Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Redakteurin: Christina-Maria Purkert Autor: Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 Sprecher: Der kleine Jesus hat die Stirnfalte gerunzelt. Ein wenig grimmig und spitzbübisch zugleich sieht er unter seiner Krone auf die Welt herab. Seine Händchen recken Zepter und Reichsapfel, die Zeichen seiner Herrschaft, keck nach oben. Es scheint, als hätte Mutter Maria den Sprössling soeben zum ersten Mal aus der Krippe heraus gehoben und auf ihren Arm gesetzt, um ihm sein neues Reich zu zeigen. Monica Vroon, Textilkonservatorin am Aachener Dom, ist der einzige Mensch weit und breit, der dem Jesuskind und seiner Mutter auf Augenhöhe begegnet. Immer dann, wenn sie ihre Aluleiter aus der Abstellkammer holt und zwei, drei Meter zum Aachener Gnadenbild emporsteigt, um Mutter und Kind für die hohen Festtage neu einzukleiden. Wie jetzt zu Weihnachten. Endkontrolle, ein letzter Blick. Nicht nur biologisch und theologisch bilden Mutter und Kind eine Einheit. Im Gnadenbild sind sie einst aus einem einzigen Stück Lindenholz geschaffen worden. Auch ihre Kleider sind nur im Doppelpack als identische Sets zu haben. Mit dem einen Unterschied, dass Marias Gewänder entsprechend ihrer Körpergröße so um einen Meter und zwanzig lang sein dürften, während das des Neugeborenen nur etwa 40 Zentimeter misst. Im Alltag tragen die beiden grün, an den ganz wichtigen Festtagen aber hilft ihnen Frau Vroon sich in strahlendes Weiß zu hüllen. Im Laufe des Kirchenjahres erlebt die heilige Skulptur ein ständiges textiles Wechselspiel. O-Ton Monica Vroon: Weihnachten, das ist dann Hochfest. Für Feste wird sie weiß, silber, gold, also etwas Edles angezogen, aber hauptsächlich weiß. Da nehme ich halt eines der schönsten Kleider, die wir haben, und das wird dann auch mit viel Schmuck noch schöner gemacht. Sprecher: Kleider für Jesus? Kleider für einen Erlöser, der fast nackt in die Welt gekommen und diese fast nackt am Kreuz wieder verlassen hat? Wie passen Nacktheit, textiler Pomp und das Heilige zusammen? Frau Vroon, die Garderobiere des Heiligen, braucht sich um solche Fragen gelehrter Wissenschaft erst mal nicht zu kümmern. Am Heiligen Abend, hat sie ein ganz anderes, sprich praktisches Programm abzuarbeiten. Sie legt wie immer beim Kleiderwechsel eine Spätschicht ein. Es wird eine Weile dauern, bis sie sich ins Auto setzten und zuhause in Belgien den Schlüssel im Türschloss umdrehen kann. O-Ton Monica Vroon: Wir versuchen das zu machen, wenn die Kirche zu ist. Eigentlich ist nichts Schlimmes zu sehen, wenn man die Kleider abnimmt. Das ist ja eine völlig bekleidete Statue, die wir da haben. Aber wir möchten Maria ehren und die Kleider nicht abnehmen, wenn alle Leute zugucken. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 Sprecher: Naja, Maria schon. „Drunter“ besitzt sie gemalte dunkle Kleider. Aber Jesus? Wenn die Hüllen fallen, ist er nackt: ein kleiner nackter Putto. Das muss so sein. Die Erzählung vom nackten und von der Welt unbefleckten Kind in der Krippe diente den Menschen der Antike als Marker. Auch Herrscher wie Philipp von Mazedonien oder Augustus haben ihre Biographien von ihren Hofschreibern mit solchen Geburtsszenen ausstatten lassen. Und die Evangelisten, insbesondere Lukas, haben dieses Motiv dann auch auf Jesus übertragen. Die Geburt eines „göttlichen Kindes“ signalisierte der antiken Welt einen Neustart, den Anbruch eines neuen Äons, eines neuen Friedensreiches. Das göttliche Kind auf den Armen seiner Mutter im Aachener Dom, wo kommt es eigentlich her? O-Ton Monica Vroon: Wahrscheinlich aus Deutschland. Anscheinend gab es die schon im 14. Jahrhundert. Dann ist sie im Stadtbrand verbrannt zum Teil, und man hat aus Erinnerung die Statue nachgeschnitzt in Lindenholz und hat die Asche der vorherigen Statue hinten in die Skulptur hineingesteckt. Damit nichts verloren ging von dem alten wundertuenden Bild. Die Köpfe und die Hände der beiden Statuen von Maria und Kind sind original. Die sind vom 14. Jahrhundert. Das sind nur die Körper, die dazu geschnitzt sind im 16. Sprecher: Man vermutet, dass das Gnadenbild von Anfang an bekleidet wurde. Die ersten Ornate sind freilich nicht mehr erhalten. Das erste noch erhaltene Kleiderset aus dem Jahr 1627 stammt aus der Zeit der Gegenreformation - eine Schenkung der Isabella Clara Eugenia von Spanien. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts kamen weitere Schenkungen für das Gnadenbild dazu. Die Madonna… O-Ton Monica Vroon: …wird nicht umsonst die reichste Frau Aachens genannt. Sie hat einen Kleiderschrank mit 43 Kleidern drin, mehr wie ich habe (lacht). Sprecher: So gesehen muss aus Bethlehems Stall eine Schatzkammer geworden sein, in der sich teure Kleider und Accessoires gleich haufenweise stapelten: Rosenkränze, Ketten, Kämme, Brillen, Uhren, eine Parfümflasche, ein goldenes Taschenmesser und vieles mehr. Fast alle diese Schätze bleiben natürlich unter Verschluss, wenn Frau Vroon in der Sakristei die Vorbereitungen dafür trifft, um in aller Stille das Ritual des weihnachtlichen Kleiderwechsels im menschenleeren Dom zu zelebrieren. Bis alles zurecht gelegt ist, dauert es natürlich noch eine Weile, und es bleibt genug Zeit, um über den Horizont der Aachener Kirchtürme hinauszublicken und noch ein bisschen tiefer in die Geschichte der Heiligen Röcke einzutauchen. Die Aachener sind stolz auf ihr Gnadenbild. Aber Skulpturenkleider für Jesus, Maria und andere Heilige besaßen und besitzen andere Kirchen oder Klöster auch. Charlotte Klack-Eitzen, Kunsthistorikerin an der Universität Hamburg, hat dafür zahlreiche Belege gefunden, nicht nur in Deutschland. O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Das war überall ganz üblich und ist es noch immer, also auch in Italien, in Spanien, in Belgien gibt es sehr viel bekleidete Skulpturen. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 2 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 Sprecher: Viel hilft viel. Auch in der Religion. Die Kunsthistorikerin kennt Beispiele, bei denen manchen Figuren gleich mehrere Lagen Kleider übereinander angezogen wurden. Was ihr Gewicht in den Augen der zeitgenössischen Betrachter und Gläubigen erhöhte. O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Sie haben eben nicht diesen Blick des Kunsthistorikers, der eben an den geschnitzten Falten und an der aufwendigen Bemalung dieser Skulptur Freude hat, sondern sie wollen einfach nur ihre Verehrung zum Ausdruck bringen, indem sie etwas Kostbares hinzufügen. Was man natürlich auch wieder entfernen kann. Aber es ist erstmal ein Geschenk an diesen Heiligen. Sprecher: In Aachens Domsakristei ist Frau Vroon unterdessen in ihrem Element. O-Ton Monica Vroon: Soll ich Ihnen noch das Älteste zeigen? Das ist das da, schöner silberblauer Stoff, der heutzutage leider etwas grau geworden ist, weil das Silber halt oxydiert ist mit Rosen drauf, die von allen Seiten sichtbar sind und Lilien für Maria, die mit Perlen gestickt sind und sogar emaillierte Fassungen mit kleinen Diamanten. Dieses Kleid trägt sie nur während der Heiligtumsfahrt, die einmal pro sieben Jahre passiert, und dann muss sie das schönste Kleid anziehen. Sprecher Schönheit ist eine Frage des Zeitgeschmacks. Das älteste Skulpturenkleidchen besitzt Aachen freilich nicht. Seit der Zeit der Kreuzzüge explodierte der Kult mit den Heiligenkleidern förmlich. Die älteste Sammlung aus dieser Zeit gehört dem Kloster Wienhausen bei Celle. Fast zwanzig Kleidchen vor allem für das Jesuskind besitzt man dort. Grademal handtellergroß sind die kleinsten. Die Geschichte der verwendeten Stoffe lässt sich über Italien bis nach China nachverfolgen. Wienhausen zählt zu jenen norddeutschen Frauen-Klöstern, die nach der Reformation nicht säkularisiert, sondern mit einer protestantischen Äbtissin an der Spitze als Damenstifte weiter geführt wurden und bis heute bestehen. Der Boom der Heiligen Röcke hing insbesondere zusammen mit der Eroberung Konstantinopels 1204 durch venezianische und fränkische Kreuzfahrer, die dort für ein halbes Jahrhundert ein lateinisches Kaiserreich installierten. Damit begann eine Epoche eines höchst lebendigen Kulturaustauschs zwischen Ost und West. Der Westen übernahm Elemente der „maniera graeca“, der religiösen Kunst der Byzantiner. Die erste Welle des Kleiderbooms, so der Leipziger Kunsthistoriker Johannes Tripps, erreichte Italien, insbesondere die Toskana. O-Ton Johannes Tripps: Man sieht diese Ikonen, die verhüllt werden, sich selbst enthüllen, und das folgt dann auch bei wundertätigen Bildern beispielsweise in Florenz, dass man die verhüllt. Die Florentiner haben mehrere Marienbilder, die einmal gegen Dürre helfen, das nächste Mal gegen Krankheit, also riesig verehrt werden, und die verhüllt und enthüllt man dann auch dementsprechend. Und da ist Byzanz…, ganz offensichtlich hat das einen Rieseneinfluss, und der Einfluss bleibt. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 3 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 Sprecher: Die Begegnung mit dem Heiligen ist faszinierend und erschreckend zugleich. Das Spiel von Verschleiern und Enthüllen durchzieht die Geschichte zahlloser Religionen. Dahinter steckt der Versuch des Menschen, die Präsenz des Übermächtigen je nachdem zu nutzen oder zu bannen. Heilige Statuen von Göttern oder Gottkaisern zu kleiden, zu parfümieren, zu speisen, zu betten, zu waschen und wie lebendige und handelnde Wesen durch Städte und Provinzen zu tragen, alles das existierte längst vor dem Entstehen des Christentums. Aber nachdem das Christentum im 4. Jahrhundert zur römischen Staatsreligion wurde, wurde der antike Brauch auch auf Christus, den Weltenbeherrscher, übertragen. Wienhausen, eine Gründung des Hochadels und Aachen als mittelalterlicher Krönungsort bestätigen dies. O-Ton Monica Vroon: Die Krone, Zepter und so weiter, da behält sie dasjenige, was sie jetzt anhat. Perlenketten, ein Rosenkranz für Maria und ein Rosenkranz für das Kind und noch ein Kreuz dazu für Maria. Sprecher: Im Osten, im christlich-orthodoxen Byzanz, blieb es bei der starren Ikonenmalerei. Aber im Westen wartete auf die heiligen Bildwerke eine strahlende Zukunft. Sie wurden bewegt und dreidimensional. Das Bekleiden von heiligen Skulpturen gehörte zur Dramatik eines neu entstandenen geistlichen Spiels. Dabei handelte es sich um eine Art kirchliches Welttheater, mit dem die leseunkundigen Laien durch die Ereignisse des Kirchenjahres geführt wurden. O-Ton Johannes Tripps: Es ist vor allem, weil die Städte an Macht und Reichtum grade im 13. und 14. Jahrhundert enorm neben den weltlichen und den kirchlichen Adel als Auftraggeber treten, dass eben auch die Städte grade Heiligengeschichte, heilige Geschichte enorm inszenieren in ihren Kirchengebäuden, wo wir mehrere Ringe im Gewölbe haben und eben wissen, dass ein Ring dazu diente, an Mariä Himmelfahrt die Mutter Gottes ins Gewölbe hochzuziehen, also Mariä Himmelfahrt nachzuspielen, im nächsten Christi Himmelfahrt, und im Chor hat man dann an Pfingsten die Heiliggeisttaube fliegen lassen und hat brennende Wergbällchen, also gezupften groben Flachs, nachgeworfen, um diese Feuerzungen zu symbolisieren, die über Apostel und die Maria kamen. Das heißt, die Kirche, das Kirchengebäude wird immer mehr zu einer Art Erlebnisraum, wo man die einzelnen Stadien des Kirchenjahres und der Kirchenfeste tatsächlich inszenieren kann und daran teilnehmen. Sprecher: Im Aachener Dom hat die Konservatorin unterdessen damit begonnen, dem Gnadenbild erst einmal die werktäglichen Kleider abzunehmen. O-Ton Monica Vroon: So jetzt fangen wir an mit der Krone, die den Schleier festhält. Wenn ich noch eine Hand übrig habe, nehme ich schon einmal ein Zepter mit und dann klettert man wieder runter. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 4 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 Sprecher: Die erstmals von Franz von Assisi inszenierten Krippenspiele sind Teil der Dramatisierung des Religiösen. Die einfachen Gläubigen empfanden solche Spiele als großen Gewinn. Gott war in Christus ein Gott zum Anfassen und sehr menschlich geworden. Auf der anderen Seite standen die Gebildeten, Kleriker und Mönche, die lateinisch sprachen und sich zumeist in den abstrakten Diskursen der Scholastik verloren. Das geistliche Spiel spiegelte auch eine innere Spaltung der Kirche wieder, die zwischen Priestertum und Laienreligiosität entstanden war. Wie auch immer. Dem populären Kult um das Jesuskind war damit Tür und Tor geöffnet. Er blühte nicht nur in der Toskana auf, sondern bald auch im Rheinland und in Flandern. O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Das wurde überall gemacht. Aber bekannt sind eben die Jesuskinder aus Mechelen, die in großer Zahl noch erhalten sind. Sie sind alle unter sich recht ähnlich. Sie haben so eine porzellanmäßige Bemalung, ganz hell rosa, sehr fein, immer so leicht geschlitzte Augen, goldene Haare und so ein verschmitztes Lächeln auf dem Gesicht (lacht), und sie stehen auf so kleinen Sockeln, stehen frei und haben die Arme irgendwie mit einer kleinen goldenen Kugel und einem Segensgestus nach vorne gestreckt und eignen sich deshalb besonders gut zum Bekleiden. Sprecher: Jesuskind-Puppen wurden bekleidet oder unbekleidet verkauft. Für die so genannten Bambini musste viel Geld investiert werden. Zu den Abnehmern gehörte nicht nur der Adel, sondern auch reiche Stadtbürger. In solchen Familien war es üblich geworden, den ledigen Mädchen bei der Verheiratung eine Jesuskindfigur zu schenken, möglicherweise auch als Talisman für die erhoffte Geburt eigener Kinder. O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Man weiß auch, dass solche Jesuskinder den Nonnen geschenkt wurden in dem Moment, als sie ins Kloster eintraten. Und einerseits wurden sie dann so als Trösterlein bezeichnet, eben um den Abschied zu erleichtern, aber andererseits eben auch sicherlich als Andachtsbild für sie persönlich. Und es wird dann auch beschrieben, dass sie dann schon bekleidet waren. Also ein Ratsherr aus Köln hat geschrieben, dass seine Tochter ein Jesuskind bekam: „Es gab keinen schöneren im Kloster mit einem samtenen Rock und einer Reliquie vom Blut Jesu hatte er umhängen“, ja. Sprecher: Die mittelalterliche Mystik trieb die Idee von der Nonne als Braut Christi auf die Spitze. Der Eintritt ins Kloster wurde ins Bild gesetzt wie eine reguläre Hochzeit, nur dass die vom Brautvater ins Kloster geführte Frau kein leibhaftiger Mann, sondern ein kleiner Jesus erwartete. Auch im Kloster waren die Puppen Teil der Aussteuer, die die Frauen bei der Hochzeit erhielten. Die Jesuskinder besaßen Kleider, Wiegen und zunehmend auch maßstabsgerechte Tischchen, Stühlchen, Bestecke oder Badezuber. Buchdrucker legten erste Ratgeberbücher auf, wie man dem Jesuskind ein warmes „Bädlin“ richtet, es stillt und vor Ungeziefer schützt oder ihm einen Brei kocht. Frau Vroon im Aachener Dom hat mittlerweile das Gnadenbild von Kronen, Zeptern und dem Reichsapfel des Jesuskindes befreit. Ein wichtiger Schritt ist das. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 5 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 O-Ton Monica Vroon: Jetzt kann man erst das Kleidchen vom Christkind wegnehmen. Das Lätzchen wird jetzt über die Händchen vom Jesuskind gehoben, und dann kann man das Kleid Mariens auch abnehmen. Jetzt wird als Erstes über die rechte Hand, die etwas einfacher ist, gestülpt, und jetzt durch den anderen Schlitz muss man die linke Hand und das Jesuskind heben. Sprecher: Als die Bambini Europa eroberten, befand sich die Minne, das ritterliche Werben um die angebetete Herzensdame, auf dem Höhepunkt. Der Zeitgeist ging auch am bürgerlichen oder klösterlichen Spiel mit dem Jesuskind nicht vorbei und umhüllte ihn mit einem Hauch vor der Umwelt kaum verborgener Erotik. O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Grade in Nonnenklöstern gibt es Quellen, die eben zeigen, dass die Nonnen ein sehr intimes Verhältnis zu diesen Figuren entwickelt haben. Es gab Wiegen, in diese Wiegen konnten diese Figuren hinein gelegt werden. Sie wurden gewickelt, sie wurden bekleidet. Die Nonne berichtet darüber, dass das Kind nicht in seiner Wiege bleiben wollte, sondern lieber zu ihr ins Bett möchte und dass sie ihm dann auch nachgegeben hat und was für ein wunderbares Erlebnis es gewesen sei, mit Jesus zusammen zu schlafen sozusagen (lacht). Das ist sicher auch so gewesen, aber ich denke nicht in dem Maße, wie wir das vielleicht denken. Aber die Männer der damaligen Zeit haben das natürlich sehr stark wahrgenommen und haben das auch mit großem Misstrauen betrachtet. Sprecher: Das Wechselspiel zwischen Bekleiden und Entschleiern des nackten Jesuskindes brachte Spannung in die Dramaturgie des geistlichen Spiels. Noch mehr machte sie theologisch Sinn. Das Nackte verhieß nicht nur absolute Reinheit. Der Anfang mit dem unbekleideten Kind in der Krippe galt zudem als Vorgriff auf das Ende am Kreuz. Die Geburt des kleinen Jesus lieferte bereits en miniature die ganze christliche Erzählung von der Erlösung der Menschheit. Um die Motive von Geburt und Tod zusammen zu bringen, waren die Mittelalter-Theologen gelegentlich sehr großzügig und zeigten sich davon überzeugt, dass Jesus splitterfasernackt am Kreuz hing. Keine Rede war da mehr von den römischen Soldaten, die, wie in der Bibel belegt, um sein Gewand würfelten. Beispiel: Die „Fragen an Maria“, ein im späten Mittelalter populäres Passionstraktat in Dialogform, das dem Theologen Anselm von Canterbury zugeschrieben wurde. Johannes Tripps: O-Ton Johannes Tripps: Dass man ein Kruzifix nackt ans Kreuz schlägt, das haben wir schon im Anselm-Dialog, wo die Mutter Gottes dem Anselm dialogisch erzählt, also einem Kleriker, was bei der Passion alles passiert wäre, und da ist eine Stelle drin, die gibt’s in der Bibel gar nicht, dass man Christus nackt ans Kreuz geschlagen hätte, um ihn zu demütigen, zu erniedrigen. Und um diese Schmach zu tilgen, nimmt die Mutter Gottes ihren Schleier, bittet einen Soldaten oder die Heilige Maria Magdalena dem nackten Christus den Schleier um die Hüften zu binden. Bei den Spielen ist es so, wenn wir eben so etwas im liturgischen Spiel haben, im Heiligen Spiel, dann bittet Maria am Schluss, man möge ihr den blutigen Schleier zurück geben, da noch viele Menschen durch das Blut Christi erlöst würden. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 6 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 Sprecher: Heilige Röcke und Stoffe besitzen die Magie von Reliquien. Nicht ganz zufällig fügt sich das Aachener Gnadenbild ein in die Verehrung weiterer bedeutender textiler Reliquien, die im Domschatz aufbewahrt werden. Dazu gehören die Windeln oder das Lendentuch Jesu. Zusammen mit dem Gnadenbild werden sie alle sieben Jahre bei der Heiligtumsfahrt gezeigt. O-Ton Monica Vroon: 1003, 2:40: Eigentlich kann man die Kleider sehen als Lätzchen mit zwei Schlitzen drin. Jetzt, wenn ich das anziehen muss, muss ich den einen Schlitz über das Christkind und den Arm der Maria stülpen und den anderen Schlitz über den anderen Arm und hinten mit einem Schleifchen zumachen. Sprecher: Vorzubindende Kleidchen nennen die Restauratoren diese Stücke. Man könnte sie auch mit einem Flügelhemd aus dem Krankenhaus-OP vergleichen. Fast alle folgen demselben Schnittmuster, während Stoffe und Applikationen oft Anklänge an die zeitgenössischen Moden aufzeigen. Zur Zeit Kolumbus’ und der Entdeckungen etwa zeigten sich die Jesuskinder gerne auch im PapageienFederschmuck. Sie sahen aus wie Papageno. In anderen Fällen versuchte man mit einem hochflexiblen Rundstrickverfahren die Blöße des zum Erwachsenen werdenden Jesuskindes vor den Augen der Gläubigen zu verbergen. Charlotte Klack-Eitzen über eine dehnbare Jesus-Strampelhose: O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Eine besonders schöne Geschichte, finde ich, ist ja das Kleid, das er ohne Naht getragen hat und um das die Soldaten würfeln während der Kreuzigung. Das sieht man ja ganz oft auf den Altarbildern. Und in Hamburg gibt es auf einem einzigen Altar eine Maria, die ein Kleid mit vier Stricknadeln strickt, ein Kleid, das er als Kind schon hätte anziehen können, das mit ihm mitwächst, weil die Strickmaschen ja flexibel sind. Und sie trägt also durch ihre Strickerei zu seiner Passionsgeschichte bei, könnte man sagen. Und das ist eben auch das Selbstverständnis der Nonnen im Umgang mit dem Jesuskind, dass sie eben auch dazu bei tragen zu diesem Erlösungswerk. O-Ton Monica Vroon: Jetzt kommt das Kleidchen für Jesus. Ist natürlich etwas größer. Das kommt bis über seine Füße. Ein Festkleidchen. Die Schleifen kommen nach hinten. Jetzt muss der Schmuck noch dazu erstmal, da muss man die Hände frei halten, sonst geht das schlecht. Sprecher: Unter dem Mantel des religiösen Brauchtums blühte die religiöse Phantasie. Für den Festtag der Beschneidung Jesu am 1. Januar - das Zweite Vatikanum hat es aus dem weihnächtlichen Kalender gestrichen - hielt man besondere Jesus-Kleider bereit. Sie besaßen einen Schlitz, der es erlaubte das Beschneidungsritual nachzuspielen als den ersten Moment, wo Jesus sein Blut vergossen hat. Den plastisch ausgebildeten Penis nennen die Quellen diskreterweise Zäserlin, ein Wort, womit man früher den Blütenstängel einer Pflanze bezeichnete. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 7 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 O-Ton Johannes Tripps: Wir haben da vor allem die Kritik des Predigers am Straßburger Münster, Geiler von Kaysersberg 1517, wo er eben klagt, dass jedes Christkind ein Zäserlin haben muss. Darauf würden die Nonnen achten, und wenn das Christkind das nicht habe, würde man’s zurück weisen. Das Kind muss dieses Geschlechtsteil besitzen, dass wenn man vorne das Mäntelchen eben öffnet zu der Beschneidungsandacht, dass man die Sache dann auch sieht. Sprecher: Erst das Konzil von Trient hat in der Mitte des 16. Jahrhunderts die Bambini in geschlechtslosen Wesen verwandelt und neutralisiert. Immer wieder auch berichten die Quellen davon, dass die geistlichen Spiele „ausarteten“. Schon die katholische Klosterreform im Spätmittelalter versuchte gegenzusteuern. Luther, der Reformator, war kein Bilderstürmer. Aber er sah das Jesus-Puppenspiel kritisch und akzeptierte es lediglich, wenn es dem Glauben diente. Nur das Einsammeln von Spenden, das Crowdfunding mit mechanischen Jesusfiguren, lehnte er als plumpen Priestertrug rundherum ab. O-Ton Johannes Tripps: Wir haben ja eine berühmte Quelle aus Luthers Tischreden, dass der Kurfürst von Sachsen im Bauernkrieg ein Bild bekommen habe, ein Marienbild, da könne sich das Christkind dem Frommen zuwenden oder von ihm abwenden, je nachdem wie viel er der Kirche gestiftet habe, und das Ganze würde mit Hilfe von Seilzügen, Schnüren, Drähten gemacht, und das sei Vexiererei, also man habe den, der gestiftet hat, getäuscht. Denn habe er viel gegeben, habe sich das Christkind ihm zugewendet und ihn gesegnet, habe er wenig gegeben, habe sich das Christkind abgewendet. Die Frage ist nur, ob’s die Laien nicht wirklich gesehen haben, ob das ganze nicht in Heiliges Spiel fällt. Das heißt, der Laie war in einer Kirche des 15. Jahrhunderts mit mechanischem Spielwerk bestens vertraut, und ich glaube deshalb eben, dass Luther eher reformatorische Propaganda ist und dass die Leute das sehr wohl als Heiliges Spiel erkannt haben, wenn eine Figur sich da bewegt hat. Sprecher: In Aachen ist Frau Vroon fast fertig. Das Jesuskind braucht noch einen Rosenkranz um die Hand und Maria ihre Ketten. O-Ton Monica Vroon: Der ganze Schmuckkasten und jetzt dazu. Das Jesuskind kriegt das etwas um die Hand gebunden, damit das nicht zu lang herunterhängt. So. Jetzt kriegt Maria etliche Perlenketten an. Das ist ein Festtag morgen, Maria darf schön sein. Sprecher: Was ist mit den Heiligen Jesus-Röckchen nach der Reformation geschehen? Noch einmal lohnt der Seitenblick nach Wienhausen. O-Ton Charlotte Klack-Eitzen: Dann kam die lutherische Reformation, und die Nonnen wollten aber nicht evangelisch werden. Sie haben sich auch sehr lange dagegen gewehrt. Es ist ziemlicher Druck auf sie ausgeübt worden, also man hat auch Teile des Klosters dann abgerissen, um sie unter Druck © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 8 Nackt in der Krippe? Kleider für Jesus Von Hans Volkmar Findeisen Lebenszeichen 25.12.16 zu setzen. Und dann sind sie zwar evangelisch geworden, aber sie haben trotzdem weiterhin ihre Kleider benutzt für die Skulpturen. Sprecher: Erst das Zeitalter der Aufklärung verdammte das „Dockenwerk“, das geistliche Spiel mit den Jesuspuppen, als primitiven Mummenschanz. Das Todesurteil galt sowohl für die evangelische wie auch für die katholische Seite. Und nur in einigen wenigen Ausnahmefällen haben die Bekleidungsrituale hierzulande überlebt, zumeist in den Nonnenklöstern Bayerns, aber eben auch in Aachen, wo die Domkonservatorin ein letztes Mal von der Leiter steigt, um ihr Werk zu betrachten. O-Ton Monica Vroon: Da muss man also immer noch mal nach unten gehen und gucken, ob das so steht und nicht schief. Jetzt kriegt das Christkind sein Zepter und seinen Reichsapfel und die Krone wieder mit dem schönen Stein nach vorne. Früher saß die Krone etwas tiefer. Aber dann hatte er ein unglückliches Gesicht, ein launisches Gesicht. Das wollen wir nicht haben. Und Maria kriegt ihr Zepter, und ich meine, dass es dann in Ordnung ist. Jetzt gehen wir mal von der Treppe runter und dann gucken wir, wie es aussieht. Sprecher Frau Vroon ist zufrieden. Und sie ist sicher, dass nun auch das Jesuskind ziemlich zufrieden ist. © Westdeutscher Rundfunk Köln 2016 Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden. 9
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