SWR2 Glauben VOM VERFALL EINER JÜDISCHEN GEMEINDE

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
VOM VERFALL EINER JÜDISCHEN
GEMEINDE
20 JAHRE NACH DEM TERRORANSCHLAG IN BUENOS AIRES
VON GABY WEBER
SENDUNG 28.02.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Kirche und Gesellschaft
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten
Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung
bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR
SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter
www.swr2.de oder als Podcast nachhören:
http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml
Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2?
Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen
Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.
Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen
Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.
Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
Take:
Atmo juicio Richter ... 1´08
Erzählerin:
Im Untergeschoss des Landgerichts von Buenos Aires wird das
Attentat auf das jüdische Gemeindehaus AMIA verhandelt. 1994
kamen dabei 85 Personen ums Leben. Doch vor den Richtern stehen
nicht die vermeintlichen Mörder oder ihre Hintermänner. Die Anklage
lautet auf Vertuschung der Hintergründe. Angeklagt sind der frühere
Staatspräsident Carlos Menem, seine Geheimdienstchefs, der
Ermittlungsrichter und - der damalige Vorsitzende des Dachverbands
der jüdischen Organisationen DAIA – Rubén Beraja (sprich: rubén
berácha).
Take:
„Quienes tenian que investigar ... juicio amia deborah 1 – 14´´
Übersetzerin:
Diejenigen, die das Attentat eigentlich aufklären sollten, haben Beweise frei
erfunden und Unschuldige verhaftet. Deshalb stehen sie heute vor Gericht.
Erzählerin:
Deborah ist Jüdin und Mitglied von „Memoria Activa“ (aktive
Erinnerung). Seit 22 Jahren fordern die Hinterbliebenen „Wahrheit
und Gerechtigkeit“ – in den ersten Jahren lautstark vor dem
Justizpalast, mit Megaphon und Transparenten. Dann verlagerten
sich die Proteste von der Straße in die sozialen Medien – nicht
zuletzt, weil die Justiz die Attentäter ausgemacht haben wollte, einen
Autoschieber und acht argentinische Polizisten. Doch der Prozess
gegen sie endete 2004 mit einem Freispruch. Die Beweise, so hieß
es im Urteil, seien gekauft und gefälscht worden. Die angeklagten
Polizisten wurden nach über acht Jahren Untersuchungshaft auf
freien Fuß gesetzt und ein Verfahren wegen Vertuschung eingeleitet.
Aber es dauerte noch einmal zehn Jahre, bis dieser Prozess endlich
terminiert wurde, so Deborah.
Take:
„Muchos jueces se excusaron ... juicio amia deborah 3 – 17´´
Übersetzerin:
Viele Richter haben es abgelehnt über andere Richter zu urteilen. Und klar:
Hier urteilt die Rechtssprechung über die Rechtssprechung. Auch ein
ehemaliger Staatspräsident und ein Geheimdienstchef stehen unter
2
Anklage - das sind Leute mit sehr viel Macht, über die man hier urteilen
muss.
Erzählerin:
Vor zehn Jahren hatte die Regierung von Néstor Kirchner eine
Sondereinheit der Staatsanwaltschaft unter der Leitung von Alberto
Nisman eingerichtet. Nisman, ebenfalls jüdischer Herkunft, lenkte
den ursprünglichen Verdacht gegen die syrischen Auftraggeber auf
die iranische Regierung und wollte sogar gegen die amtierende
Präsidentin Cristina Kirchner Anklage erheben. Handfeste
Ergebnisse lieferte er nicht. Anfang 2015 wurde Nisman in seiner
Wohnung erschossen – einen Tag vor seiner Aussage im Parlament.
Auch dieser Mord ist bislang nicht aufgeklärt. Für Deborah hatte
Nisman wenig Neues ermittelt. Aber:
Take:
„Posiblemente si Nisman ... juicio deborah 4 – 18´´
Übersetzerin:
Vielleicht, wenn Nisman nicht gestorben wäre, wäre es nie zu diesem
Prozess wegen Vertuschung gekommen. Davor wurden diese Ermittlungen
systematisch behindert. Dass diese Leute jetzt doch vor Gericht stehen, ist
wohl auf seinen Tod zurückzuführen - ich glaube, das hängt wirklich
zusammen, ja!
Take:
Atmo juicio amia ohne sprache – 15´´
Erzählerin:
Heute sagt der Angeklagte Rubén Beraja aus, damals Chef der
jüdischen Dachorganisation DAIA. Er hat Freunde mitgebracht,
DAIA-Funktionäre wie er, die sich ins Publikum, hinter die
Trennscheibe, setzen. Das sei eine „unzumutbare Provokation“,
rufen die empörten Hinterbliebenen. Die DAIA habe die
Hinterbliebenen in ihrem Kampf um die Wahrheit nie unterstützt, und
nun stärken sie einem der Angeklagten den Rücken! Ein
Gerichtsdiener schlichtet den Streit und platziert die Funktionäre auf
der Empore, darunter José Hercmann.
Take:
Sé lo concurrio ... hercman 1 – 13´´
3
Übersetzer:
Ich weiss, was damals gelaufen ist, weil ich an allem teilgenommen
habe. Hier sind die falschen Leute am falschen Ort. Das ist absurd.
Es werden die Opfer zu Schuldigen gemacht.
Erzählerin:
Vier Stunden lang liest Beraja eine Erklärung vor, erzählt von seinen
Treffen mit den Geheimdiensten und wirft der Menem-Regierung vor,
wichtige Spuren – die in den Iran geführt hätten – nicht verfolgt zu
haben. Laut Anklageschrift hat der damalige Ermittlungsrichter
400.000 Dollar aus dem Geheimdiensttopf einem Autoschieber für
seine Falschaussage gegen die Polizisten gezahlt. Der Zeuge selbst
sowie ehemalige Justizmitarbeiter haben später bestätigt, dass auch
Beraja davon ge wusst und damit einverstanden gewesen sei.
Hercman:
Take:
„Lamentablemente, ese es un error ... hercman 2 – 34´´
Übersetzer:
Vieles ist falsch dargestellt worden. Schauen Sie sich genau an, was
ihm vorgeworfen wird: Psychologische Mithilfe für den ermittelnden
Richter. Das ist alles. Aber die Medien berichten nicht korrekt,
obwohl alles eigentlich klar in den Akten steht. Die Journalisten
verwirren die Leute, die dann bei der jüdischen Gemeinde anrufen
und fragen, warum Beraja das Attentat vertuscht habe.
Erzählerin:
Für die jüdische Gemeinde Argentiniens war der Anschlag von 1994
eine Katastrophe, nicht nur, weil dabei 85 Menschen, die sich vor
und in dem Gemeindehaus befunden hatten, ihr Leben verloren
haben. Viele ihrer Mitglieder wandten sich von ihr ab, weil ihre
Anführer wenig für die Aufklärung des Verbrechens unternahmen.
In Argentinien gab es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts eine
Einwanderung vor allem russischer Juden, weshalb bis heute viele
Juden „rusos“ genannt werden. Ab Mitte der dreißiger Jahre kamen
die Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland dazu, und am Ende des
Zweiten Weltkrieges lebten in dem südamerikanischen Land etwa
4
eine halbe Million Menschen jüdischer Herkunft. Die meisten von
ihnen waren eher weltlich eingestellt und pflegten ihr Judentum als
eine Tradition und eine Kultur. Auch dem Ruf des 1948 gegründeten
Staates Israel folgten nur relativ Wenige. Erst mit den Diktaturen und
Wirtschaftskrisen der siebziger und achtziger Jahre setzte ein
Exodus ein, vor allem in die USA. Heute leben in Argentinien nur
noch 200.000 Menschen jüdischer Herkunft, und die meisten haben
ihren Institutionen den Rücken gekehrt. So hatten sich die
Gemeinden während der Militärdiktatur der siebziger Jahre praktisch
gar nicht um verschleppte Juden gekümmert, die wegen ihrer
Abstammung in den Folterzentren besonders brutalen
Verhörmethoden ausgesetzt waren. Nur ein einziger Rabbiner hat
sich um diese Leute gekümmert. Und dann passierte 1994 das
Attentat auf das Gemeindehaus AMIA. Und wieder fühlten sich die
Hinterbliebenen von allen verlassen, nicht nur von der argentinischen
Justiz und der Politik, sondern auch von ihren jüdischen Anführern,
an erster Stelle, von dem damaligen DAIA-Chef Beraja, der heute
unter Anklage steht. Auch der ultra-orthodoxe Rabbiner Samuel
Lewin verteidigt ihn.
Take:
„Yo no creo, no creo .... rabbino lewin 4 – 37´´
Übersetzer:
Ich glaube nicht, dass Beraja irgendetwas vertuscht hat. Ich habe
darüber lange in meinem Büro mit Staatsanwalt Nisman diskutiert.
Beraja ist dazu gar nicht im Stande. Ich kenne ihn gut. Seine Banco
de Mayo half der jüdischen Gemeinde immer. Das hat sie immer
getan. Sie ist ja gegründet worden, um jüdische Einrichtungen zu
fördern und unseren Armen zu helfen.
Erzählerin:
Hercman weiß, dass heute immer mehr Menschen jüdischer
Herkunft der Gemeinde fernbleiben. Sie erscheinen auch nicht zu
den Gottesdiensten und schicken ihre Kinder lieber auf katholische
oder gewinnorientierte Privatschulen. Gemischte Ehen sind die
Regel, nicht die Ausnahme. Hängt das damit zusammen, weil sich
5
die Interessen der religiösen und kulturellen Institutionen mit den
politischen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Funktionäre
vermischen? Hercman winkt ab.
Take:
„La Amia tiene que ver ... hercman 5 – 19´´
Übersetzer:
Die AMIA ist das Gemeindehaus, und in dieser Gemeinde gibt es
Gläubige, streng Gläubige, ein bisschen-Gläubige und NichtGläubige. Die AMIA ist sozusagen unser Sozialwerk, und die DAIA
ist unser politischer Dachverband.
Erzählerin:
Juden streiten sich immer, meint er.
Take:
„La historia del judaismo .... hercman 6 – 19´´
Übersetzer:
Die Geschichte des Judentums ist über Jahrtausende voller interner
Konflikte. Es heißt ja auch, wo zwei Juden sind, gibt es drei Parteien.
Aber das normal. Deshalb diskutieren wir ja und tauschen
Meinungen aus. Aber wir bringen uns nicht gegenseitig um.
Erzählerin:
In den Augen Hercmans war es ein „interner Konflikt“, dass während die Hinterbliebenen die Menem-Regierung wegen ihrer
mangelnden Ermittlungen kritisierten - ihre Funktionäre mit derselbe
Regierung enge Kontakte pflegten und sich sogar für die Angriffe der
Opferorganisationen entschuldigten. Der Journalist Horacio Lutzky,
hat mehrere Bücher über das AMIA-Attentat veröffentlicht. Er
vermutet, dass diese Haltung mit der damaligen Wirtschaftspolitik
von Präsident Menem zu tun hatte. Alle Staatsbetriebe wurden
privatisiert und da konnten Banker, Notare, Anwälte und
Wirtschaftsprüfer glänzende Geschäfte machen. Hercman hatte
sogar, hatte der Journalist herausgefunden, beste geschäftliche
Kontakte zur iranischen Botschaft. Das sei richtig, aber …
Take:
„Yo alquilé un departamento ... hercman 4 – 35´´
6
Übersetzer:
Ich hatte bis 1992 eine Wohnung an einen Iraner vermietet, also vor
dem Attentat auf die AMIA. Der Mieter wurde nicht von der Polizei
gesucht und zog dann in eine andere Wohnung. Lutzky schrieb aber,
dass ich „mit dem Feind geschlafen“ habe. Er macht es sich einfach,
die DAIA anzugreifen, weil wir nicht auf alles antworten können.
Erzählerin:
Horacio Lutzky ist Autor des Buches „Prosit auf den Trümmern“.
Darin schreibt er, dass Hercmans Mieter als Bürgen im Mietvertrag
die iranische Botschaft angegeben hatte.
Zum Zeitpunkt des Attentats war Lutzky ein erfolgreicher Journalist,
langjähriger Chefredakteur der an die israelische Kibbuzbewegung
angelehnten Wochenzeitung „Nueva Sion“, Hochschullehrer über
Kommunikation und Redakteur eines lokalen jüdischen
Fernsehkanals in Buenos Aires. Schon immer ein kritischer Geist,
irgendwie links eingestellt ohne dogmatisch oder parteiisch zu sein.
Seit 22 Jahren liest er meterweise Ermittlungsakten, lässt keinen
Prozesstag aus und berät parlamentarische Ausschüsse. Inzwischen
hat er seine Karriere an den Nagel gehängt beziehungsweise
hängen müssen, nicht zuletzt weil auch aus der jüdischen Gemeinde
Druck auf ihn und die Anzeigenkunden ausgeübt worden war. Er
hatte wohl zu viel herausgefunden. Heute unterhält er ein kleines
Anwaltsbüro. Er wirkt müde, so als frage er sich, was sein
jahrelanger Einsatz für die Wahrheit eigentlich gebracht hat?
Take:
„Al ano del atentado de la Amia ... lutzky 11 – 55´´
Übersetzer:
Ein Jahr nach dem Attentat strahlten wir unsere ersten
Rechercheergebnisse aus, und die betrafen vor allem die
sogenannte „syrische Spur“. Wir berichteten von der Straflosigkeit,
von den Geheimdienstlern, die die Ermittlungen behinderten und von
dem syrisch-stämmigen Präsidenten Menem und seinen syrischen
Geschäftspartnern. Dadurch geriet der DAIA-Chef Beraja in die
Klemme. Er, selbst syrischer Herkunft, war Präsident der jüdischen
Mayo-Bank und finanzierte eine ganze Reihe religiöser
Einrichtungen. Dadurch geriet die Mayo-Bank in
7
Zahlungsschwierigkeiten und bat die Menem-Regierung um
Überbrückungskredite. Also dieselbe Regierung, die das Attentat
vertuschte. Am Ende erhielt seine Bank astronomische Summen,
und diese Zahlungen erklären, warum die DAIA niemals die
Regierung kritisierte.
Erzählerin:
Die Zentralbank Argentiniens hatte auf das Konto der Mayo-Bank
ohne Betreff den stolzen Betrag von 298 Millionen US-Dollar
überwiesen, Geld, das kurz vor dem endgültigen Zusammenbruch
der Bank in dunklen Kanälen verschwand.
Seine Recherchen wurden veröffentlicht, änderten aber nicht viel an
der Haltung der jüdischen Institutionen. Noch am Ende der
Militärdiktatur gingen Hunderttausende für die Forderung nach
„Wahrheit und Gerechtigkeit“ auf die Straße, aber für die Wahrheit
interessieren sich heute nicht einmal mehr die Staatsanwälte, meint
Lutzky verbittert.
Auf seinem Schreibtisch liegt ein Telex vom 22. März 2008, das
Wikileaks veröffentlicht hatte. Beamte der US-amerikanischen
Botschaft hatten dem Sonderstaatsanwalt Nisman „geraten“, sich auf
die Suche nach den Attentätern und nicht auf die Vertuscher zu
konzentrieren.
Welche Rolle haben die jüdischen Funktionäre der DAIA in der
Sache gespielt? Lutzky atmet tief durch, will ruhig bleiben. Von
Anfang an habe die DAIA die Hinterbliebenen diszipliniert und Kritik
an der Menem-Regierung unterdrückt. Das war so offensichtlich,
dass viele Argentinier die Israelis hinter dem Anschlag vermuteten,
sogar ein Richter des Obersten Gerichtshofes wollte ein „autoatentado“ – ein Attentat jüdischer Kreise auf die eigene Einrichtung nicht ausschließen. Das sei blanker Unsinn, so Lutzky, aber für die
einfachen Mitglieder der jüdischen Gemeinde seien die
Zusammenhänge am Ende nicht mehr durchschaubar gewesen.
8
Übrig geblieben ist nur noch das Gefühl der Hilflosigkeit und die
Gewissheit, dass alle vor den Mächtigen kuschen, auch die
politischen und religiösen Vertreter des Judentums. Für die Wahrheit
hat niemand einen Finger gerührt, von den paar Aktivisten der
Opfergruppen und einer Handvoll Journalisten abgesehen.
Samuel Lewin ist Rabbiner, geistiges Oberhaupt der Orthodoxen, die
die Wahlen innerhalb der AMIA gewonnen haben. Seitdem
herrschen in allen Einrichtungen der Gemeinde auf strenge religiöse
Regeln festlegen. Seitdem müssen jüdische Sportvereine und
Ferienhäuser ihre Küchenregeln auf koscheres Essen ausrichten,
Ausnahmen werden nicht geduldet. Auf den Friedhöfen werden nur
noch „reine“ Juden beerdigt, nicht mehr ihre Ehepartner. Und Lewin
leitet auch die Rabbinats-Seminare. Vielen liberalen
Gemeindemitgliedern gefällt das nicht, sie ziehen sich aus den
Institutionen zurück. Warum das Attentat auf die AMIA bis heute
nicht aufgeklärt ist?
Take:
„Vivimos en un pais politico ... rabbino lewin 2 – 23´´
Übersetzer:
Wir leben eben in einem politischen Land, das Beziehungen zu
Ländern unterhält, die etwas mit dem Attentat zu tun haben.
Argentinien ist sehr besorgt, seine wirtschaftlichen Interessen nicht
zu verletzen oder Märkte für Geschäfte zu verlieren. Das ist hier
wichtiger als die Wahrheit.
Erzählerin:
Die Hinterbliebenen des Attentats werfen Lewin vor: die von ihm
geleiteten Institutionen hätten sie im Kampf um die Wahrheit alleine
gelassen. Lewin habe stets die DAIA und ihren Chef, Rubén Beraja,
verteidigt. Der Rabbiner runzelt die Stirn.
Take:
„Escúcheme, los familiares ... rabbino lewin 5 – 39´´
Übersetzer:
Hören Sie mir mal zu: Die Familienangehörigen tragen einen Teil der
Verantwortung für das Scheitern der Ermittlungen. Sie haben ihre
Sache zum Spielball der Politik werden lassen, und das geht immer
9
nach hinten los. Einige von ihnen arbeiteten mit der Regierung
zusammen, andere waren total gegen sie, und alle haben irgendwie
ihre eigenen Interessen vertreten. Sie haben diese Sache benutzt,
um in der Politik etwas zu erreichen, je nach Interessenlage. Aber ich
glaube nicht, dass es ihnen dabei um die Wahrheit ging.
Take:
Atmo llamamiento stimmen 2 – 24´´
Erzählerin:
Viele Jahre blieben die Gläubigen ihren Institutionen einfach fern,
erschienen allenfalls noch zur Hochzeit oder zum Begräbnis. Jetzt
hat sich die Gemeinde sogar gespalten. Im vergangenen Jahr wurde
in Buenos Aires Llamamiento ins Leben gerufen, der Aufruf,
angeführt von Jorge Elbaum, einem früheren Geschäftsführer der
DAIA.
Take:
„Estamos construyendo un judaismo ... jorge elbaum llam 2 – 23´´
Übersetzer:
Lange Zeit waren unsere Institutionen sehr konservativ und ließen
die Teile unserer Gemeinde, die sich als progressiv oder links
bezeichnen, außen vor. Wir wollen jetzt mit der Gründung des
„Aufrufs“ eine neue Kraft des Judentums aufbauen, eine Alternative
zu den Konservativen.
Take:
Atmo Llamamiento stimmen1 – 30´´
Erzählerin:
Llamamiento will an die fortschrittlichen, jüdischen Traditionen
anknüpfen und ein Ort für diejenigen sein, die sich als Argentinier
fühlen. Es ist eine weltliche Organisation, Elbaum selbst bezeichnet
sich als nicht-gläubig. Dass die DAIA gegen den Antisemitismus
kämpft und die religiösen und kulturellen Einrichtungen fördert – sei
natürlich korrekt, nicht aber die oft bedingungslose Unterstützung der
jeweiligen israelischen Regierungspartei. Man werde sich eine
kritische Haltung zur Nahost-Politik Jerusalems erlauben, heißt es
bei der Gründungsversammlung.
10
Take:
„Es la constitución .... Llamamiento Atmo Rednerin – 1´04 kürzen
Übersetzerin:
Unsere neue Bewegung entstand, weil das einfach notwendig war –
in vielerlei Hinsicht. Zum Beispiel, weil wir uns von Positionen und
Stellungnahmen unterscheiden wollen, die für sich einen
Führungsanspruch innerhalb der jüdischen Gemeinde reklamieren
und damit auch in unserem Namen sprechen wollen. Damit sind wir
nicht einverstanden. Wir vertreten progressive Ideen. Wir treten ein
für unser Land, für Argentinien und für die breite Bevölkerung. Wir
vertreten ein sehr viel breiteres und sozial engagierteres Spektrum
als die DAIA. Wir wollen ein solidarisches und freundschaftliches
Verhältnis zu unseren argentinischen Mitbürgern, zu unseren
lateinamerikanischen Brüdern und Schwestern und zu allen Bürgern
dieser Welt.
Erzählerin:
Zurück zum Landgericht Buenos Aires. Den Prozess wegen
Vertuschung haben die DAIA-Funktionäre mit Nichtachtung gestraft,
schimpft Monica von Memoria Activa.
Take
„Los dirigentes comunitarios ... amia juicio memoria act monica 1 –
44´´
Übersetzerin:
Die Gemeindevorsitzenden haben nicht ein einziges Mal Druck gemacht,
dass das Verfahren überhaupt eröffnet wird. Sie sind auch nie zur
Verhandlung gekommen – das ist schon aufschlussreich! Sie haben sich
immer hinter Beraja gestellt, ohne den Ausgang der Ermittlungen
abzuwarten. Wir fühlen uns von denen überhaupt nicht repräsentiert! Für
die DAIA war das Wort des Ermittlungsrichters, also von dem, der heute
vor Gericht steht, das heilige Wort. Über zwanzig Jahre hat sie nur
vertuscht. Und heute klagen wir den ehemals höchsten Funktionär der
DAIA an.
11
Erzählerin:
Wie Monica, müssen alle Zuschauer den Gerichtssaal verlassen,
weil gerade ein Beamter des Geheimdienstes aussagt. Die
Nebenkläger dürfen im Raum bleiben und morgen wird alles auf der
Homepage von Memoria Activa nachzulesen sein. Neben Monica
sitzt Marcela, Ehefrau eines der damals beschuldigten Polizisten.
Ihre Einheit gilt in der Bevölkerung als brutal und korrupt, und die
Argentinier trauten ihnen so ziemlich alles zu, auch einen
Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindehaus. Vermutlich
deshalb haben sie, im Gegensatz zu den Hinterbliebenen des AMIAAttentats, niemals öffentliche Solidarität, erinnert sich Marcela:
Take:
„Hoy estamos con Memoria activa .... amia juicio marcela 2 – 28´´
Übersetzerin:
Heute sitzen wir im und vor dem Gerichtssaal neben den jüdischen
Frauen von Memoria Activa. Das hätten wir uns damals nicht
vorstellen können. Was hätten wir jemandem, der einen geliebten
Menschen verloren hat, sagen sollen? Sie hielten uns für schuldig,
schließlich hatten ein Bundesrichter und mehrere Staatsanwälte
unsere Ehemänner wegen Mordes angeklagt.
Erzählerin:
Acht Jahre und zwei Monate waren die Polizisten inhaftiert. Erst in
dem öffentlichen Gerichtsverfahren brach die Anklage zusammen.
Und weitere elf Jahre vergingen, bis das Verfahren wegen
Vertuschung eröffnet wurde. Die Polizisten wurden zwar auf freien
Fuß gesetzt, aber auch ihnen schuldet die argentinische Gesellschaft
bis heute die Wahrheit: wer es war, der ihnen die Schuld in die
Schuhe schieben wollte und warum?
.
Die Mörder und ihre Hintermänner sind bis heute nicht ermittelt. Der
frühere Präsident Menem lehnt es aus „gesundheitlichen Gründen“
ab, vor Gericht zu erscheinen. Über seinen Anwalt ließ er erklären,
dass er sein Wissen über das Attentat leider nicht preisgeben könne,
da dies „Staatsgeheimnisse“ seien. Die großen jüdischen
Institutionen wie die DAIA und die AMIA haben dagegen nicht
protestiert.
12
Der blutige Anschlag auf das jüdische Gemeindehaus wird wohl nie
aufgeklärt werden. Wieder einmal bleibt die Wahrheit auf der
Strecke, jenes hohe Gut aller Weltreligionen, die die Lüge
verdammen und die Bestrafung von Verbrechen gebieten. Das weiss
auch der Rabbiner Lewin:
Take:
„Seguro que les voy a decir ... rabbino lewin 3 – 17´´
Übersetzer:
Natürlich spreche ich den Gläubigen Mut zu und sage ihnen, dass
sie weiter nach der Wahrheit suchen sollen. Aber die Realität ist
leider eine andere. Die Welt funktioniert so nicht. Wir wollen alle,
dass die Wahrheit herauskommt und dass die Schuldigen verurteilt
werden. Aber die Welt ist so nicht.
13