SWR2 Glauben ZUMUTUNG UND GESCHENK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
ZUMUTUNG UND GESCHENK
ÜBER DAS WARTEN
VON LISA LAURENZ
SENDUNG 03.04.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft
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Musik 1........
Take 1
(Regina Bäumer) 0`36
Ich finde warten, weil ich grundsätzlich ein ungeduldiger Mensch bin, schrecklich. Ich finde warten grundsätzlich gemein, kommt immer wenn man sowieso
keine Zeit hat. Aber je älter ich werde, desto mehr gelingt es mir, in eine Art
Lebenshaltung reinzukommen, wo ich das Warten insgesamt in den unterschiedlichen Situationen etwas milder erlebe. Das ist ne Übungssache. Und
manchmal hat man keinen Nerv zu üben, dann werde ich ungeduldig und
krieg dann auch die Quittung. Dann ist das Warten eben auch hässlich.
Autorin
Der zeitgeplagte Mensch mag nicht warten. Er empfindet es als verlorene Zeit.
Und doch ist es so alltäglich, das Warten. Selten wartet der Mensch entspannt,
meistens ungeduldig. Vor der Kasse im Supermarkt, an der roten Ampel, im Stau, in
der Telefonschleife, im Wartezimmer beim Arzt. Er wartet auf den Frühling, auf einen
geliebten Menschen, auf den Urlaub, auf einen Lottogewinn, auf eine Diagnose,
auf die Geburt eines Kindes, auf Gottes Hilfe, auf eine glückliche Fügung:
Sprecher
„Das Leben ist ein Wartesaal.“
Joseph Roth
Take 2
(Claudia Rapp-Neumann) 0`16
Ich schimpfe wenn etwas nicht schnell genug geht, was ich geplant habe,
dann werde ich unruhig, dann werde ich laut. Ich kann mir das nicht sagen
jetzt wirst du ruhig, sondern ich brauche den Übergang dazu.
Take 3 (Steffi Domscheidt) 0`21
Oft versuche ich einfach, genau dahin zu fühlen, ich fang mit dem Atem an
und spüre diese Spannung im Nacken, im Kiefer und lass da los und frage
mich oft, wie wichtig ist es jetzt? Ist es so wichtig, dass mein Sohn jetzt
pünktlich beim Fußball ist? Ist das wirklich mein Problem? Das fühlt sich gut
an in dem Moment.
Take 4 (Regina Bäumer)
Ich versuch dann bewusst zu atmen. Ich gucke mir auch gerne Leute an,
damit vertreibe ich mir gerne die Zeit beim Warten wenn sich das ergibt oder
ich schlage einfach manchmal Zeit tot. Dann löse ich Kreuzworträtsel oder
spiele mit der Katze. Dann hab ich den Eindruck, ich lenke mich einfach
davon ab.
2
Take 5 (Eckhart Neumann) 0`18
Wenn ich auf was warte oder was vorhabe auf was ich mich freue, dann ist das
warten darauf schon die halbe Freude. Dann ist das Warten eine Vorfreude. Ein
angenehmer Gefühlszustand und den möchte ich oft nicht schnell beenden.
Musik 2...
Autorin
Auch Wartezeit ist kostbare Lebenszeit. Im Warten wird sie intensiviert und in
besonderer Weise fühlbar. Unruhe kommt auf, die Muskeln verspannen sich, die
Nerven liegen blank, ungeduldig läuft man hin und her, mit dem Blick ständig zur Uhr
oder zum Handy. Langes und ungewisses Warten kann zermürben, ja eine Qual
sein. Es kann aber auch eine Vorfreude sein. Wer freiwillig und gelassen warten
kann, strahlt Ruhe aus und Zuversicht. Warten ist nicht gleich warten. Warten lassen
ist sogar ein Machtinstrument, um Menschen zu kontrollieren, so der Zeitforscher
Karlheinz Geissler:
Take 6
(Karlheinz Geissler) 0`45
Es kann natürlich eine Zumutung sein, weil es viele unangenehme Wartesituation gibt, vor allem wenn sie so organisiert sind, dass jemand sozial davon
Profit schlägt, dass er über jemanden anderen und dessen Zeit Macht hat.
Warten kann eine hässliche Tochter der Zeit sein und sie kann eine schöne
Tochter der Zeit sein. Die Einstellung, mit der ich auf das Warten zugehe, die
kann meine Tochter auch schön machen. So wie das Walter Benjamin erzählt
hat, dass die Frauen und Geliebte, die er am Bahnhof erwartet hat, immer
schöner wurden, je länger er auf sie gewartet hat. Am Bahnhof war es immer so,
dass er früher hingegangen ist, um die Frauen schöner zu machen.
Autorin
Der Schriftsteller Walter Benjamin war ein Freund des Wartens. Literarisch ist es
häufig beschrieben und verklärt worden, in den Romanen und Erzählungen von
Leo Tolstoi oder Gabriel García Márquez. Im täglichen Leben aber fürchtet der
Mensch allzu oft, etwas zu versäumen sobald er warten muss.
Warten ist ein facettenreiches Alltagsphänomen. Eine Zwischenzeit. Eine Zeit zwischen
etwas was vorher war und was noch nicht ist. Es ist nur scheinbar ein neutraler
Zustand. Wissenschaftler haben ermittelt, dass sich das Zeitempfinden während des
Wartens um ein Drittel dehnt. Was zeigt, dass es sich zu einem Großteil im Kopf und im
3
Gemüt abspielt. Je länger der Mensch wartet, desto ungeduldiger wird er. Es vermag
heftigste Emotionen auszulösen: Ärger, Wut, Angst, Orientierungslosigkeit, Ohnmacht.
Warten bedroht das Gefühl der Sicherheit, erklärt Karlheinz Geissler:
Take 7
(Karlheinz Geissler)
0`33
In dem Moment wo wir Zeit in Geld verrechnen ist Wartezeit, die man nicht in
Geld verrechnen kann, verlorene Zeit, nicht gewonnene Zeit. Wir sind ja sozusagen geeicht dafür und auch dazu erzogen, Zeit möglichst nutzbringend zu
verbringen. Und dieser Nutzen, der häufig ein Geldnutzen ist, der fällt an der
Stelle weg und wird gestört. Deshalb ist warten, wenn sie so wollen, in einer
Geld-ist-Zeit-Welt ein ziviles Martyrium.
Autorin
In vielen Kulturen Asiens oder Afrikas gehört das Warten ganz selbstverständlich
zum Alltag, ohne dass sich gleich jemand darüber aufregt. Ähnlich ist das in einigen
Regionen Südeuropas. Urlauber dort genießen den wohltuenden und entspannten
Lebensrhythmus, zu dem das Wartenkönnen gehört. In unserer westlichen Gesellschaft gab es auch Zeiten, in denen die Menschen um den Wert des Wartens
wussten. Wer im Grimmschen Wörterbuch nachschlängt, findet unter dem Stichwort
warten folgende Bedeutungen:
Sprecher
schauen, seinen Blick auf etwas richten, auf etwas achten, aufpassen, versorgen,
für etwas sorgen, pflegen, dienen, erwarten
Autorin
Der Begriff warten in seiner ursprünglich positiven Bedeutung taucht heute umgangssprachlich nur noch auf in der Formulierung: ein Auto oder eine Maschine warten.
Das Warten im Sinne von etwas erwarten wird heute nur noch wenig geschätzt.
Eckhart Neumann hat als Psychotherapeut und Psychoanalytiker einen positiven
Blick auf das Warten:
Musik 3.....
Take 8
(Eckhart Neumann) 0`40
Erwartung richtet dich geistig auch, es konzentriert dich. Innerlich arbeitet
etwas. Ich finde, das ist ein ganz differenzierter Gefühlszustand, warten. Für
mich zumindest ist es ein Teil des Umgangs mit warten, was ich draus mache,
wenn ich warte und wir warten ja ständig. Ich finde, das ist ein wesentlicher
4
Teil der Lebenskunst. Warten in dem Sinne, ich bereite mich auf etwas vor, so
zu gestalten, dass ich in dem Moment es gerne. Das gelingt ja nicht immer,
sich immer wieder in dieses Weite hineinzubewegen. Dieser Versuch allein ist
für mich die Lebenskunst.
(Musik steht kurz frei…)
Take 9
(Michael Plattig)
0`37
Wenn ich denke an früher, bei uns zu Hause gab es Erdbeeren wenn es
Erdbeeren gab und Spargel wenn es Spargel gab und sonst nicht. Und die
Erwartung, dass wieder die Erdbeerzeit anbricht, war ne frohe Geschichte,
jetzt mal jenseits aller spirituellen Dinge. Als Kind hab ich mich darauf gefreut.
Ich glaube, dadurch dass wir jederzeit alles zur Verfügung haben heute,
haben wir diese Erfahrung gar nimmer, dass etwas sich einstellt, ob zyklisch
oder einmalig. Ist glaube ich eine Erfahrung, die uns verloren gegangen ist.
Autorin
Michael Plattig ist Karmelitermönch. Der 56jährige ist froh in einer Zeit aufgewachsen
zu sein, als das Wartenkönnen in unserer Kultur noch selbstverständlicher war. In
früheren Epochen haben die Menschen ganz anders mit und in der Zeit gelebt.
Unsere Vorfahren sind mit der Sonne aufgestanden und mit ihr schlafen gegangen.
Sie pflanzten und säten nach dem Rhythmus des Mondes. Sie wussten, dass die
Geburten bei Flut kamen. Sonne und Mond, Licht und Dunkelheit bestimmten ihr
ganzes Leben. Gott war der Besitzer der Zeit. Die Menschen orientierten sich an den
göttlichen Zeiten, die in der Natur und im Kosmos ihren Ausdruck fanden:
Take 10 (Karlheinz Geißler)
0`40
Ihr Verständnis von Zeit war, dass sie nicht die Zeit organisieren, sondern
die Zeit die Menschen organisiert. Dass die Zeit auf die Menschen zukommt
und ich mache etwas mit der auf mich zukommenden Zeit. Zeit ist auch das
Erwartbare, d.h. was ich erwarte. War immer auch ein Warten auf Erlösung
und auf die schönen Zeiten. So wie wir es in der Organisation des Kirchenkalenders noch haben, wo wir auf die Geburt Christi warten oder das Warten
auf die Auferstehung, ist ja nichts anderes als eine organisierte Wartezeit, die
das Schöne am Ende dieses Wartens hat.
Autorin
Langmut ist ein altes Wort für die Fähigkeit, geduldig warten zu können. In der Bibel
wird Gott als geduldiger Vater beschrieben, der auf alle Menschen wartet. Geduld ist
eine Qualität des Wartens:
5
Take 11
(Michael Plattig) 0`29
Wenn ich geduldig bin, bin ich schon in einer Haltung des Wartens. D.h. ich
überlasse sozusagen das Geschehen der Regie eines anderen, im christlichen Sinn der Regie Gottes und ich warte, dass er das seine tut oder das
seine wirkt und deshalb kann ich geduldig sein. Geduldig warten kann
ich eigentlich nur im Vertrauen darauf, dass ich sozusagen die Regie Gott
überlasse.
Autorin
Michael Plattig leitet das Institut für Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen
Hochschule Münster. Er gibt Seminare und schreibt Bücher, auch gemeinsam mit
Regina Bäumer. Sie ist Theologin, Gesprächspsychotherapeutin und Achtsamkeitslehrerin:
Musik 4....
Take 12
(Regina Bäumer)
0`50
Ich glaube, dass es letzten Endes um eine innere Haltung geht, die ich
kultivieren oder immer wieder üben kann. Dass ich eine Form von Aufmerksamkeit oder innerer Achtsamkeit habe, mit der ich übe, im Augenblick zu
bleiben. Und wenn man es denn schafft aus diesem Tuns-Modus herauszukommen, wenn man gezwungen ist zu warten und es wirklich rumdreht, wenn
ich mal lasse etwas zu tun, ja dann kann mir auch etwas begegnen. Oder wie
wir im christlichen Zusammenhang oder in der Spiritualität auch sagen, dann
kann Umformung geschehen, dann kann auch Gott auf mich zukommen.
Man kann es auch jenseits von Spiritualität sehen, dann kann das Leben mir
unter Umständen zeigen, wo ich vorher vielleicht dran vorbeigegangen wär.
Autorin
Wartenkönnen ist eine Fähigkeit, die religiösen und spirituellen Menschen manchmal
leichter fällt. Im Christentum hat das Warten ohnehin eine lange Tradition:
Take 13
(Michael Plattig) 0`49
Das hängt biblisch gesehen damit zusammen, dass im Alten und Neuen
Testament die ganzen Schriften durchzogen sind von einer grundsätzlichen
Erwartung, nämlich der Erwartung des Messias im Alten Testament und der
Wiederkunft des Messias im Neuen Testament. Christlich gesehen glauben wir
ja, dass in Christus der Messias schon gekommen ist, aber wir haben noch
nicht das Reich Gottes. Wir sind schon erlöst, aber wir sind immer noch auf
dem Weg, dass sich diese Erlösung manifestiert. Aber da das natürlich ein
Prozess ist von schon und noch nicht, ist es durchaus möglich, jetzt schon
anfanghaft zu erfahren, was es heißt, Reich Gottes, also wo Menschsein
gelingt, wo Begegnung gelingt, wo Friede herrscht, wo Gerechtigkeit
geschaffen wird.
6
Autorin
Warten ist eine menschliche Grunderfahrung. In unserer Kultur wird sie einem nicht in
die Wiege gelegt, sondern muss erlernt werden. Claudia Rapp-Neumann ist Lehrerin
für Musik und Englisch an einem Gymnasium:
Take 14
(Claudia Rapp-Neumann)
1`00
Dieses Spirituelle kann ein guter Boden sein, aus dem dann Dinge sich
entwickeln können. Da ist meine Angst manchmal, wenn ich auf die jungen
Menschen zu sprechen komme, dass dieser Boden nicht gelegt ist. Die
Werbung suggeriert uns ja auch, es geht alles ganz schnell. Was möchtest du
nach dem Abitur machen? Schnell viel Geld verdienen. Ja wie denn? Das wird
schon kommen, ohne einen langen Prozess des Arbeitens oder Sparens. So
denken junge Leute häufig, das brauchen sie nicht mehr. Und wenn da kein
durchgängiges Moos ist, sondern ganz viele tiefe Löcher, dann brechen die
Jugendlichen ein und wenn sie dann keine Hilfe haben, da wieder rauszukommen, wenn die Eltern keine Zeit haben oder wir als Lehrer, dann wackelt
der ganze Untergrund.
Autorin
Im Zeitalter des Internet ist das geduldige Warten immer mehr aus der Mode
gekommen. In der digitalen Welt des Jetzt und Sofort erscheint alles jederzeit möglich.
Wer wartet heute noch tagelang auf einen Liebesbrief, wenn die Zuneigung gleich
mehrmals täglich per SMS oder Whatsapp inklusive aktueller Fotos in Sekundenschnelle übermittelt werden kann. Die Industrie lockt mit immer neuen Produkten, um
das Warten zu versüßen oder es ganz abzuschaffen. Sog. „Schöner warten Apps“
versprechen, die Zeit zu vertreiben, wenn der Zug sich verspätet oder der Abflug sich
verschiebt:
Take 15
(Karlheinz Geissler) 0`33
Es wird sofort wieder etwas angeboten, was das warten im Stau z.B. nicht zu
einem Warten macht was man selbst bestimmt, sondern was fremdbestimmt
wird, nämlich durch Internetanschluss im Auto oder irgendwelche Ablenkungsmöglichkeiten, die sie im Auto heute zunehmend vorfinden. Das Vertreiben
des Wartens, damit wird viel Geld in unserer Gesellschaft verdient und sie
müssen gegen die Verführung, dass das Warten wegrationalisiert wird,
angehen durch eine Einstellung, dass Warten auch was Positives hat, was
Schönes hat.
Musik 5...
Take 16
(Eckhart Neumann)
0`27
Ich glaube Menschen haben immer schwerer es zu tolerieren, dass da nicht
viel passiert außer leise Gefühlstöne, weil wir brauchen immer unser Handy.
Wenn wir warten gucken wir, haben wir die SMS, haben wir die Email im
7
Handy. Wir tolerieren kaum noch, nicht stimuliert zu sein von außen. Und
wenn wir das sehr viel machen, verlieren wir eine Art innere Stimme, die
uns zeigt, wo geht es denn mit uns lang.
Autorin
Der Mensch braucht Pausen. Er braucht Rhythmus, weil er ein rhythmisches Wesen
ist. Pausen und Wartezeiten geben dem Organismus die Möglichkeit, Eindrücke und
Erfahrungen zu verarbeiten:
Take 17 (Michael Plattig) 0`37
Es hat noch diesen Aspekt, was in der christlichen Tradition kairos heißt: es
gibt für bestimmte Dinge eine bestimmte Zeit, die ich nicht beeinflussen kann.
Das kann ich nicht beschleunigen oder wenn ich es tue, dann tue ich dem
Menschen etwas an. Dieses nicht warten können, gerade auch was menschliche Entwicklung angeht, ist was höchst Inhumanes in unserer Gesellschaft.
Dass jetzt schon die Grundschüler einen Terminkalender haben, wo man
wirklich manchmal den Eindruck hat, was machen wir eigentlich? Wieso
lassen wir den Kindern nicht Zeit zum Wachsen?
Autorin
Hirnforscher bedauern zum Beispiel, dass Eltern heute oft glauben, sie müssten
ihrem Kind möglichst früh das Sprechen beibringen. Das verkürze den Zeitraum,
in dem ein Kind lernt, eigene Gefühle nonverbal auszudrücken und sich einzufühlen
in andere. In einem zunehmend vertakteten Alltag wird es auch für Kinder immer
schwieriger, einen eigenen inneren Rhythmus auszubilden und sich zu finden:
Take 18
(Karlheinz Geissler)
0`41
Da muss man gegensteuern, wenn man sich wohlfühlen will in dieser Gesellschaft, denn das Wohlfühlen besteht darin, dass wir mit Pausen, mit Wartezeiten und Wiederholungen geboren werden. Die Wiederholung ist der
Rhythmus, die Pause ist das was wir im Atmen haben. Einatmen, ausatmen,
Pause. Das ist im Menschenkörper drin, auch in der Entwicklung ist es drin.
Unser Körper muss ganz viel warten. Heilungsprozesse, alles das sind Wartezeiten.
8
Autorin
Schwangere warten heute oft nicht mehr auf den von der Natur vorgesehenen Tag
der Geburt. Der Termin dafür wird gemeinsam mit Arzt und Hebamme festgelegt.
Steffanie Domscheit arbeitet seit zwanzig Jahren in einem Krankenhaus in Bad
Honnef als Hebamme:
Take 19 (Steffanie Domscheit) 0`26
Muss ich ganz ehrlich sagen, das ist schwer geworden. Es liegt nicht daran,
wie viele meinen, dass die ÄrztInnen das nicht mehr wollen, sondern wirklich
leider an diesen forensischen Entwicklungen, dass einfach die Folgen da sein
können, dass Warten als ne falsche Handlung im nachhinein als ein Kunstfehler anerkannt wird und unter diesen Stress geraten, dass man das Warten
erklären muss.
Autorin
Zu langes Warten kann dazu führen, dass das Kind zu lange im Geburtskanal bleibt
und wegen Sauerstoffmangel lebenslang behindert ist. Dass zu verhindern ist eine
Aufgabe von Hebammen und Ärzten. Steffanie Domscheit konnte schon immer gut
warten und macht auch als Hebamme gute Erfahrungen damit:
Musik 6.....
Take 20
(Steffanie Domscheit) 0`55
Es sind oft nicht die Worte, sondern die körperliche Ausstrahlung, Ruhe, die ich
zeige in Bewegung oder in kleinen Gesten oder auch in einer räumlichen Ruhe,
die ich schaffen kann oder in einer Massage. Wenn die Frauen spüren können,
dass meine Ruhe auf sie übergeht, dann können sie auch gut mitwarten. Ich
mag es, wenn so etwas entsteht, dass die Frau sich irgendwann heimisch fühlt
in diesem Bereich des Kreissaals, wo ich arbeite. Dann entsteht so ne Atmosphäre von Ruhe und Atmen können und es entsteht so etwas wie ein Raum zur
Kontaktaufnahme mit dem Kind, das kommen wird, mit dem man sich auch
unterhalten kann in diesem Raum. dass man dem Kind Fragen stellen kann.
Möchtest du schon kommen? Brauchst du noch Zeit? Wer bist du?
Sprecher
„Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…“
Rainer Maria Rilke
9
Take 21 (Eckhart Neumann)
0`27
Ich hab viel drüber nachgedacht, was eigentlich Entwicklung befördert bei
Menschen und das ist wenn du ihnen die Zeit geben kannst, die sie brauchen für
ihre Entwicklung und auch für die Stagnation. Geduld zu haben und auf das
Unbewusste zu vertrauen, dass wir einen Motor in uns haben. Wir wollen uns
entwickeln, wir Menschen wollen uns lebenslang entwickeln.
Sprecher
„Bildung heißt warten können.“
Theodor Adorno
Autorin
Ein berühmter Satz des Philosophen und Soziologen Adorno. Für die Lehrerin
Claudia Rapp-Neumann ist er ein Leitspruch:
Take 22
(Claudia Rapp-Neumann) 0`34
Heißt ja auch, auf die Entwicklung des Wissens zu warten, des etwas
Ergreifens. Das ist ein Prozess. Als Lehrer tendiert man ja dazu, sofort etwas
zu greifen, zu kommentieren, kleinschrittig nachzufragen. Wenn es mir gelingt,
nach einer Frage länger warten zu können, die innere Gelassenheit zu haben,
kommen häufig ruhigere durchdachtere Antworten.
Musik 7....
Take 23 (Claudia Rapp-Neumann 0`37
Als Musiklehrerin teste ich es, indem ich die Schüler mit einer Musik empfange
wenn sie reinkommen. Ich leg nur den Finger auf den Mund, das bedeutet, sie
müssen hören und danach sage ich nichts und dann warte ich auf die Reaktion.
Wenn ich die Fähigkeit habe zu warten, dann kommen tolle Reaktionen. Ich
liebe das zu machen und es ist schwer, wenn ich nicht selber in dieser
gelassenen positiven Wartehaltung bin.
Autorin
Was während des Wartens passiert, macht Entwicklung häufig erst möglich. Manche
Dinge brauchen Zeit. Veränderung geschieht oft nur langsam, manchmal unmerklich.
Auch gesellschaftlich gesehen:
Take 24 (Regina Bäumer)
0`16
Zur Entwicklung gehören Krisen und dann denkt man manchmal, es geht
überhaupt nicht mehr und dann denkt man, man ist überfordert und dann ist
man wieder ganz gerührt von dem was doch geht.
10
Take 25
(Eckhart Neumann)
0`26
Warten als Teil unseres ständigen täglichen Entwicklungsprozesses zu sehen,
dass es Phasen gibt, Lebensphasen, wo wir Aufgaben haben und wir die
mehr oder weniger gut oder schlecht bewältigen und dass dann die nächsten
Lebensphasen kommen und dass da auch Zeiten von Leere kommen, wirklich
Leere, die wir durchleben müssen, um wieder eine Fülle entstehen zu lassen,
das ist Warten.
Autorin
Warten bedeutet oft, in einer schmerzhaften oder leidvollen Situation geduldig
auszuharren, bis sich eine Lösung ergibt. Probleme in der Partnerschaft oder am
Arbeitsplatz lassen sich aber nicht immer gleich lösen, manchmal auch gar nicht.
Geduldiges warten gibt einem selbst und auch anderen Zeit. Was nicht bedeutet,
sich auf Dauer mit einem Konflikt abzufinden oder faule Kompromisse einzugehen.
In der Geduld steckt auch die Kraft, Veränderung und Verwandlung vorzubereiten:
Sprecher
„Gott hält sich in den Intervallen versteckt.“
Jorge Luis Borges
Take 26 (Karlheinz Geißler)
0`29
Das heißt, der Bezug zu Gott oder zum Göttlichen wird dort sichtbar, wenn wir
Zeit nicht wegorganisieren, wegmanagen, sondern wo wir plötzlich auf uns
selbst zurückfallen und in dem Moment müssen wir mit uns selbst umgehen
und da merken wir sozusagen die Schöpfung, nämlich uns selbst.
Autorin
Der Mensch mag es nicht, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Er hält es
nur schwer aus, etwas nicht willentlich beeinflussen zu können:
Take 27 (Eckhart Neumann)
0`30
Die Männer haben da meiner Erfahrung nach viel mehr Schwierigkeiten als die
Frauen und zwar die erfolgreichen Männer, die gewohnt sind, willentlich ihren
beruflichen Weg oder ihre Ehe wie auch immer ihre Familie zu beeinflussen
und dann plötzlich merken, es geht ja gar nicht. Entweder sie haben einen
Karriereknick oder die Frauen sagen: du bist nur weg und deine Karriere.
Plötzlich ist die Ehe leer und die dann kommen und ganz schwer tolerieren
können, dass nicht alles willentlich beeinflussbar ist.
11
Autorin
Manche haben auch das Gefühl, zu lange gewartet zu haben, eine Gelegenheit
verpasst zu haben. Regina Bäumer empfiehlt in so einem Fall, verständnisvoll
und freundlich mit sich selbst zu sein:
Take 28 (Regina Bäumer) 0`29
Mir auch selbst zu vergeben, wenn ich zu dem Eindruck gelange: ich hab
einfach gepennt oder ich war zu träge, um daraus dann meine eigenen
Konsequenzen zu ziehen oder um dann zu sehen: was bedeutet das denn
jetzt? Das kann heißen, dass ich etwas nachhole, dass ich betrauere, dass es
wirklich damals nicht ging und ich es heute tun muss oder dass auch wirklich
etwas verloren gegangen ist.
Autorin
Da mag es tröstlich sein, dass sich der Mensch auch im Warten verändert und
entwickelt. Denn Warten verhindert etwas und ermöglicht damit etwas anderes.
Noch einmal der Psychoanalytiker Eckhart Neumann:
Musik 8....
Take 29 (Eckhart Neumann) 0`34
Ich glaube, es ist eine Grundbedingung menschlicher Existenz, wir sind nicht
die, die unser Leben willentlich gestalten. Das Leben gestaltet sich in uns. Ich
persönlich könnte den Beruf nicht machen ohne das Gefühl: Leben will im
Prinzip Gutes, die Menschen machen oft was Schlechtes draus. Das hat mit
dem Warten zu tun. Darin passiert Leben. Das Geheimnis ist für mich, das
Leben passieren zu lassen und auch zu steuern.
Sprecher
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben...
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Rainer Maria Rilke
(Musik noch einmal hochziehen..)
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