Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D Freitag, 20. Februar 2015 · Nr. 43 / 8 D 2 HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER, HOLGER STELTZNER Weiterhin Gefechte in der Ostukraine sat. BERLIN, 19. Februar. Auch einen Tag nach der Einnahme Debalzewes durch die prorussischen Separatisten wird die Waffenruhe in der Ostukraine nicht eingehalten. Nach Angaben des ukrainischen Militärs seien die Stellungen der Regierungstruppen 46 Mal mit Raketen, Artillerie und Panzern beschossen worden. Auch die Hafenstadt Mariupol sei mit Artillerie unter Feuer genommen worden. Die Staats- und Regierungschefs aus Berlin, Paris, Moskau und Kiew bekräftigten nach einem Telefonat am Donnerstag noch einmal ihren Willen, an ihren Vereinbarungen von Minsk festzuhalten. Die Außenminister der vier Länder würden „in den nächsten Tagen“ weiter über die Umsetzung des Maßnahmenkomplexes beraten. Der russische Präsident Wladimir Putin habe zugesagt, auf die Separatisten einzuwirken, um den ebenfalls in Minsk vereinbarten Gefangenenaustausch zu beginnen, hieß es in Berlin. Nach Angaben Kiews seien allein in Debalzewe 90 Soldaten gefangen genommen worden. Der ukrainische Präsident bekräftigte, Voraussetzung für einen Abzug schwerer Waffen sei ein „umfassender“ Waffenstillstand. Zudem schlug er eine durch die Vereinten Nationen mandatierte EU-Polizeimission in der umkämpften Region vor. In Berlin und Brüssel reagierte man skeptisch auf den Vorstoß. (Siehe Seite 2 und Feuilleton, Seite 9.) Heute Nervenkriege Von Berthold Kohler o schnell schießen die Badener S nicht? Da täuschten sie sich, die Griechen. Und nicht nur sie. Der An- Selten so gelacht: Varoufakis und Ministerpräsident Tsipras während der Wahl des neuen Staatspräsidenten im Athener Parlament Foto Imago Schäuble weist Athens Antrag empört zurück „Kein substantieller Lösungsvorschlag“ / Griechenland zu Nachbesserungen nicht bereit Ohne Mutter geht es nicht Familien mit vier, fünf Kindern brauchen ein Vermögen, aber gleichzeitige Karrieren können die Eltern vergessen. Wirtschaft, Seite 16 Armes Berlin Auch in den Stadtvierteln des Latte macchiato kommt vielen Einwohnern das dichte Netz von Hilfsdiensten sehr gelegen. Politik, Seite 3 Cowboy und Wisent Von Rindviechern: Der neue Krieg in Europa zeigt brutal Gewinner und Verlierer der Evolution. Feuilleton, Seite 9 Verdurstet Kalifornien? Das vierte Dürrejahr lässt manche sogar wieder auf Meerwasserentsalzung hoffen. Andere müssen Wasser sparen. Wirtschaft, Seite 17 wmu./mas. BRÜSSEL/BERLIN, 19. Februar. Die griechische Regierung will sich weiterhin nicht auf die Bedingungen des Hilfsprogramms einlassen, welche ihre Vorgängerin mit den europäischen Gläubigern abgeschlossen hat. Finanzminister Giannis Varoufakis ist am Donnerstag zwar der Aufforderung der Eurogruppe gefolgt, einen Antrag auf Verlängerung der Ende Februar auslaufenden Hilfe zu stellen. In einem Brief an den Vorsitzenden der Eurofinanzminister, den niederländischen Ressortchef Jeroen Dijsselbloem, schrieb Varoufakis, seine Regierung strebe eine Verlängerung der „Kreditvereinbarung“ um sechs Monate an. In dem Schreiben ist jedoch abermals die Rede davon, dass die Reformvereinbarungen der Gläubiger mit der Vorgängerregierung durch die griechischen Wahlen „ungültig“ geworden seien. Deshalb bekennt sich Varoufakis nur in allgemeiner Form zu Reformzusagen. Konkrete Zahlen enthält der Brief nicht. Dijsselbloem berief am Donnerstag ein Sondertreffen der Eurogruppe für diesen Freitag ein. In Berlin stieß der griechische Antrag aus Athen auf deutliche Ablehnung. „Der Brief aus Athen ist kein substantieller Lösungsvorschlag. In Wahrheit zielt er auf eine Brückenfinanzierung, ohne die Anforderungen des Programms zu erfüllen“, äußerte der Sprecher von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). „Das Schreiben entspricht nicht den am Montag in der Eurogruppe vereinbarten Kriterien.“ Wie groß der Verdruss über das Taktieren, Lavieren und Hinhalten der griechischen Regierung ist, bestätigen interne Einschätzungen aus Regierungskreisen. Mit dem griechischen Schreiben brauche Schäuble nicht vor den Bundestagsabgeordneten für eine Verlängerung des Programms zu werben. „Der Brief ist ein Trojanisches Pferd“, hieß es etwa. Auf den ersten Blick sehe das alles nett aus. Supervision klinge gut, es finde sich ein Hinweis auf die Institutionen, die Leistungen der Kreditgeber würden gewürdigt. „Man muss es drei Mal lesen, um die ganze Hinterfotzigkeit des Briefes zu verstehen.“ Auch der finnische Ministerpräsident Alexander Stubb nannte den Antrag „nicht ausreichend“. Die Regierung in Athen teilte postwendend mit, die Eurogruppe könne den Antrag „annehmen oder ablehnen“. Sie sei zu einer Nachbesserung nicht bereit. Positivere Reaktionen auf den griechischen Brief kamen aus der EU-Kommission und aus Frankreich. Ein Sprecher von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sagte, der Antrag eröffne „den Weg für einen vernünftigen Kompromiss“. Der französische Premierminister Manuel Valls sprach in der Nationalversammlung von einem „ermutigenden Zeichen“. (Siehe Wirtschaft, Seiten 15 und 17.) Bundesamt rechnet 2015 mit 300 000 Asylanträgen Steigerung zum Vorjahr um fünfzig Prozent / Zahl der Abschiebungen gestiegen elo. BERLIN, 19. Februar. Deutschland zieht immer mehr Menschen aus dem Ausland an. Das gilt sowohl für Asylbewerber als auch für Einwanderer. Allerdings steigt auch die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erwartet laut einer Prognose, dass die Zahl der Asylanträge in diesem Jahr auf 300 000 steigen wird. Das wäre gegenüber dem Vorjahr, in dem 203 000 Asylanträge gestellt wurden, eine Steigerung um fünfzig Prozent. Nach den Angaben des BAMF sind 250 000 Erst- und 50 000 Folgeanträge zu erwarten. Die Ursache sieht das BAMF nach Angaben einer Sprecherin in den zahlreichen Krisenregionen. So zeichne sich etwa in Syrien keine Verbesserung der Situation ab. Seit einiger Zeit kommen die meisten derjenigen, die in Deutschland Asyl beantragen, aus Syrien. Die Sprecherin wies jedoch auch auf die hohe Zahl von Flüchtlingen aus den Balkanstaaten hin. Arbeitslosigkeit und fehlende wirtschaftliche Perspektiven seien die Hauptmotive für die Flucht dieser Menschen. Während Flüchtlinge aus Syrien in der Regel schnell anerkannt werden, müssen Asylbewerber aus Balkanstaaten meist mit einer Ablehnung rechnen. Besonders die vielen aus dem Kosovo kommenden Menschen machen den deutschen Behörden in jüngster Zeit Sorgen. Nach Angaben aus Serbien und Österreich gehen die Zahlen allerdings zurück. Hätten in jüngster Zeit täglich einige hundert Kosovo-Albaner versucht, illegal von Serbien in das EU-Land Ungarn zu kommen, seien jetzt nur noch einige wenige aufgegriffen worden, sagte der serbische Innenminister Nebojša Stefanović am Donnerstag in Belgrad. Die österreichische Innenministerin Johanna MiklLeitner berichtete in Belgrad, die Zahl der Asylanträge von Kosovo-Albanern in ihrem Land habe sich in der vorigen Woche halbiert. Im vergangenen Jahr wurden so viele Menschen aus Deutschland abgeschoben wie schon seit acht Jahren nicht mehr: 10 884 Personen waren es im Jahr 2014. Mehr Rückführungen hatte es zuletzt im Jahr 2006 gegeben, damals waren es 13 894 gewesen. Neben den Asylbewerbern hat Deutschland viele Einwanderer angezogen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stieg deren Zahl um zwanzig Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Damit liegt die Steigerung der Einwanderungsrate im ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahreszeitraum zum vierten Mal hintereinander im zweistelligen Bereich. In der ersten Hälfte des Jahres 2014 seien 667 000 Menschen eingewandert. Die meisten Einwanderer kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes aus EU-Ländern wie Polen, Rumänien und Bulgarien. (Kommentar Seite 8.) Obama: Fremdenhass nutzt nur den Islamisten Beamtenbund fordert Bahn-Schlichter Valls übersteht Misstrauensabstimmung Lebenslange Haftstrafe für Pfleger gefordert anr. WASHINGTON, 19. Februar. Präsident Barack Obama hat am Donnerstag auf einem Gipfel gegen „gewaltsamen Extremismus“ an arabische wie europäische Länder appelliert, nicht durch Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen Terroristen einen Nährboden zu bieten. Politische Unterdrückung spiele Extremisten ebenso in die Hände wie Fremdenfeindlichkeit. Obama nannte es eine „hässliche Lüge“, dass der Westen Krieg gegen den Islam führe. Terroristen hätten die Religion pervertiert. (Siehe Seite 5; Kommentar Seite 8.) enn. BERLIN, 19. Februar. Die Deutsche Bahn will den angekündigten Lokführerstreik noch abwenden. „Wir sind mit der GDL im Gespräch“, sagte Personalvorstand Ulrich Weber. Aus Sicht der Bahn gebe es „keine Veranlassung für Streiks“. Der GDL-Vorsitzende Claus Weselsky bekräftigte die Streikpläne, ohne einen Termin zu nennen. Derweil forderte die Beamten-Dachgewerkschaft DBB einen Schlichter. „Angesichts der verhärteten Situation im Bahnkonflikt würde ich die Einschaltung neutraler Dritter nicht für falsch halten“, sagte der DBB-Vorsitzende Klaus Dauderstädt dieser Zeitung. Zuvor hatte sich der DBB erstmals von der GDL distanziert, deren Ausstände er finanziert. (Siehe Wirtschaft, Seite 15.) chs. PARIS, 19. Februar. Die sozialistische Regierung von Premierminister Manuel Valls verbleibt im Amt. Ein Misstrauensantrag der Opposition scheiterte am Donnerstagabend in der Nationalversammlung. Den konservativen Oppositionsparteien UMP und UDI fehlte die Unterstützung von 55 Abgeordneten, um die erforderliche Mehrheit von 289 Stimmen zu erreichen. Das Ergebnis entsprach den Erwartungen. Anlass der Auseinandersetzung war ein Gesetz zur Deregulierung von Dienstleistungen, das unter anderem mehr verkaufsoffene Sonntage zulässt. Die Regierung hatte das Gesetz ohne Abstimmung durchgebracht, weil linke Abgeordnete in den eigenen Reihen rebelliert hatten. (Siehe Seite 2; Kommentar Seite 8.) bin. OLDENBURG, 19. Februar. Der unter vielfachem Mordverdacht stehende ehemalige Krankenpfleger aus Delmenhorst soll nach dem Willen der Staatsanwaltschaft eine lebenslange Freiheitsstrafe erhalten. Die Staatsanwältin forderte am Donnerstag wegen der fünf angeklagten Fälle zudem die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Der 38 Jahre alte Angeklagte hat gestanden, dass er auf der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst 90 Patienten das Herzmedikament Gilurytmal gespritzt habe. In 60 Fällen sei die anschließende Reanimation erfolgreich gewesen, in 30 Fällen sei der Patient danach tot gewesen. Ein Urteil könnte schon in der kommenden Woche fallen. (Siehe Deutschland und die Welt.) Schnee und eine Ölspur Almaty, kasachischer Bewerber für 2022, hat das Zeug zum olympischen Wintertraum. Trotzdem ist Peking Favorit. Sport, Seite 27 Günstiger Luxus in Paris Nach zwei Krisenjahren infolge der sozialistischen Besteuerungswut kehren reiche Käufer zurück nach Paris. Immobilien, Seite I 1 Briefe an die Herausgeber Seite 25 4<BUACUQ=eacfah>:q;l;V;l;y 2,50 € D 2954 A Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH; Abonnenten-Service: 0180 - 2 34 46 77 (6 Cent pro Anruf aus dem dt. Festnetz, aus Mobilfunknetzen max. 42 Cent pro Minute). Briefe an die Herausgeber: [email protected] Belgien 3,00 € / Dänemark 23 dkr / Frankreich, Griechenland 3,00 € / Großbritannien 3,00 £ / Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande 3,00 € / Österreich 3,00 € / Portugal (Cont.) 3,00 € / Schweiz 4,80 sfrs / Slowenien 3,00 € / Spanien, Kanaren 3,00 € / Ungarn 780 Ft trag, mit dem Athen nach langem Zögern um eine Verlängerung des Hilfsprogramms bat, war kaum in Brüssel eingetroffen, da erscholl in Berlin schon ein „Ungenügend!“. Finanzminister Schäuble verdeutlichte damit allen Beteiligten bis hin zum Kommissionspräsidenten Juncker, dass jedenfalls für ihn die Zeit der Formulierungstricks und der (Selbst-)Täuschung vorbei ist. Athen setzt offenbar bis zuletzt darauf, dass es in der EU Kräfte gibt, die sich vor einem Staatsbankrott Griechenlands und dem „Grexit“ noch mehr fürchten als die Griechen selbst. Schäuble tut das nicht – oder verbirgt es perfekt. In ihm hat Pokerface Varoufakis seinen Meister gefunden. Starke Nerven sind jetzt wichtig. Die EU muss auf der Einhaltung der vereinbarten Bedingungen beharren. Ein Aufweichen hülfe Griechenland nicht, schadete aber der ganzen Union. Geld und Schulden sind freilich nicht die einzigen Themen, über die in der EU gestritten wird. Auch noch andere Differenzen gefährden ihren Zusammenhalt und beschränken ihre F. A. Z. im Internet: faz.net Handlungsfähigkeit. Die Krisendiplomatie im Fall der Ukraine überließ die EU nicht nur deswegen Merkel und Hollande, weil die am wenigsten Schlaf brauchen, sondern weil sie sich in der Beurteilung der Lage ziemlich einig sind. Das kann man nicht von der ganzen EU sagen. In ihren Reihen gibt es inzwischen einige unsichere Kantonisten, die besondere Beziehungen zu Moskau unterhalten. Wie werden Athen, Budapest, Prag, Sofia stimmen, wenn es um die Verschärfung der Sanktionen geht? Wenn. Denn trotz des – einmütig – festgestellten Bruchs auch des zweiten Minsker Abkommens geschieht in dieser Hinsicht bislang nichts, obwohl Moskau schlecht behaupten kann, Debalzewe sei von ukrainischen Truppen zusammengeschossen und besetzt worden. Auf was will die EU denn noch warten? Dass auch Mariupol fällt? Dass die „Separatisten“ auf Kiew vorrücken? Größeren Schrecken als diese Aussicht verbreitete im Westen die Bitte Poroschenkos, eine EU-Polizeitruppe in sein Land zu schicken, das in einigen Teilen schon ein Protektorat Putins ist. Mit dem will sich die EU aber keinesfalls direkt anlegen, da herrscht ausnahmsweise Einigkeit. Denn Putin ist ein viel härterer Pokergegner als Varoufakis: Er schreckt nicht davor zurück, in seinem Spiel auch Menschenleben einzusetzen. Die argentinische Tragödie Von Nikolas Busse as derzeit in Argentinien geschieht, hat mit RechtsstaatlichW keit nicht viel zu tun. Ein Staatsanwalt, der den größten Anschlag in der Geschichte des Landes aufklären sollte, wird erschossen aufgefunden. Die Staatspräsidentin wartet nicht etwa die Ermittlungen ab, sondern präsentiert ihre eigenen Erklärungen: Erst behauptet sie, es sei Selbstmord gewesen, dann redet sie von Mord durch den Geheimdienst. Die Justiz kann nach einem Monat noch nicht sagen, wie der Staatsanwalt umkam, will aber auf der Grundlage seiner Arbeit Anklage gegen die Präsidentin wegen Strafvereitelung im Amt erheben – was die Regierung einen versuchten „Justizputsch“ nennt. Das Volk demonstriert und ist nach Umfragen überzeugt davon, dass der Fall nie aufgeklärt wird. Mit diesem Skandal ist das südamerikanische Land, das sich stets seine europäische Tradition zugutegehalten hat, an einem Tiefpunkt seiner politischen Entwicklung angelangt. Cristina Kirchner steht in einer langen Reihe von Präsidenten, die die öffentlichen Institutionen ausgehöhlt haben. Politik hat in Argentinien nur noch am Rande mit Streit um die besten Lösungen fürs Gemeinwohl zu tun. Sie ist zu einem großen Geschäft verkommen, in dem sich die Machtcliquen bereichern, das Recht beugen und die Verwaltung in Korruption halten; die Medien werden kontrolliert oder offen bekämpft. Nach der Militärdiktatur haben die Argentinier zu oft die falschen Leute gewählt, Amtsmissbrauch und Vetternwirtschaft sind durch das gesamte föderale System hindurch verbreitet. Tragisch ist, dass es Argentinien schon einmal sehr viel besser ging. Vor hundert Jahren gehörte es zu den reichsten Ländern der Welt, die eleganten Viertel in Buenos Aires zeugen bis heute vom Wohlstand und von der Hochkultur dieser Zeit. Öl, Gas, Land im Überfluss, eine der exportstärksten Agrarwirtschaften, eine gut ausgebildete Mittelschicht und eine entwickelte Industrie sollten eigentlich auch heute noch genug sein, um vierzig Millionen Einwohnern ein gutes Leben zu ermöglichen. Aber die schlechte Regierungsführung würgt die Entwicklung immer wieder ab. Unter Kirchner hat die Inflation vierzig Prozent erreicht (was die Regierung leugnet, die Menschen aber täglich spüren), die Präsidentin hat Zuflucht zu Importsubstitution und Kapitalverkehrskontrollen genommen. Im Zeitalter der offenen Weltwirtschaft ist das eine ökonomische Geisterfahrt. Die Bürger, die ihr Geld noch nicht ins Ausland geschafft haben, investieren es neuerdings in Autos, weil sie wenigstens da noch auf einen Werterhalt hoffen. Für harte Währungen wie Dollar und Euro blüht der Schwarzmarkt. Die Armutsviertel in den großen Städten wachsen, ebenso die (Drogen-)Kriminalität. Argentini- sche Wohnungen und Häuser werden heute mit Gitterstäben gesichert wie Gefängnisse. Entführungen, Überfälle und Morde beherrschen die Nachrichten. Als vor einem Jahr die Polizei streikte, wurden innerhalb weniger Tage ganze Einkaufsviertel geplündert. Wird es im Sommer zu heiß, fällt selbst in der Hauptstadt tagelang der Strom aus. Viele Argentinier, vor allem in den gebildeten Schichten, machen für diese Entwicklung „Cristina“ verantwortlich, wie die Präsidentin im kumpelhaften Tonfall des Landes allerorten genannt wird. Das ist sicher nicht falsch, denn unter dem Ehepaar Kirchner (der vorige Präsident war ihr verstorbener Ehemann) wurde die Herrschaft autokratisch und planwirt- Die politischen Ideen, die das Land ruinieren, finden auch in Europa Zuspruch. schaftlich. Zur Eindämmung der enormen Geldentwertung, die auch ein großes soziales Problem ist, fuhr die Regierung nicht etwa die Finanzierung des Haushalts durch die Notenpresse zurück, sondern zwang die Händler dazu, die Preise für einen Teil der Lebensmittel einzufrieren. Und statt das Schuldenproblem endlich zu lösen, das die Wirtschaft seit nunmehr vierzehn Jahren belastet, macht sie Stimmung gegen ausländische „Geierfonds“ und leiht sich Geld aus China. Die Wurzeln dieses Niedergangs reichen weit zurück. Der Schriftsteller Mario Vargas Llosa hat sie kürzlich mit der Bemerkung beschrieben, Argentinien sei eines Tages vom peronistischen Fieber befallen worden. In der Tat hat die Dominanz dieses politischen Denkens, das auf Verstaatlichungen, Protektionismus, Umverteilung und Nationalismus setzt, dem Land über die Jahrzehnte vermutlich mehr geschadet als alle anderen Unzulänglichkeiten seiner Gesellschaft, zu denen vor allem eine Gleichgültigkeit gegenüber der beschämenden Armut der Unterschicht gehört. Kirchner hat sich stets als Verbündete des venezolanischen Sozialisten Hugo Chávez und seiner kubanischen Freunde verstanden, der sein Land allerdings noch schneller und gründlicher ruinierte als sie das ihre. Der neue Präsident, der im Oktober gewählt wird, wird wahrscheinlich wieder ein Peronist sein. Argentinien liegt von Europa zehntausend Kilometer entfernt. Das bedeutet nicht, dass uns sein Schicksal nicht interessieren sollte. Der Linkspopulismus, der das Land und andere Teile Lateinamerikas ins Unglück gestürzt hat, findet auch in Europa immer mehr Zuspruch, siehe Spanien oder Griechenland.
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