtsbild für
sie persönlich. Und es wird dann auch beschrieben, dass sie dann schon bekleidet waren.
Also ein Ratsherr aus Köln hat geschrieben, dass seine Tochter ein Jesuskind bekam: „Es
gab keinen schöneren im Kloster mit einem samtenen Rock und einer Reliquie vom Blut Jesu
hatte er umhängen“, ja.
Sprecher:
Die mittelalterliche Mystik trieb die Idee von der Nonne als Braut Christi auf die Spitze. Der Eintritt ins
Kloster wurde ins Bild gesetzt wie eine reguläre Hochzeit, nur dass die vom Brautvater ins Kloster
geführte Frau kein leibhaftiger Mann, sondern ein kleiner Jesus erwartete. Auch im Kloster waren die
Puppen Teil der Aussteuer, die die Frauen bei der Hochzeit erhielten. Die Jesuskinder besaßen
Kleider, Wiegen und zunehmend auch maßstabsgerechte Tischchen, Stühlchen, Bestecke oder
Badezuber. Buchdrucker legten erste Ratgeberbücher auf, wie man dem Jesuskind ein warmes
„Bädlin“ richtet, es stillt und vor Ungeziefer schützt oder ihm einen Brei kocht. Frau Vroon im
Aachener Dom hat mittlerweile das Gnadenbild von Kronen, Zeptern und dem Reichsapfel des
Jesuskindes befreit. Ein wichtiger Schritt ist das.
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O-Ton Monica Vroon:
Jetzt kann man erst das Kleidchen vom Christkind wegnehmen. Das Lätzchen wird jetzt über
die Händchen vom Jesuskind gehoben, und dann kann man das Kleid Mariens auch
abnehmen. Jetzt wird als Erstes über die rechte Hand, die etwas einfacher ist, gestülpt, und
jetzt durch den anderen Schlitz muss man die linke Hand und das Jesuskind heben.
Sprecher:
Als die Bambini Europa eroberten, befand sich die Minne, das ritterliche Werben um die angebetete
Herzensdame, auf dem Höhepunkt. Der Zeitgeist ging auch am bürgerlichen oder klösterlichen Spiel
mit dem Jesuskind nicht vorbei und umhüllte ihn mit einem Hauch vor der Umwelt kaum verborgener
Erotik.
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Grade in Nonnenklöstern gibt es Quellen, die eben zeigen, dass die Nonnen ein sehr intimes
Verhältnis zu diesen Figuren entwickelt haben. Es gab Wiegen, in diese Wiegen konnten
diese Figuren hinein gelegt werden. Sie wurden gewickelt, sie wurden bekleidet. Die Nonne
berichtet darüber, dass das Kind nicht in seiner Wiege bleiben wollte, sondern lieber zu ihr ins
Bett möchte und dass sie ihm dann auch nachgegeben hat und was für ein wunderbares
Erlebnis es gewesen sei, mit Jesus zusammen zu schlafen sozusagen (lacht). Das ist sicher
auch so gewesen, aber ich denke nicht in dem Maße, wie wir das vielleicht denken. Aber die
Männer der damaligen Zeit haben das natürlich sehr stark wahrgenommen und haben das
auch mit großem Misstrauen betrachtet.
Sprecher:
Das Wechselspiel zwischen Bekleiden und Entschleiern des nackten Jesuskindes brachte Spannung
in die Dramaturgie des geistlichen Spiels. Noch mehr machte sie theologisch Sinn. Das Nackte
verhieß nicht nur absolute Reinheit. Der Anfang mit dem unbekleideten Kind in der Krippe galt zudem
als Vorgriff auf das Ende am Kreuz. Die Geburt des kleinen Jesus lieferte bereits en miniature die
ganze christliche Erzählung von der Erlösung der Menschheit. Um die Motive von Geburt und Tod
zusammen zu bringen, waren die Mittelalter-Theologen gelegentlich sehr großzügig und zeigten sich
davon überzeugt, dass Jesus splitterfasernackt am Kreuz hing. Keine Rede war da mehr von den
römischen Soldaten, die, wie in der Bibel belegt, um sein Gewand würfelten. Beispiel: Die „Fragen an
Maria“, ein im späten Mittelalter populäres Passionstraktat in Dialogform, das dem Theologen
Anselm von Canterbury zugeschrieben wurde. Johannes Tripps:
O-Ton Johannes Tripps:
Dass man ein Kruzifix nackt ans Kreuz schlägt, das haben wir schon im Anselm-Dialog, wo
die Mutter Gottes dem Anselm dialogisch erzählt, also einem Kleriker, was bei der Passion
alles passiert wäre, und da ist eine Stelle drin, die gibt’s in der Bibel gar nicht, dass man
Christus nackt ans Kreuz geschlagen hätte, um ihn zu demütigen, zu erniedrigen. Und um
diese Schmach zu tilgen, nimmt die Mutter Gottes ihren Schleier, bittet einen Soldaten oder
die Heilige Maria Magdalena dem nackten Christus den Schleier um die Hüften zu binden. Bei
den Spielen ist es so, wenn wir eben so etwas im liturgischen Spiel haben, im Heiligen Spiel,
dann bittet Maria am Schluss, man möge ihr den blutigen Schleier zurück geben, da noch
viele Menschen durch das Blut Christi erlöst würden.
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Sprecher:
Heilige Röcke und Stoffe besitzen die Magie von Reliquien. Nicht ganz zufällig fügt sich das
Aachener Gnadenbild ein in die Verehrung weiterer bedeutender textiler Reliquien, die im Domschatz
aufbewahrt werden. Dazu gehören die Windeln oder das Lendentuch Jesu. Zusammen mit dem
Gnadenbild werden sie alle sieben Jahre bei der Heiligtumsfahrt gezeigt.
O-Ton Monica Vroon:
1003, 2:40: Eigentlich kann man die Kleider sehen als Lätzchen mit zwei Schlitzen drin. Jetzt,
wenn ich das anziehen muss, muss ich den einen Schlitz über das Christkind und den Arm
der Maria stülpen und den anderen Schlitz über den anderen Arm und hinten mit einem
Schleifchen zumachen.
Sprecher:
Vorzubindende Kleidchen nennen die Restauratoren diese Stücke. Man könnte sie auch mit einem
Flügelhemd aus dem Krankenhaus-OP vergleichen. Fast alle folgen demselben Schnittmuster,
während Stoffe und Applikationen oft Anklänge an die zeitgenössischen Moden aufzeigen. Zur Zeit
Kolumbus’ und der Entdeckungen etwa zeigten sich die Jesuskinder gerne auch im PapageienFederschmuck. Sie sahen aus wie Papageno. In anderen Fällen versuchte man mit einem
hochflexiblen Rundstrickverfahren die Blöße des zum Erwachsenen werdenden Jesuskindes vor den
Augen der Gläubigen zu verbergen. Charlotte Klack-Eitzen über eine dehnbare Jesus-Strampelhose:
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Eine besonders schöne Geschichte, finde ich, ist ja das Kleid, das er ohne Naht getragen hat
und um das die Soldaten würfeln während der Kreuzigung. Das sieht man ja ganz oft auf den
Altarbildern. Und in Hamburg gibt es auf einem einzigen Altar eine Maria, die ein Kleid mit vier
Stricknadeln strickt, ein Kleid, das er als Kind schon hätte anziehen können, das mit ihm
mitwächst, weil die Strickmaschen ja flexibel sind. Und sie trägt also durch ihre Strickerei zu
seiner Passionsgeschichte bei, könnte man sagen. Und das ist eben auch das
Selbstverständnis der Nonnen im Umgang mit dem Jesuskind, dass sie eben auch dazu bei
tragen zu diesem Erlösungswerk.
O-Ton Monica Vroon:
Jetzt kommt das Kleidchen für Jesus. Ist natürlich etwas größer. Das kommt bis über seine
Füße. Ein Festkleidchen. Die Schleifen kommen nach hinten. Jetzt muss der Schmuck noch
dazu erstmal, da muss man die Hände frei halten, sonst geht das schlecht.
Sprecher:
Unter dem Mantel des religiösen Brauchtums blühte die religiöse Phantasie. Für den Festtag der
Beschneidung Jesu am 1. Januar - das Zweite Vatikanum hat es aus dem weihnächtlichen Kalender
gestrichen - hielt man besondere Jesus-Kleider bereit. Sie besaßen einen Schlitz, der es erlaubte
das Beschneidungsritual nachzuspielen als den ersten Moment, wo Jesus sein Blut vergossen hat.
Den plastisch ausgebildeten Penis nennen die Quellen diskreterweise Zäserlin, ein Wort, womit man
früher den Blütenstängel einer Pflanze bezeichnete.
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O-Ton Johannes Tripps:
Wir haben da vor allem die Kritik des Predigers am Straßburger Münster, Geiler von
Kaysersberg 1517, wo er eben klagt, dass jedes Christkind ein Zäserlin haben muss. Darauf
würden die Nonnen achten, und wenn das Christkind das nicht habe, würde man’s zurück
weisen. Das Kind muss dieses Geschlechtsteil besitzen, dass wenn man vorne das
Mäntelchen eben öffnet zu der Beschneidungsandacht, dass man die Sache dann auch sieht.
Sprecher:
Erst das Konzil von Trient hat in der Mitte des 16. Jahrhunderts die Bambini in geschlechtslosen
Wesen verwandelt und neutralisiert. Immer wieder auch berichten die Quellen davon, dass die
geistlichen Spiele „ausarteten“. Schon die katholische Klosterreform im Spätmittelalter versuchte
gegenzusteuern. Luther, der Reformator, war kein Bilderstürmer. Aber er sah das Jesus-Puppenspiel
kritisch und akzeptierte es lediglich, wenn es dem Glauben diente. Nur das Einsammeln von
Spenden, das Crowdfunding mit mechanischen Jesusfiguren, lehnte er als plumpen Priestertrug
rundherum ab.
O-Ton Johannes Tripps:
Wir haben ja eine berühmte Quelle aus Luthers Tischreden, dass der Kurfürst von Sachsen
im Bauernkrieg ein Bild bekommen habe, ein Marienbild, da könne sich das Christkind dem
Frommen zuwenden oder von ihm abwenden, je nachdem wie viel er der Kirche gestiftet
habe, und das Ganze würde mit Hilfe von Seilzügen, Schnüren, Drähten gemacht, und das
sei Vexiererei, also man habe den, der gestiftet hat, getäuscht. Denn habe er viel gegeben,
habe sich das Christkind ihm zugewendet und ihn gesegnet, habe er wenig gegeben, habe
sich das Christkind abgewendet. Die Frage ist nur, ob’s die Laien nicht wirklich gesehen
haben, ob das ganze nicht in Heiliges Spiel fällt. Das heißt, der Laie war in einer Kirche des
15. Jahrhunderts mit mechanischem Spielwerk bestens vertraut, und ich glaube deshalb
eben, dass Luther eher reformatorische Propaganda ist und dass die Leute das sehr wohl als
Heiliges Spiel erkannt haben, wenn eine Figur sich da bewegt hat.
Sprecher:
In Aachen ist Frau Vroon fast fertig. Das Jesuskind braucht noch einen Rosenkranz um die Hand und
Maria ihre Ketten.
O-Ton Monica Vroon:
Der ganze Schmuckkasten und jetzt dazu. Das Jesuskind kriegt das etwas um die Hand
gebunden, damit das nicht zu lang herunterhängt. So. Jetzt kriegt Maria etliche Perlenketten
an. Das ist ein Festtag morgen, Maria darf schön sein.
Sprecher:
Was ist mit den Heiligen Jesus-Röckchen nach der Reformation geschehen? Noch einmal lohnt der
Seitenblick nach Wienhausen.
O-Ton Charlotte Klack-Eitzen:
Dann kam die lutherische Reformation, und die Nonnen wollten aber nicht evangelisch
werden. Sie haben sich auch sehr lange dagegen gewehrt. Es ist ziemlicher Druck auf sie
ausgeübt worden, also man hat auch Teile des Klosters dann abgerissen, um sie unter Druck
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zu setzen. Und dann sind sie zwar evangelisch geworden, aber sie haben trotzdem weiterhin
ihre Kleider benutzt für die Skulpturen.
Sprecher:
Erst das Zeitalter der Aufklärung verdammte das „Dockenwerk“, das geistliche Spiel mit den
Jesuspuppen, als primitiven Mummenschanz. Das Todesurteil galt sowohl für die evangelische wie
auch für die katholische Seite. Und nur in einigen wenigen Ausnahmefällen haben die
Bekleidungsrituale hierzulande überlebt, zumeist in den Nonnenklöstern Bayerns, aber eben auch in
Aachen, wo die Domkonservatorin ein letztes Mal von der Leiter steigt, um ihr Werk zu betrachten.
O-Ton Monica Vroon:
Da muss man also immer noch mal nach unten gehen und gucken, ob das so steht und nicht
schief. Jetzt kriegt das Christkind sein Zepter und seinen Reichsapfel und die Krone wieder
mit dem schönen Stein nach vorne. Früher saß die Krone etwas tiefer. Aber dann hatte er ein
unglückliches Gesicht, ein launisches Gesicht. Das wollen wir nicht haben. Und Maria kriegt
ihr Zepter, und ich meine, dass es dann in Ordnung ist. Jetzt gehen wir mal von der Treppe
runter und dann gucken wir, wie es aussieht.
Sprecher
Frau Vroon ist zufrieden. Und sie ist sicher, dass nun auch das Jesuskind ziemlich zufrieden ist.
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