Lebenszeichen

Der schwierige Weg zur Polizei
Missbrauchsverdacht in der eigenen Familie
Lebenszeichen
Von Christiane Schütze
08.05.2016
Zitatorin:
10. Februar. Mache mir Sorgen um Nelly. Ihre Wutanfälle werden schlimmer. Oft traut sie
sich nichts mehr zu. Sie will nur noch Süßigkeiten essen, und das bei ihrer Allergie. Bernd
meint, ich übertreibe. Will deshalb anfangen, Notizen zu machen.
Sprecher:
Als Hanna B. diese Sätze schreibt, ist ihre Enkelin Nelly vier Jahre alt. Schon seit geraumer
Zeit beobachtet sie beunruhigt, wie sich das Kind verändert.
Nach den Skandalen in kirchlichen und schulischen Einrichtungen ist der sexuelle
Missbrauch von Kindern ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Ein Expertenkreis hat im
Auftrag der Bundesregierung Richtlinien und Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor allem
in Institutionen erarbeitet. Behörden wie Polizei und Jugendämter haben längst Fachleute
geschult und Handlungskataloge entwickelt, um vorzubeugen und um den Kinderschutz in
den Familien zu verbessern. Denn hier werden Kinder nach wie vor besonders häufig
missbraucht. Und hier ist das Vorgehen gegen Täter besonders schwierig. Doch was, wenn
ein Tatverdächtiger zur eigenen Familie gehört? Aus Hannas Tagebuch:
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder vervielfältigt, verbreitet noch
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Der schwierige Weg zur Polizei
Missbrauchsverdacht in der eigenen Familie
Lebenszeichen
Von Christiane Schütze
08.05.2016
Zitatorin:
12. Februar: Sonntag: Nelly hat ihr Kuchenstück auf den Boden geworfen und zertrampelt,
weil sie plötzlich statt Kuchen ein Eis wollte. Maike hat geschimpft, aber Jens hat ihr Eis
versprochen - beide haben sich verschwörerisch angeschaut.
Bernd hält Jens immer noch für einen tollen Vater. Ich mag ihn ja auch. Und Nelly hängt an
ihm. Er hat viele Einfälle, erzählt Geschichten und kann Quatsch machen, bis ihr vor Lachen
der Bauch wehtut.
Was mich dennoch stört ist, dass er gern über kindliche Entwicklungsphasen doziert und
darüber, was andere falsch machen, aber bei Nelly nicht nach den Ursachen fragt: wenn sie
solche Wutanfälle hat, sich wegen ihrer Neurodermitis die Arme blutig kratzt oder wieder ins
Bett macht. „Wir stehen in der zweiten Reihe“, sagt Bernd, wenn ich mich aufrege.
Spannungen zwischen Schwiegersohn und Schwiegermutter eben. Ich versuch’s zu
akzeptieren.
Sprecher:
Wenn die Kinder noch klein sind, ist es selbst für Fachleute schwer herauszufinden, ob bei
Verhaltensauffälligkeiten sexueller Missbrauch die Ursache sein könnte. Es gibt keine
eindeutigen Symptome und höchst selten körperliche Anzeichen. Barbara Kiefl, Leiterin der
Abteilung Jugend und Familie beim Stuttgarter Jugendamt:
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
O-Ton Barbara Kiefl:
Also die Auffälligkeiten können ganz, ganz vielfältig sein. Natürlich zuerst denkt man
an sexualisiertes Verhalten, aber es können auch ganz andere Symptome sein.
Bauch-Kopfschmerzen, dass sich ein Kind zurückzieht, dass es nicht ansprechbar ist,
dass es sich auf den Boden wirft und masturbiert, also die Bandbreite ist sehr groß.
Und das Schwierige ist, dass es vom Alter her meist gar nicht benennen kann, was da
möglicherweise passiert ist.
Zitatorin:
09. April. Montag. Nellys Kindergärtnerin hat mich zum Gespräch gebeten. Mit ihren Eltern
sei nicht zu reden. Vor allem ihr Vater Jens verharmlose die Probleme seiner Tochter mit
vielen Argumenten. In der KITA auch? War ganz verdattert. Als Frau M. sagte, was sie
beunruhigt, glaubte ich, der Boden tut sich auf. Unsere Nelly schlägt andere Kinder und
zerstört Spielsachen. Kürzlich haben sich die Kinder begeistert verkleidet.
Nelly jedoch hat ihr Kostüm zerrissen und war bockig. Dann wieder sei sie ganz apathisch,
kratze sich wie in Trance die Arme auf. Man könne sie kaum aus ihrem Loch holen. Frau M.
sagte, es bricht ihr das Herz, meine aufgeweckte Enkelin so verändert zu erleben. Oft wolle
sie nicht nach Hause, als habe sie Angst. Ob ich wüsste, was daheim los sei?
10. April. Dienstag, Nellytag. Wie betäubt Nelly von der KITA abgeholt. Konnte es noch
nicht mal Bernd sagen. Die Kleine war wieder so anstrengend. Sehe jetzt noch mehr ihre
Not. Sie spielt kaum mehr. Alle naselang muss es was anderes sein. Rannte wie getrieben
durchs Haus, wollte Möbel bemalen, warf Maikes alte Puppen durchs Wohnzimmer und
brüllte „ich hasse euch“. Als ich sie bat, die Puppen wieder aufzuheben, rief sie: „Ich höre
nur auf Papa.“ Und wenn Mama was sagt? Da hat sie sich die Ohren zugehalten. Als ich
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Der schwierige Weg zur Polizei
Missbrauchsverdacht in der eigenen Familie
Lebenszeichen
Von Christiane Schütze
08.05.2016
Nelly heim brachte, rannte sie an ihrer Mutter vorbei zum Vater. Jens hob sie hoch, küsste
sie viel zu intim, wie ich schon lange finde, flüsterte ihr was ins Ohr und Nelly bekam wieder
diesen Verschwörerblick. Was hat er geflüstert? - Oder ist Maike das Problem und bin bei
meiner Tochter betriebsblind?
Sprecher:
Bei einer Verdachtsmeldung arbeiten Jugendämter im multiprofessionellen Expertenteam,
oft begleitet von einem Hilfeprozessmanager, um bei der belastenden Thematik nicht den
Überblick zu verlieren.
Je nach individueller Sachlage beraten sie ihr Vorgehen zum Schutz des Kindes, sammeln
Hinweise und dokumentieren sie in speziell entwickelten Kinderschutzbögen. Barbara Kiefl:
O-Ton Barbara Kiefl:
Wenn ein Kind im Kindergarten ist und fünf Tage die Woche einfach auch von den
Erzieherinnen wahrgenommen wird, darüber kann man sehr viele Informationen
erhalten. Also die können dann auch noch mal eher sagen, Krankheitsanfälligkeit,
häufige Infektionen, wie sieht das U-Heft aus, wie ist das körperliche Wachstum, gibt
es eine Fehl-, Über-oder Unterernährung, Hämatome, möglichweise auffällige
Rötungen, Entzündungen im Anal-und Genitalbereich, wie ist die Kleidung, ist sie
altersentsprechend oder ist es so, dass ein Kind geschminkt wird und dann
Glitzerkleider anhat, obwohl es total kalt draußen ist, dünnes Höschen, eben solche
Dinge, Kind wirkt unruhig, schreit viel, ist apathisch, sehr zurückgezogen, sehr
aggressiv, selbstverletzend, es gibt Schlafstörungen, Fütterstörungen, da geht es
auch um kleinere, usw., und das hilft uns, zu einer Einschätzung zu kommen.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
Zitatorin:
12. April. Bernd ist jetzt auch beunruhigt, aber will sich nicht noch mehr in die Familie
unserer Tochter einmischen. Egal. Muss was tun.
Hab Fachliteratur besorgt, lese und lese. Man soll seiner Wahrnehmung trauen, ruhig
bleiben und sich nicht zu schnell auf eine Ursache festlegen. Vernachlässigung, häusliche
Gewalt, Stress - oder sexueller Missbrauch. Schlafe kaum noch.
Sprecher:
Sexueller Kindesmissbrauch ist eine Straftat nach Paragraph 176 und 176 a des
Strafgesetzbuches. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen dem einfachen und dem
schweren sexuellen Kindesmissbrauch. Im ersten Fall reicht es bereits, dem Kind
pornografische Darstellungen zu zeigen. Der schwere Missbrauch trifft meist
auf
Wiederholungstäter zu oder wenn mit dem Kind der Beischlaf in welcher Form auch immer
ausgeübt wurde. Beide Taten sind so genannte Offizialdelikte. Kriminalhauptkommissarin
Guenola Warneke arbeitet im Dezernat für Sexualdelikte:
O-Ton Guenola Warneke:
Wenn ein Anfangsverdacht, so heißt es, besteht, dann müssen wir ermitteln. Auch
anonyme
Hinweise
können
einen
Anfangsverdacht
beinhalten.
Bei
Missbrauchshandlungen, die innerhalb der Familie stattfinden, gehen Anzeigen auch
auf unterschiedlichen Wegen bei uns ein, das können nahe Angehörige sein, denen
sich das Kind anvertraut hat, häufig die Mutter. Es können aber genauso gut Lehrer,
Vertrauenslehrer oder Erzieher sein, denen sich ein Kind gegenüber geöffnet hat.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
Es kommt natürlich auch vor, dass die Opfer, die Geschädigten also, selber Anzeige
erstatten, oft aber auch erst viele Jahre später natürlich, wenn sie selbst aus dem
Kreis der Familie schon draußen sind.
Zitatorin:
21. April. Bernd und ich entdecken immer mehr, was uns stutzig macht. Kurz nach ihrem 4.
Geburtstag hat Nelly das heißersehnte Lillifee-Kleid
zerschnitten – wie das Kostüm im
Kindergarten. Hilfeschreie? „Ich tauge nichts“, ist ihr neuester Spruch.
Sie malt oft schwarze Gebilde und zerknüllt dann die Bilder. Rennt uns nach, wenn wir ins
Bad oder zur Toilette gehen und tobt, weil wir zuschließen. Ist das bei ihr zuhause nicht
üblich?
Dass der Papa gern mit ihr badet, sagt sie oft, da finde ich nichts dabei. Mich irritiert nur,
warum sie nicht sagt: Ich bade gern mit Papa. Als wäre sie ihrer Identität beraubt. Was
macht Nelly von sich aus noch gern? Uns fällt das Verfolgungsspiel ein, das Jens erfunden
hat: Sie ist das Häschen und Papa, der Fuchs, jagt es. Nelly ist ein „Papa-Kind“ und der liebt
sie abgöttisch, sagt Bernd. Er halte den Verdacht nicht aus. Ich auch nicht, aber denke: Er
okkupiert sie.
O-Ton Barbara Kiefl:
Wenn eine Großmutter sich große Sorgen macht, dann nehmen wir das ganz, ganz
ernst. Nehmen wir mal an, die würde bei uns anrufen, dann würden wir mit ihr kurz
reden, indem wir abklären, ob es ihr möglich ist, zu uns zu kommen.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
Es spricht sich einfacher zu diesem Thema, wenn man sich gegenübersitzt, und mit
ihr nochmal ganz genau durchgehen, wann sie was und wie beobachtet hat oder ob
sie Informationen von Dritten bekommen hat, die sie da so beunruhigt haben, so dass
wir einen Einblick bekommen, was da diese Sorge ausgelöst hat.
Sprecher:
Barabara Kiefl vom Jugendamt.
Zitatorin:
24. April. Dienstag. Nellytag. Wollte ihr das Bilderbuch vom kleinen Zauberer vorlesen.
Maike hat‘s geliebt, weil es so lustig ist. Nelly aber war starr vor Angst und kaum zu
beruhigen. „ Zauberer machen tot“, hat sie geflüstert. Wen? Sie reagierte nicht. Wie machen
die das? „Die kriechen durch die Wand.“ Wo denn? „Immer. Und wenn‘s dunkel ist“. Auch
im Kinderzimmer? „Und wenn ich Pipi muss.“ Wer beschützt dich? „Mein Papi. Aber die
Zauberer kommen trotzdem“. Und deine Mami? „Die macht es sich im Schlafzimmer
gemütlich und braucht ihre Ruhe.“
27. April. Hab den Sonntagskaffee mit unsern Kindern abgesagt. Schaffe das gerade nicht.
Musste unter einem Vorwand Maike erst Mal allein sprechen. Sie macht auch keinen guten
Eindruck, schon lange nicht mehr, aber wenn ich nachhake, blockt sie ab. Hab versucht
harmlos zu fragen, wer bei Nelly schläft, wenn sie Angst hat. Maike hat mich sofort
durchschaut. Natürlich sie oder Jens, weil die Kleine endlich lernen müsse, nicht mehr ins
Elternbett zu kommen. Ob ich im Alter zur Feministin werde, für die alle Männer
triebgesteuerte Monster sind?
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
Auch Bernd nervt unsere kriminalistische Spurensuche, die uns nur durcheinander bringen
und womöglich einen Unschuldigen belasten würde. Damit wir wieder das Positive sehen,
hat er das alte Video von Maikes Hochzeit rausgekramt.
Wie froh wir damals über unseren Schwiegersohn waren und erleichtert, weil Maike endlich
ihr vergangenes Liebesleid hinter sich ließ. Wie sie vor Lachen kaum ‚ja‘ sagen konnte, weil
Jens es nicht schaffte, ihr den Ring anzustecken.
O-Ton Guenola Warneke:
Da in unseren Taten ja nur häufig zwei dabei waren, der Täter und das Opfer, ist es
natürlich nicht so ungewöhnlich, dass der eine sagt, es war so und der andere sagt,
es war anders.
Das heißt aber nicht, wie man so landläufig immer hört, da steht Aussage gegen
Aussage, da kommt da nichts dabei heraus, sondern das Gericht hat durchaus
Möglichkeiten, sich auch einen Eindruck davon zu verschaffen oder sich zu
überzeugen, welche Aussage denn eher der Wahrheit entspricht.
Sprecher:
Sagt Kriminalhauptkommissarin Guenola Warneke über die Besonderheiten eines solchen
Ermittlungsverfahrens. Sie weist darauf hin, wie wichtig es für die Beamten ist, das Kind so
bald wie möglich zu befragen, damit es möglichst unbeeinflusst erzählen kann, was passiert
ist.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
O-Ton Guenola Warneke:
Wenn der Täter das abstreitet, sagt er ja, das Kind erzählt eine Lügengeschichte,
dann gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, ein so genanntes GlaubhaftigkeitsGutachten zu beantragen, das läuft dann auch über die Staatsanwaltschaft und das
Gericht. Dann setzt sich eben ein Psychologe, ein Gutachter mit dem Kind zusammen
und er ist speziell dafür geschult, um herauszufinden, ob die Aussage auf wirklich
Erlebtem basiert von einem Kind oder nicht. Das kommt bei Kindern durchaus
häufiger vor, dass diese Gutachten in Auftrag gegeben werden, auch unter anderem
deshalb:
Wenn häufiger darüber gesprochen wurde, verändern sich die Aussagen und dann ist
es auch für uns nicht unbedingt möglich festzustellen, was denn ursprünglich war.
Zitatorin:
10. Mai.
Behellige Bernd nicht mehr. Doch in mir kreist es. Hab Angst, dass an dem
Verdacht was dran ist und ein wahnsinns-schlechtes Gewissen, weil ich ihn nicht mehr
loskriege. Komm kaum noch raus, will niemanden sehen. Eine gute Freundin hat was
gemerkt und nicht locker gelassen. Hab die Fassung verloren. Sie meint, ich soll zum
Jugendamt oder gleich zur Polizei gehen. Mir ist jetzt noch übel. Was hätte ich denn in der
Hand? Komische Gefühle? Böse Zauberer?
15. Mai. Bericht über Kinderpornos im Internet gelesen – warum hab ich nicht schon längst
an die Fotos gedacht? Jens hat sie uns mal gezeigt. Mir waren sie so unangenehm, aber
hab mich von ihm blenden lassen. ‚Das größte für einen Hobbyfotografen ist eine fotogene
Tochter, ‘ hat er gesagt und die künstlerische Qualität der Bilder betont.
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08.05.2016
Nelly beim Wickeln, Baden, auf dem Töpfchen, wie sie ihren Popo wäscht und später in
Produzier-Posen wie ein Model. Auf wenigen Fotos ist Nelly ganz nackt, meist hat sie ein
Hemdchen an, aber kein Höschen.
Sprecher:
Kriminalhauptkommissarin Guenola Warneke:
O-Ton Guenola Warneke:
Wenn jemand Bilder gesehen hat, auf denen das Kind auffällig nackt posiert oder der
Fokus auf die Geschlechtsteile gerichtet ist, das wären ja Fälle, in denen das Kind
nichts gesagt hat, aber eben jemand aus dem Bereich eine Wahrnehmung gemacht
hat, da gibt es durchaus Anhaltspunkte, dass wir da Ermittlungen aufnehmen können.
Zitatorin:
22. Mai. Nellys Verhalten unverändert. Überlege, ob ich doch zum Jugendamt soll.
Riesenkrach darüber mit Bernd. Er regte sich auf, weil wir unsere Probleme allein lösen
können und wollte mit Jens sprechen. Dachte, ich höre nicht richtig. Ein Gespräch unter
Männern und alles wird gut?
Bernd ließ nicht locker, weil er irgendwo was über
Konfrontation gelesen hat. Hab ihm gedroht auszuziehen, wenn er Jens auch nur was
andeutet. Mache ich jetzt noch meine Ehe kaputt?
25. Mai. Was habe ich falsch gemacht, dass sich Maike mir nicht anvertraut? Warum ist sie
gerade an Jens geraten? Gab auch mal bei uns eine Phase, wo Maike mehr Papakind war.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
Hat Bernd…? Hab ich nichts gemerkt, so wie Maike jetzt nichts merkt? Oder hängt sie mit
drin? Scheiß-Schuldgefühle. Familienbande…
Sprecher:
Polizeihauptkommissarin Guenola Warneke:
O-Ton Guenola Warneke:
Die Ermittlungsschwierigkeiten oder sich sag mal die Besonderheiten in unserem
Deliktsbereich, rühren ja unter anderem daher, dass ganz häufig Täter und Opfer in
einer ganz engen Beziehung stehen. Und das führt unter anderem dazu, dass die
Opfer häufig zeugnisverweigerungsberechtigte Personen sind. Das heißt, sie müssen
rechtlich keine Angaben machen, weil man eben sagt, dass der Friede innerhalb der
Familie höher gestellt ist, als die Strafverfolgungspflicht des Staates.
Zitatorin:
27. Mai. Hab‘s nicht ausgehalten und mit Bernd geredet. Eine andere Idee: Maike und Nelly
machen eine Therapie. Bernd war auch wieder ruhiger und meinte, dass er nicht weiß, zu
was er fähig ist, wenn sich Jens wirklich an Nelly vergreift.
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08.05.2016
Sprecher:
Während die Polizei bei einem Tatverdacht ermitteln muss, sind etwa Beratungsstellen und
Jugendämter nicht zur Anzeige verpflichtet. Das hat der Gesetzgeber so entschieden, damit
sich Betroffene jemandem anvertrauen können, ohne eine Anzeige befürchten zu müssen.
Das Jugendamt setzt auf Hilfe und Beratung, mit oft guten Ergebnissen, sofern die
betroffene Familie kooperiert.
Zitatorin:
6. August. Laut Maike hat Nelly einen kompetenten Therapeuten, aber im Moment ist sie
mal wieder krank, die Kleine, schwere Bronchitis, gefolgt von einer Lungenentzündung.
Ertrage zwar Jens kaum noch, aber bin natürlich trotzdem hin so oft es ging und wieder
völlig durcheinander: Jens hat sich so geduldig und fürsorglich um die Kleine gekümmert,
wie passt das alles zusammen? Oh Gott - fällt mir eine Szene ein, an Bernds Sechzigstem.
Hatten viele Gäste und hörte Jens zu jemandem sagen, wie verführerisch sich schon ganz
kleine Mädchen benehmen würden. Dachte damals, er hätte zu viel getrunken. Nelly war
noch nicht mal zwei!
O-Ton Guenola Warneke:
In unserem Deliktsbereich gibt es bekanntermaßen eine hohe Dunkelziffer. Also das
sind natürlich nur Schätzungen, aber man geht davon aus, dass auf ein angezeigtes
Delikt circa 15 bis 20 nicht angezeigte Delikte kommen.
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08.05.2016
Das rührt einfach daher, die hohe Dunkelziffer, dass eben Täter und Opfer häufig in
einer engen Beziehung stehen und je enger ich mit jemandem verbunden bin, desto
schwieriger ist es, denjenigen auch anzuzeigen. Je jünger auch die Kinder sind, sind
die in ihrer Entwicklung ja auch noch gar nicht so weit, dass sie verstehen können,
was da an ihnen geschieht. Aber das ist ja zur Verwirklichung des Tatbestands
überhaupt nicht wichtig. Es ist auch überhaupt nicht wichtig, ob das Kind das will oder
nicht, oder ob es mitmacht oder nicht, der Tatbestand ist trotzdem verwirklicht.
Sprecher:
Sagt Kriminalhauptkommissarin Guenola Warneke.
Zitatorin:
2. September. Nelly, Maike und Jens im Urlaub und ich, die Verräterin, mit Frau M. vom
Kindergarten gesprochen. Sie hat denselben Verdacht wie ich und von Nellys Therapeuten
erfahren, dass er genauso denkt. Und er hatte unvoreingenommen mit Nelly die Therapie
begonnen. Nelly sei ein Kind mit guten Potentialen, sogar in ihren Wutanfällen sieht der
Therapeut Stärke. In Rollenspielen aber habe sie derartig deutliche und beklemmende
Zeichen gezeigt, dass er sexuellen Missbrauch nicht ausschließt. Haben verabredet, dass
Frau M. das Jugendamt informiert. Ich würde über das weitere Vorgehen Bescheid
bekommen.
12. September. Warten. Unruhige Tage, kaum Schlaf. Spannung mit Bernd, der wieder auf
seiner alten Meinung beharrt, dass er mich vorm Einmischen abhalten
wollte. Nicht
auszudenken, sagte er, wenn Nelly der geliebte Papa weggenommen würde.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
O-Ton Barbara Kiefl:
Bei so kleinen Kindern ist es so, dass auch sexualisiertes Verhalten nicht unbedingt
bedeutet, dass eine sexuelle Gewalt passiert ist. Dahinter können zum Beispiel auch
Loyalitätskonflikte zu einem Elternteil stehen, wenn Eltern in Trennung sind, das
können Sie schlecht unterscheiden, also wenn Sie jetzt keine körperlichen Merkmale
am Kind entdecken. Wenn wir so was entdecken, bestehen wir darauf, dass das Kind
ärztlich untersucht wird, notfalls über das Familiengericht.
Aber es ist trotzdem eine schwierige Entscheidung und was machen Sie, wenn sich
dieser Verdacht eben nicht erhärtet und das Kind verhaltensauffällig ist. Da müssen
Sie weiter überlegen, wie können Sie der Familie Beratung und Unterstützung geben,
dass das Kind eine normale Entwicklung machen kann.
Sprecher:
Abteilungsleiterin Barbara Kiefl vom Jugendamt.
Zitatorin:
3. Oktober. Zwei anstrengende Treffen wegen Nelly. Anwesend: ihr Therapeut, Frau M. vom
Kindergarten, eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt, eine weitere Psychologin und ich. Alles
nochmals aufgelistet, was jeder von uns beobachtet hat. Frau M. sagte, dass Nelly von
Papas Freunden erzählt hat, die sie so fotografieren würden. Was „so“ bedeutet, konnte
Nelly nicht sagen. Sie sei wie versteinert gewesen. Dass Jens Freunde hat, ist mir neu, aber
hab die Fotos beschrieben, die er Bernd und mir mal gezeigt hat. Lange Beratung. Auch die
Frage, ob Bernd und ich bereit wären, Nelly vorübergehend aufzunehmen.
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
Wäre mir lieber als eine fremde Pflegefamilie. Am Ende waren alle der Meinung, dass man
die Polizei einschalten müsse. Gestern informelles Gespräch bei der Kripo. Die riet unter
diesen Umständen auch zur Anzeige. Wurde gefragt, ob ich zur Zeugenaussage bereit sei.
Sprecher:
Barbara Kiefl:
O-Ton Barbara Kiefl:
Wir hatten jetzt auch ein kleines Kind, da ging es um Aufnahmen, da war die Frage,
wenn alle das negieren und da gibt es Aufnahmen, da muss man gucken, dass die
Beweismittel auch sichergestellt werden und die Polizei hinzuziehen.
Die andere Vorgehensweise, die wir eher begrüßen, wenn es nicht gerade so eine
Angelegenheit ist, zu überlegen, ob man das Familiengericht dann einschaltet, die
Eltern natürlich vorher darüber auch informiert, das ist ja dann schon offen, und dann
muss wieder vorher abgewogen werden, muss man das Kind in Obhut nehmen oder
kann es in der Familie verbleiben. Aber es kommt wirklich drauf an, wie viele
Hinweise man tatsächlich für diese sexuelle Gewalt bekommen hat.
Zitatorin:
6. Oktober. Bernd ist strikt dagegen, dass ich eine Aussage bei der Polizei mache. Ich
würde alles zerstören, was ihm heilig sei.
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08.05.2016
Mir dämmerte, dass er nicht nur Angst um Maike und Nelly hat, sondern auch um unseren
Ruf. Was werden seine Skatfreunde denken und der Sportverein? Sagte er wirklich. Weiß
nicht, hab ich gesagt, in ihren eigenen Familien nachschauen? Hätte ich mir verkneifen
sollen.
7. Oktober. Wirrer Traum: Nelly, gefesselt von verhüllten Gestalten. Ich stand dabei, konnte
sie nicht erreichen. Beim Aufwachen Klarheit: Ich mach die Aussage.
8. Oktober. Wenn ich durch meine Aussage Nelly den Papa wegnehme, wird sie mir das
vielleicht nie verzeihen – Maike sowieso nicht. Ich mache es nicht.
12. Oktober. Nellytag. Sie wollte nicht raus, obwohl die Sonne schien. Haben drinnen
gespielt. Zumindest versucht. Sie war so durch den Wind! Und ich auch. Plötzlich legte sie
sich auf den Stofflöwen, ruckelte auf ihm rum und als ich sagte, dass der Löwe lieber was
anderes spielen will, weinte sie. Noch nie habe ich ein Kind so weinen sehen, ohne einen
einzigen Laut.
Zitatorin:
21. November. Den ganzen Tag bei der Kripo. Die Nestbeschmutzerin musste verdammt
schmutzige Wäsche waschen. Mit allen Details. Eine Beamtin befragte mich. Warum ich
gerade auf diesen Verdacht kam und nicht auf einen anderen. Auch mein Verhältnis zu
meinem Schwiegersohn musste ich ausführlich darlegen, schätze, weil sie einen
Rachefeldzug ausschließen will. Ob sie Nelly vernehmen, behielt sie sich vor, und wenn,
dann kindgemäß. Und Jens und Maike natürlich.
Die Beamtin hätte schon alles erlebt: Reumütige bis erleichterte Verdächtige, Partnerinnen,
die sich dann trauen, den Mund aufzumachen, aber auch Schweigen und Abstreiten. Ich
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Von Christiane Schütze
08.05.2016
sollte Einschätzungen vornehmen, wie Maike und Jens reagieren könnten und ob Waffen im
Haus seien. Kam mir vor wie in einem Kriminalfilm, den ich nicht sehen will. Habe nach
bestem Wissen und verdammt schlechtem Gewissen alles beantwortet.
Sprecher:
Barbara Kiefl:
O-Ton Barbara Kiefl:
Wir haben Situationen, wenn ein Tatverdächtiger also überhaupt nicht dazu steht und
das alles abstreitet, dass Mütter sich dann schützend vor ihre Kinder stellen und
sagen, solange das alles nicht geklärt ist, möchte ich, dass du ausziehst, und dass sie
sagen, sie wünschen sich Unterstützung vom Jugendamt in Form von einer Beratung,
dass man auch möglicherweise Hilfe zur Erziehung einsetzt, und dass sie auch
Unterstützung für ihr Kind haben wollen.
Wir arbeiten da auch mit dem Kinderschutzzentrum zusammen, also da gibt es
vielfältige Möglichkeiten, wenn uns die Tür geöffnet wird.
Zitatorin:
2. Februar.
Nachricht von einem Staatsanwalt: Die Beweismittel reichten nicht. Maike
verweigerte die Aussage, Jens ließ alles über einen Anwalt abstreiten. Er erhielt
Akteneinsicht und droht uns mit einer Verleumdungsklage.
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2016
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
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Der schwierige Weg zur Polizei
Missbrauchsverdacht in der eigenen Familie
Lebenszeichen
Von Christiane Schütze
08.05.2016
Der Staatsanwalt sah seine Unschuld nicht als erwiesen an, zumal ein ähnliches Verfahren
während seiner Studienzeit gegen ihn lief. Damals zeigte ihn eine ehemalige Freundin und
Mutter einer kleinen Tochter, an - allerdings auch ohne rechtskräftige Beweise. Im Zweifel
für den Angeklagten.
10. Februar. Maike und Jens wollen nichts mehr mit mir zu tun haben. Unsere
Gegenschwieger verteufeln mich. Nelly dürfen wir beide nicht mehr sehen. Das trifft richtig.
Sprecher:
Zwei Jahre später nahm Maike wieder Kontakt zu ihrer Mutter Hanna B. auf. Seither darf
auch die inzwischen sechs Jahre alte Nelly wieder zu den Großeltern. Maike wollte ihren
Mann Jens erneut anzeigen, doch ihr Anwalt riet davon ab, weil sie ebenfalls keine
rechtskräftigen Beweise hatte. Maike ließ sich scheiden und kämpfte mit der Unterstützung
des Jugendamts für das alleinige Sorgerecht. Erfolglos. Am Wochenende ist Nelly beim
Vater.
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