1 Rede beim Oster-Friedensspazierganz 2015 in Marburg Eva Chr

Rede beim Oster-Friedensspazierganz 2015 in Marburg
Eva Chr. Gottschaldt
Anlässlich des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz verkündete Bundespräsident Gauck,
es gäbe keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Worauf er hinaus wollte, hatte er zuvor
schon bei der Münchener Sicherheitskonferenz erklärt. Wörtlich: „Manchmal kann auch der
Einsatz von Soldaten erforderlich sein. ... Ich muss wohl sehen, dass es bei uns - neben
aufrichtigen Pazifisten - jene gibt, die Deutschlands historische Schuld benutzen, um dahinter
Weltabgewandtheit oder Bequemlichkeit zu verstecken. ... Zudem sollte es heute für
Deutschland und seine Verbündeten selbstverständlich sein, Hilfe anderen nicht einfach zu
versagen, wenn Menschenrechtsverletzungen in Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen
Säuberungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit münden.“ Gauck setzt damit fort,
was Joschka Fischer 1999 auf dem Sonderparteitag der Grünen begonnen hatte: den
Missbrauch der Erinnerung an die Opfer der schlimmsten von Deutschen begangenen
Verbrechen zur Begründung militärischer Einsätze der Bundeswehr im Ausland. Gauck stellt
eine doppelte Falle: eine logische, indem er uns weiszumachen versucht, das Gegenteil von
Weltabgewandtheit und Bequemlichkeit sei einzig und allein die militärische Aktion. Und
eine moralische, denn Auschwitz ist natürlich ein ungeheures Argument. Wen ließe das
Schicksal vergewaltigter Frauen, entführter Schulmädchen, vertriebener Yeziden kalt? Seine
Strategie dahinter ist jedoch, zu eindimensionalen Antworten zu verführen. Aber es wäre
gefährlich, nur eindimensionale Antworten auf die komplexen Herausforderungen zu geben,
vor denen wir heute stehen. Gauck benutzt für seinen argumentativen Trick die Geschichte,
aus der man sich aber nicht raussuchen kann, was einem gerade passt. Geschichte gibt es nur
als Ganzes und in langen Zusammenhängen. So sind die Verwerfungen, Tragödien und
Verbrechen, die sich gerade in Nahen Osten abspielen, kaum zu begreifen, wenn man nicht
die Geschichte des europäischen Kolonialismus einbezieht, die Schaffung künstlicher Staaten
durch Briten und Franzosen nach dem Ende des Osmanischen Reiches, das Einsetzen von
Vasallenregierungen im Interesse der sogenannten Mandatsmächte. So wie im Leben des
menschlichen Individuums Erfahrungen von Gewalt und Demütigung lange wirken und über
Generationen unterschwellig weitergegeben werden, bleiben sie auch im gemeinsamen
Gedächtnis von Kollektiven über Jahrzehnte und Jahrhunderte wirksam. Wie beim Einzelnen
können in Kollektiven über Generationen weitergereichte Erfahrungen von Gewalt und
Demütigung aufbrechen oder abgerufen werden, sich entladen in gewaltsamen,
zerstörerischen und selbstzerstörerischen Taten. Darin übrigens sollte man die Ursache der
Gewalt suchen und nicht in aus dem Zusammenhang gepickten Bibel- oder Koranversen, die
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unter anderen Umständen diese Gewalt eben nicht bewirken. Und der ausgreifendste,
blutigste, ausbeuterischste, demütigendste und nachhaltigste Überfall der Weltgeschichte war
immerhin der des christlichen Europa auf den Rest der Welt! Das heißt, nebenbei bemerkt,
auch, dass zu kultureller Arroganz kein Anlass besteht: weder hat die Aufklärung Engländer
und Franzosen vor der historischen Schuld des Kolonialismus, noch hat die Reformation uns
Deutsche vor der Katastrophe und Schuld von Auschwitz bewahrt. Und die IS-Männer, die
ihre Opfer, bevor sie sie ermorden, in die gleichen roten Overalls stecken, wie sie die
Häftlinge von Guantanamo tragen – halten sie nicht mit dem ihnen eigenen Zynismus dem
Westen ein grässlich-höhnisches Spiegelbild vor?
Wundert sich jemand darüber, dass die künstlichen Grenzen im Nahen Osten fragil sind und
viel ältere nationale, kulturelle und konfessionelle Konflikte aufbrechen? Die kann man nicht
einfach zerschießen wie einen gordischen Knoten! Ist – so betrachtet – am Ende das
fürchterliche Phänomen dessen, was wenig analytisch als Terrorismus bezeichnet wird, eine
pervertierte Form des internationalen Klassenkampfes, wobei bei der Zeitplan eines SimpelMarxismus durcheinandergerät und Konflikte, die theoretisch den aufeinanderfolgenden
Gesellschaftsformationen des Feudalismus und des weltumspannenden neoliberalen
Kapitalismus zugeordnet sind, sich ineinander verkeilen?
Misstrauen gegenüber dem scheinbar ethischen Argument, es gelte, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit militärisch zu verhindern, ist auch geboten, weil dieses immer selektiv
gebraucht wird. Warum marschiert die Bundeswehr eigentlich nicht in Indien oder Mexiko
ein, wo massenhaft Frauen vergewaltigt und ermordet werden? Meist genügt ein Blick auf
Rohstoffvorkommen und Handelsbeziehungen, um dies zu erklären. Wer aber
Menschenrechte selektiv als Argumente benutzt, der missbraucht sie, er instrumentalisiert die
Opfer. Das ist nicht ethisch, sondern zutiefst unmoralisch und inhuman.
Die Befürworter von Auslandseinsätzen der Bundeswehr, egal in welcher Konstellation,
sagen uns auch in aller Regel nicht, wie sie aus dem Einsatz wieder rauskommen wollen. Es
geht ja nicht nur darum, Soldatinnen und Soldaten abzuziehen, sondern darum, die Region
wieder aufzubauen. Und zwar nicht nur die physische Infrastruktur, an deren
Wiederherstellung dann westliche Banken und Baufirmen gut verdienen. Sondern das
Bildungs- und Gesundheitswesen, Kulturinstitutionen und alle Strukturen einer
Zivilgesellschaft, ohne die die Entwicklung demokratischer Gesellschaften und die Sicherung
der Menschenrechte kaum möglich sind, die aber nicht so schnell Profit abwerfen. Wer
bezahlt das? Mal ganz abgesehen von der Umweltzerstörung, die Kriege immer auch
anrichten. Wer sammelt die Minen wieder ein, sorgt für die Menschen, deren Nieren durch
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Uran-Munition vergiftet sind? Wie lange brauchen panzerzerwühlte Felder, bis man auf ihnen
wieder Nahrungsmittel anbauen kann? Was für die Vergangenheit gilt, gilt auch für die
Zukunft: die Konflikte sind eben nicht weg, wenn ausländische Truppen wieder abziehen, sie
schwelen weiter oder explodieren offen. Aus Krieg folgt neuer Krieg. Und der wird geführt
mit den Waffen, die zuvor geliefert wurden, unter welchem Vorwand auch immer! Nein, die
Opfer sind nicht immer die Guten und Kleinwaffen sind gar nicht klein, sondern gemessen an
der Zahl der durch sie Getöteten die tödlichsten Waffen überhaupt. In allen Ländern, aus
denen Menschen vor Krieg und Bürgerkrieg zu uns flüchten, kommen deutsche Kleinwaffen
zum Einsatz.
Aber wie antworten wir nun als Friedenbewegung, als Antifaschisten, auf das
missbräuchliche Auschwitz-Argument und Menschenrechtsgerede der Fischers, Gaucks und
Co.? Sozusagen vorab und außerhalb der Debatte ist festzuhalten, dass in dieser
Argumentation auch eine Entlastung des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen liegen
kann: Seht her, nicht nur die Deutschen waren zum Massenmord fähig! Und dass es deshalb
auch wichtig ist, das Wort Faschismus nicht inflationär zu verwenden: Faschismus ist ein
analytischer Begriff, der auf die Interessenten und Profiteure zielt und eine Herrschaftsform
des Kapitalismus bezeichnet. Benutzt man ihn deskriptiv zur Beschreibung des
Grausamkeitsgrades einer Tyrannei, dann wird alles, von der Babylonischen Herrschaft im
Altertum über Pol Pot bis zum Islamischen Staat zu Faschismus und man hat immer noch
nicht verstanden, wo die tieferen Ursachen liegen.
Dennoch: es ist ja wirklich schwierig, auf die ethische Herausforderung nicht spontan eine
Antwort zu geben, die als ethisch daherkommt, tatsächlich aber eine Illusion ist, nämlich die
Illusion von der schnellen Lösung ohne schlimme Folgen. Die aber werden unvermeidlich
sein: Der sogenannte Islamische Staat hatte ja Vorgänger. Und selbst wenn man ihn
zerbombt, wird er Nachfolger haben, denen der Zorn über die unvermeidlichen
Kollateralschäden, sprich den in Kauf genommenen Tod unbeteiligter Menschen, noch mehr
Zulauf und noch mehr mörderische Energie verschaffen wird. Stattdessen gilt es, nach
langfristigen und nachhaltigen Wegen zu Gerechtigkeit und Frieden zu suchen, die die Logik
des Krieges durchbrechen. Ja, es ist schwer, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen von der
Argumentation mit der „ultima ratio“. Angesichts der vielen Toten durch gegenwärtige
Gewaltexzesse wirkt es unethisch, auf zukünftige, nur langfristig zu erreichende Lösungen zu
verweisen, statt jetzt Menschen zu retten. Aber ist die Alternative zum Militäreinsatz z. B. der
Bundeswehr wirklich, die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen? Das scheint mir von
tödlicher Phantasielosigkeit zu sein. „Ultima ratio“, heißt „allerletztes Mittel“ und wir müssen
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die, die diese moralische Keule schwingen, zurückfragen, ob sie alle näherliegenden Wege
schon gegangen sind in ihrer konkreten Politik. Die UNO ist ein legitimes Kind der
Antihitlerkoalition und gerade von denen, die von Auschwitz reden, müssen wir Rechenschaft
fordern, ob sie für eine Politik eintreten, die die UNO und ihre Organisationen stärkt,
ausreichend finanziert und umsetzt, was dort an Konzepten entwickelt wurde und an
Instrumenten vorhanden ist. In diesem und nur in diesem Rahmen wären die UNOBlauhelmtruppen auszubauen, mit klarem Auftrag und ausreichender Ausrüstung zu
versorgen. Wäre nicht genau dies und nicht irgendeine Auschwitz-Rhetorik die richtige
Schlussfolgerung aus dem Massaker von Srebrenica? Treten die Mächtigen dieser Welt ein
für ein völliges Verbot des Waffenhandels, vor allem des Handels mit Kleinwaffen? Nehmen
sie großzügig Flüchtlinge auf – auch Deserteure und Frauen, die wegen ihres Geschlechts
verfolgt und verletzt werden? Helfen sie den Nachbarländern von Konfliktgebieten wirksam
dabei, Kriegsflüchtlingen Aufnahme und Perspektive zu bieten? Verfolgen sie eine
Entwicklungspolitik, die tatsächlich beim Aufbau von Strukturen hilft, die den Menschen
dienen und die Natur schonen, statt den Industriestaaten unter dem Strich mehr zu bringen, als
sie reinstecken? Ordnen sie Menschenrechte nicht mehr den ökonomischen Interessen unter?
Messen sie nicht mehr mit doppelten Standards, wenn sie von „Völkermord,
Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
sprechen? Sprechen sie von den Todesopfern des weltweiten Neoliberalismus, den Opfern
von Krankheiten und Hunger, den Vertriebenen durch Umweltzerstörung? Nehmen sie die
Schuldenlast von den armen Ländern, statt die Entwicklungschancen der Menschen der
Weltbank und dem Weltwährungsfond, dem weltweiten Neoliberalismus zu überlassen?
Akzeptieren sie eine umfassende Pflicht zum Bericht über die Wahrung der Menschenrechte
im eigenen Land und in der Außenpolitik, die die vielbeschworenen Werte des Westens
glaubwürdig macht? Solange diese Punkte, um nur diese zu nennen, nicht Grundlagen
deutscher Politik sind, möge man uns von Leib bleiben mit einer „ultima ratio“, die die Logik
des Krieges nicht durchbricht. Entschieden weisen wir auch die unverschämte
Schuldzuweisung zurück, die damit verbunden ist. Nicht wir Pazifisten und Antimilitaristen
tragen die Verantwortung für das Leid, den Tod, in den gegenwärtigen Kriegen. Sondern
diejenigen, die keine langfristigen, nachhaltigen Wege im genannten Sinn zu gehen bereit
sind. Alles in allem werden wir als Antifaschisten und Friedensaktivisten
also sehr gut aufpassen müssen, was uns in diesem Jahr zum 8. Mai, dem 70. Jahrestag der
Befreiung von Faschismus und Krieg erzählt wird. Wir werden weder hinnehmen, dass die
Erinnerung an Auschwitz an diesem Tag missbraucht wird zur Begründung des Militarismus.
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Noch, dass die Sehnsucht der Menschen nach Frieden missbraucht wird, um die
Friedensbewegung nach rechts zu öffnen.
Der Text kann unverändert(!!) verbreitet werden.
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