Wo bleibt das Hirn? - Die Onleihe

Die unabhängige Zeitung für Baden-Württemberg
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Dienstag, 14. Oktober 2014
Nr. 237 | 42. Woche | 70. Jahrgang | E 4029
Keine Deutschen
an die Front
Neue Medien
Wo bleibt
das Hirn?
Syrien Die Kurden brauchen
Hilfe. Aber ein Kampfeinsatz
der UN wäre die falsche
Antwort. Von Knut Krohn
E
Wer soll Berlin regieren? Drei
Kandidaten buhlen um die SPD
Niedrigzins: Bund
spart 54 Milliarden
Der Bundesrechnungshof warnt die Regierung davor, sich beim geplanten Ausgleich
des Bundeshaushalts auf niedrige Zinsen
zu verlassen. In einem Bericht an den Bundestag, welcher der StZ vorliegt, kommt der
Rechnungshof zu dem Ergebnis, dass die
Zinsersparnis des Bundes von 2014 bis
2017 voraussichtlich 54 Milliarden Euro
beträgt. Diese Zahl ergibt sich aus dem Vergleich alter und aktueller Finanzpläne.
Allerdings seien Ersparnisse nicht von
Dauer. Ein möglicher Zinsanstieg würde
schnell und spürbar auf die Zinslast des
Bundes durchschlagen, heißt es. Der Rechnungshof kommt zu dem Schluss, dass die
günstigeren Etatzahlen vor allem auf niedrigen Zinsen, höheren Steuereinnahmen
und geringeren Zuschüssen des Bundes an
Sozialkassen beruhen.
rop
– Kommentar: Nicht alte Fehler machen SEITE 3
– Neue Löcher in Schäubles Etat SEITE 4
Mehr S-Bahn-Fahrgäste
Die Pünktlichkeitswerte der Stuttgarter SBahn sind in den vergangenen Wochen auf
einen neuen Tiefstand gesunken. Dennoch
nutzen immer mehr Fahrgäste die sieben
Linien. Besonders die neuen Streckenabschnitte weisen hohe Zuwächse auf. SEITE 17
Warnung vor Ebola-Panik
Nach der Infektion einer Krankenschwester bei einem Ebola-Patienten in den USA
läuft die Suche nach der Ursache. Das Risiko einer Infektion in Deutschland über eingereiste Erkrankte hält Gesundheitsminister Gröhe für „sehr, sehr gering“. SEITE 7
Die Macht der Märkte
Den Nobelpreis für Wirtschaft bekommt
der Franzose Jean Tirole. Der 61-Jährige
wurde für seine Forschungen über Marktmacht und Regulierung geehrt. Seine
Arbeiten würden den Wettbewerbsbehörden weltweit helfen, so die Jury. SEITE 9
Mittwoch
18°/12°
Donnerstag
18°/11°
Börse SEITEN 13, 14
Dax 8812,43 Punkte (+ 0,27 %)
Dow Jones 16 321,07 Punkte (– 1,35 %)
Euro 1,2679 Dollar (Vortag: 1,2638)
Ausführliches Inhaltsverzeichnis SEITE 2
26042
4 190402 901602
Stuttgart
Thema
Historikerin hat neue Erkenntnisse
zu General Erwin Rommel SEITE 17
EM-Qualifikation: was die DFB-Elf
gegen Irland verbessern muss SEITE 32
Land stellt mehr Geld
für Flüchtlinge bereit
Die Landesregierung richtet 3000 Plätze in Notunterkünften
ein. Kretschmann warnt vor Alarmismus. Von Reiner Ruf
Treffen
ie Landesregierung stockt die Kapazitäten zur Unterbringung von
Flüchtlingen erneut auf. Das ist das
Ergebnis des Flüchtlingsgipfels, zu dem
Ministerpräsident Winfried Kretschmann
für Montagabend in Stuttgart geladen hatte. Der Grünen-Politiker sagte im Anschluss an das Treffen mit Vertretern von
Kommunen, Kreisen, Kirchen und Verbänden: „Wir stehen vor einer großen und
ernsten Aufgabe, für Alarmismus gibt es jedoch keinen Grund.“ Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn sprach von einem
„sehr guten Arbeitsgipfel ohne Hysterie“.
Konkret stellte die Landesregierung in
Aussicht, in den kommenden drei bis vier
Monaten 3000 zusätzliche Plätze für die
Erstaufnahme von Flüchtlingen in Notunterkünften zu schaffen. Ministerpräsident Kretschmann fügte hinzu, man sei
sich einig gewesen, in den Regierungspräsidien und den Aufnahmeeinrichtungen
angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen zusätzliche Stellen zu schaffen. Dort,
wo Flüchtlingsunterkünfte bestehen, wird
die Polizei verstärkt.
Darüber hinaus sollen die Städte und
Gemeinden mittels eines Sonderwohnungsbauprogramms entlastet werden, das
in den kommenden zwei Jahren mit insgesamt 30 Millionen Euro bestückt wird. Weil
mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen
auch mehr Kinder ins Land kommen, werden zusätzlich 200 Deputate für Vorbereitungsklassen geschaffen. Diese bereiten die
Kinder auf die Teilnahme am regulären
D
Schulunterricht vor. Ministerpräsident
Kretschmann kündigte überdies an, das
Land werde Mädchen und Frauen aus dem
Nordirak und aus Syrien aufnehmen, die
Opfer sexueller Gewalt geworden sind.
Den Kommunalverbänden sagte Kretschmann zu, dass das Land seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt. Städtetagspräsidentin Barbara Bosch hatte verlangt, dass das Land zumindest für die Liegenschaften und die Kosten der Krankenbehandlung eine Spitzabrechnung, also
eine volle Einzelerstattung an Stelle der
bisherigen Pauschalzahlungen zulasse.
Kretschmann erwiderte, das Land prüfe
dies noch. Roger Kehle, der Präsident des
Gemeindetags, äußerte sich zurückhaltend: „Jetzt müssen wir aus viel gutem Willen ein tragfähiges Konzept machen.“
Kretschmann wurde nach dem Treffen
auch auf den Aufnahmestopp angesprochen, den der Esslinger Landrat Heinz Eininger verfügt hatte. Dazu äußerte sich der
Regierungschef entschiedener als in den
vergangenen Tagen: Bei der Unterbringung von Flüchtlingen handle es sich um
eine hoheitliche Aufgabe, die nicht im Ermessen eines Landrats liege. Joachim
Walter, der Präsident des baden-württembergischen Landkreistages, sagte nach
dem Treffen, der Landkreis Esslingen
werde Flüchtlinge – auch nachholend –
wieder aufnehmen, sobald ausreichend
Unterkünfte bereit stünden. „Es geht
nicht um Verweigerung.“
– Kretschmann gegen Aufnahmestopp SEITE 5
IS-Kampf: Türkei
weist USA zurück
Trotz des Vormarsches der Terrormiliz IS
streiten die USA und die Türkei weiter über
die Nutzung von Stützpunkten. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte am Montag, es gebe noch keine Einigung,
dass die internationale Allianz die türkischen Stützpunkte für den Kampf gegen
den IS nutzen kann. Er dementierte damit
Aussagen von Susan Rice, der Sicherheitsberaterin von US-Präsident Barack Obama.
In der Diskussion um das weitere Vorgehen gegen den IS schloss die Bundesregierung den Einsatz deutscher Bodentruppen
in Syrien aus. Außenminister Frank-Walter
Steinmeier (SPD) wies entsprechende
Überlegungen der Grünen zurück.
dpa
– Washington fordert, Ankara zögert SEITE 2
Luff
Ausgedient
Clooneys Frau als Anwältin für Athen
urz nach der Hochzeit mit George ClooRecht Alamuddin setzt mente im Gesamtgewicht von 220 Tonnen aus den
Tempeln brechen, wobei seine Arbeiter erhebliche
ney ist seine Frau Amal Alamuddin besich für die Rückgabe
ruflich schon wieder eingespannt. Am von Marmorstücken ein. Zerstörungen anrichteten. Die Stücke ließ der Diplomat auf Staatskosten nach London bringen und
Mittwoch wird die 36-jährige Libanesin mit briVon Gerd Höhler
verkaufte sie später an das Britische Museum.
tischem Pass beim griechischen MinisterpräsiSchon damals sprachen selbst viele britische Exdenten Antonis Samaras erwartet – in ihrer
Eigenschaft als Anwältin der Londoner Kanzlei Doughty Street perten von Diebstahl. Die Museumsleitung aber verweigert bis
Chambers. Sie will mit Samaras klären, welche rechtlichen heute eine Rückgabe. Nicht einmal Stücke, die wegen der braMöglichkeiten es gibt, ein griechisches Jahrhundertprojekt chialen Gewalt Elgins nur als Fragmente ausgestellt sind, will
endlich zum Erfolg zu bringen: die Rückführung der Marmor- das Museum herausgeben. So befindet sich der halbe Torso
fragmente, die der britische Lord Elgin Anfang des 19. Jahrhun- einer Poseidon-Statue in London, die andere Hälfte in Athen.
Lange argumentierte das Britische Museum, es gebe in
derts von der Athener Akropolis an die Themse entführte.
Die „Elgin Marbles“ sind eine der größten Attraktionen des Athen gar keine geeignete Unterbringung. Dieser Einwand ist
Britischen Museums – darunter Statuen, Säulenfragmente, Ka- hinfällig, seit 2009 das neue Akropolis-Museum eröffnet wurpitelle und 56 der 96 Platten vom Fries des Parthenon-Tempels. de. Hier sind die Plätze für die Marmorfragmente bereits reserSeit Jahrzehnten fordert Griechenland die Herausgabe der viert. Überdies stellte sich heraus, dass viele der Stücke in LonMarmorstücke. Lord Elgin, einst britischer Botschafter des Os- don Ende der 1930er Jahre unsachgemäß poliert und dadurch
manischen Reiches, hatte sich eine Genehmigung der Türken stark beschädigt wurden. Auch das könnte ein Argument sein,
geholt, die damals Athen besetzt hielten, „einige Steine“ von der mit dem Amal Alamuddin Clooney und ihre Kollegen jetzt
Akropolis zu entfernen. Tatsächlich ließ Elgin Marmorfrag- rechtliche Schritte zur Herausgabe der Marmorstücke prüfen.
K
Wetter SEITE 8
Dienstag
19°/10°
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Fotos: dpa Montage: Klöpfer, Rötgers
Das Internet weiß fast alles – aber
damit muss man umgehen können.
Forscher fordern eine neue Art
kritischen Denkens. SEITE 16
Die Dritte Seite
www.stuttgarter-zeitung.de
s ist viel von Menschlichkeit die Rede in diesen Tagen. Tatsächlich sind
die Bilder aus Kobane kaum mehr
zu ertragen. Im Häuserkampf werden kurdische Kämpfer von Terroristen des Islamischen Staates abgeschlachtet, während
auf einem Hügel in Sichtweite die Besatzungen türkischer Panzerverbände tatenlos zusehen. Das Töten müsse endlich beendet werden, führen westliche Politiker
vehement das Wort. Das aber ist eine wohlfeile Forderung, denn verteidigt werden
soll die Menschlichkeit in Kobane allein
von der Türkei. Nun hat sich die GrünenPolitikerin Katrin Göring-Eckardt zu Wort
gemeldet. Auch sie will natürlich das Ende
des Mordens, doch die Bundestagsfraktionsvorsitzende geht einen Schritt weiter:
die Politikerin verlangt ein robustes UNMandat im Kampf gegen die IS-Terrormilizen. In der Konsequenz heißt das, dass in
Syrien bald auch deutsche Bundeswehrsoldaten in den Krieg ziehen könnten.
Aber hat Katrin Göring-Eckardt das
Szenario wirklich zu Ende gedacht? Wahrscheinlich ist, dass eine internationale Allianz mit einem Mandat der Vereinten Nationen Kobane aus den Klauen der Islamisten befreien könnte. Aber was geschieht danach? Hat die Menschlichkeit damit obsiegt, und die Blauhelme ziehen sich wieder
in ihre Kasernen zurück? Genau das
Gegenteil wäre der Fall. Die UN hätten sich
mit einem solchen Kampfeinsatz in einen
völlig unübersichtlichen Krieg verstrickt,
der militärisch nicht zu gewinnen ist – weswegen alle maßgeblichen Politiker gegen
Bodentruppen in Syrien sind. Um in Syrien
in eine blutige Schlacht zu ziehen, braucht
es mehr als eine nur grobe Vorstellung, welche politischen oder auch humanitären
Ziele damit erreicht werden sollen. Doch
an dieser gemeinsamen Strategie, einem
umfassenden Plan für die Zukunft des Landes, fehlt es schon seit Beginn des Bürgerkrieges vor drei Jahren. Zu lange wurde von
allen Seiten gezögert und gezaudert – was
das Auseinanderbrechen Syriens beschleunigte und am Ende erst den Aufstieg der
Terrormilizen des IS möglich machte.
Inzwischen verbietet es sich fast, von
einer irgendwie demokratisch gearteten
politischen Ordnung in Syrien auch nur zu
träumen. Sogar die Rückkehr des verhassten Diktators Baschar al-Assad scheint
möglich. Von einem „regime change“ in Damaskus ist in den westlichen Hauptstädten
jedenfalls keine Rede mehr. Der IS wird
derzeit als wesentlich größere Gefahr angesehen als Assad. Das Massaker in Kobane
zeigt aber, dass der Westen den Dingen in
Syrien nicht einfach ihren freien Lauf lassen kann. „Kobane liegt auch in Deutschland“, skandieren die demonstrierenden
Kurden aus zigtausend Kehlen während
ihrer Protestzüge durch Düsseldorf, Berlin
oder auch Stuttgart. Das ist nicht nur ein
Flehen nach Hilfe, das ist auch eine Warnung an all jene, die glauben, dass das Pulverfass im arabischen Raum eine nur regional begrenzte Sprengkraft besitzt.
Der Schlüssel zur Lösung des drängendsten Problems liegt im Moment in Ankara. Die Türkei muss überzeugt werden,
die Grenzen zum Kriegsgebiet besser zu
kontrollieren und die Unterstützung für
den kurdischen Widerstand gegen den IS
zumindest nicht zu behindern. So kann Kobane gerettet werden. Im Gegenzug muss
sich die Türkei darauf verlassen können,
dass die Kurden ihre Waffen nicht gegen
Ankara erheben. Die längerfristige Zielsetzung aber ist komplizierter. Im Zentrum
muss dabei der Sturz des Diktators in Damaskus stehen. Mit Assad hat Syrien keine
Zukunft. Ohne ihn besteht zumindest der
Hauch einer Chance auf Frieden. Zu solch
einer langfristigen Strategie kann am Ende
auch der wohl geplante Einsatz von UNBlauhelmen gehören. Sie könnten etwa
Schutzkorridore für Flüchtlinge einrichten
oder Flugverbotszonen sichern. Aber sie
sollten nicht in der syrischen Schlacht des
„jeder gegen jeden“ verheizt werden.
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