Prorussische Separatisten: Wir haben fast ganz

Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D
Mittwoch, 18. Februar 2015 · Nr. 41 / 8 D 2
HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER, HOLGER STELTZNER
Staatsanwalt will
Freispruch für
Strauss-Kahn
Heute
Mit der Geduld am Ende
Von Werner Mussler
a, die Lage in Griechenland ist
Jgriechische
schwierig, und sie würde für das
Volk noch viel schwieri-
Pieter Bruegel der Ältere, Das Schlaraffenland
chs. PARIS, 17. Februar. Im Prozess gegen den früheren Chef des Internationalen Währungsfonds Dominique
Strauss-Kahn wegen „schwerer Zuhälterei“ hat die Staatsanwaltschaft einen
Freispruch gefordert. „Weder die Ermittlungen noch die Gerichtsverhandlung haben den Beweis einer Schuld
von Herrn Strauss-Kahn erbracht“, sagte Staatsanwalt Frédéric Fèvre am
Dienstag vor dem Gericht in Lille.
Dem früheren sozialistischen Spitzenpolitiker, der 2012 als aussichtsreicher
Kandidat für das Amt des französischen Präsidenten galt, war vorgeworfen worden, Sexpartys mit Prostituierten mitorganisiert zu haben. Er hatte
bestritten, gewusst zu haben, dass es
sich bei den Frauen um Prostituierte
handelte. Der Staatsanwalt hatte
schon vor seinem gestrigen Plädoyer
während des Prozesses wissen lassen,
dass es sich bei den insgesamt 14 Angeklagten nicht um ein „mafiöses Netzwerk“ gehandelt habe. Schon im Juni
2013 hatte er sich gegen eine Prozesseröffnung ausgesprochen. Die mit dem
Fall befassten Untersuchungsrichter
entschieden sich dennoch anders. Als
Organisatoren der Sexpartys haben
sich im Prozess einige der mitangeklagten Bekannten von Strauss-Kahn bekannt. Zwei Geschäftsleute, die die
Prostituierten bezahlt hatten, sagten
aus, sie hätten dies gegenüber StraussKahn verschwiegen.
Jetzt ganz stark sein
Fastenzeit – Schon der Grieche Hippokrates kannte den Wert
des Verzichts: Wer stark, gesund und jung bleiben wolle, könne einiges dafür tun, sagte er. Zum Beispiel sein Weh eher
durch Fasten als durch Arznei zu heilen. Oder durch das Geld
anderer, mag man in Brüssel denken, wo die Griechen nicht
nur zum Verzicht angehalten, sondern in einer Nachtsitzung
nach der anderen so in die Schranken gewiesen werden wie
sonst nur der Hamburger SV bei Gastspielen in München. Dabei weiß jeder Fastende doch, warum sich Fasten lohnt: Weil
die nächste Völlerei dann umso mehr Freude bereitet. Foto Archiv
Prorussische Separatisten: Wir haben
fast ganz Debalzewe eingenommen
Helfer
für alles
Online-Plattformen machen es
leicht, Dienstleistungen aller Art anzubieten und zu kaufen. Werden wir
alle selbständig? Wirtschaft, Seite 24
Eine Stadt schaut weg
In Rotherham wurden mehr als
tausend Mädchen von pakistanischen Banden missbraucht. Niemand gebot Einhalt. Politik, Seite 3
Beim Bart des Propheten
Wie kommen die Leute auf die
Idee, Zwang und Intoleranz seien
im Sinne Mohammeds? Eine
Koran-Lektüre. Feuilleton, Seite 9
„Zahlreiche Gefangene und viele Tote“ / Kiew: Heftige Kämpfe / Appelle an Putin
ul./sat. KIEW/BERLIN, 17. Februar.
Ungeachtet der Waffenstillstandsvereinbarung für die Ostukraine haben am Dienstag im Donbass die heftigsten Straßenkämpfe seit Beginn des Konflikts getobt.
Die von Russland unterstützten Separatisten gaben bekannt, die strategisch wichtige
Stadt Debalzewe „zu achtzig Prozent“ eingenommen zu haben. „Nur ein paar Wohnviertel sind noch übrig, dann haben wir
den Ort völlig unter Kontrolle“, sagte einer
ihrer Befehlshaber, Eduard Bassurin, am
Dienstag. Er sprach von „zahlreichen Gefangenen und vielen Toten“. Ein Vertreter
der ukrainischen Polizei sagte, die Angreifer setzten Minenwerfer und Panzerfäuste
ein. Es habe Verluste gegeben.
Ukrainische Regierungsmitarbeiter bestätigten, dass zumindest einige Vororte
und die Bahnhofsgegend im von ukrainischen Kräften gehaltenen Verkehrsknotenpunkt Debalzewe heftig umkämpft seien.
Ein Regierungsvertreter sagte dieser Zeitung in Kiew, die Regierung habe über die
letzte verbliebene Zufahrt zur von mehreren Seiten bedrängten Stadt nur noch
„Feuerkontrolle“. Man habe dort keine eigenen Kontrollposten mehr. Das hieße,
dass die Straße nicht mehr in Händen der
Regierung ist. In Debalzewe wären damit
mehrere tausend ukrainische Soldaten
und Zivilpersonen eingekesselt.
Das russische Staatsfernsehen zeigte Bilder von knienden ukrainischen Kämpfern
im Schnee, die sich angeblich ergeben hatten, mit dem „Präsidenten“ der „Volksrepublik Donezk“, Alexander Sachartschenko.
Er sagte ihnen, der ukrainische Präsident
Petro Poroschenko habe sie „verraten“, für
Poroschenko seien sie nur „Kanonenfutter“. Andere Separatistenführer forderten
die Ukrainer auf, ohne Waffen abzuziehen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel bemühte sich abermals darum, die Konfliktparteien davon zu überzeugen, den Waffenstillstand einzuhalten. In einem Telefonat mit
den Präsidenten von Russland und der
Ukraine, Wladimir Putin und Poroschenko,
am Montagabend seien „konkrete Schritte“
vereinbart worden, „um eine Beobachtung
der Lage durch die OSZE zu ermöglichen“,
teilte Regierungssprecher Steffen Seibert
am Dienstag mit. Merkel und Poroschenko
hätten zudem an Putin appelliert, „seinen
Einfluss auf die Separatisten geltend zu machen, damit diese das Feuer einstellen“.
(Siehe Seite 6; Kommentar Seite 8.)
Stadt mit Energie
Grevenbroich und die Braunkohle
gehören zusammen. Und RWE ist
Teil des täglichen Leben, nicht nur
als Arbeitgeber. Wirtschaft, Seite 20
Schäuble sieht Griechenland in der Pflicht
„Athen muss klare Verpflichtungen eingehen“ / Weiteres Treffen der Eurogruppe ungewiss
wmu. BRÜSSEL, 17. Februar. Nach dem
vorläufigen Scheitern der Verhandlungen
über weitere Hilfszahlungen der Eurostaaten für Griechenland sieht Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble die Regierung
in Athen in der Pflicht. Schäuble sagte
nach einem Treffen der EU-Finanzminister am Dienstag in Brüssel, Griechenland
müsse „klare, belastbare und glaubwürdige Verpflichtungen“ eingehen, damit das
Ende Februar auslaufende jetzige Hilfsprogramm ordnungsgemäß abgeschlossen
und gegebenenfalls verlängert werden könne. „Wenn dies nicht die Absicht ist, ist die
Diskussion ohne klare Grundlage.“ Weil
der griechische Finanzminister Giannis Varoufakis diese Bedingung nicht erfüllen
wollte, waren die Verhandlungen der Eurogruppe am Montagabend gescheitert. Ob
es ein weiteres Treffen geben wird, stand
am Dienstag noch nicht fest.
Nach Schäubles Angaben konnten die
Minister keine sinnvolle Diskussion führen, weil es weder Klarheit über die Finanzlage des griechischen Staates und seines Finanzsektors noch über die Wünsche der
Regierung gegeben habe. „Will Griechenland ein Programm oder nicht? Ich weiß es
nicht“, sagte Schäuble. Der Regierung in
Athen müsse klar sein, dass das Programm
„am 28. Februar, 24 Uhr“ zu Ende sei. Die
Zeit dränge, weil jede Änderung die Billigung der Mitgliedstaaten erfordere, in
Deutschland des Bundestagsplenums. „Ich
kann dem Bundestag eine Verlängerung
nur empfehlen, wenn die griechische Seite
klare Verpflichtungen eingeht.“ Er werde
die Abgeordneten „nicht für dumm verkau-
fen“. Eine Diskussion über ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euroraum ergebe jetzt keinen Sinn, sagte Schäuble. Er
halte es aber für bemerkenswert, dass die
Finanzmärkte trotz des Konflikts über die
Griechenland-Hilfe „vollkommen ruhig“
blieben.
Varoufakis hatte am Vorabend dem
Chef der Eurogruppe, dem niederländischen Finanzminister Jeroen Dijsselbloem, die Schuld für das Scheitern der Gespräche gegeben. Dieser habe ein Kompromisspapier von EU-Währungskommissar
Pierre Moscovici kassiert, dem die griechische Seite zugestimmt hätte. Nach
Schäubles Angaben hat Moscovici die griechische Darstellung am Dienstag als falsch
zurückgewiesen. (Siehe Seite 2 und Wirtschaft, Seite 17.)
Rechnungsprüfer
kritisiert Netanjahu
Fensterlosen Läden in
Bahnhöfen droht Verbot
Sozialisten verweigern
Valls Gefolgschaft
„Islamischer Staat“
verbrennt 45 Menschen
hcr. JERUSALEM, 17. Februar. Einen
Monat vor der Parlamentswahl in Israel
hat der Oberste Rechnungsprüfer der Familie von Ministerpräsident Benjamin
Netanjahu „exzessive“ Ausgaben in ihrer
offiziellen Residenz in Jerusalem vorgeworfen. In einem am Dienstag vorgestellten Untersuchungsbericht ist von der Verschwendung öffentlicher Mittel die Rede.
Netanjahus Likud-Partei kritisierte, dass
für die Residenz des israelischen Staatspräsidenten deutlich mehr Geld ausgegeben werde. (Siehe Seite 3.)
dc. BERLIN, 17. Februar. Die umstrittenen Pläne der Bundesregierung für eine
neue Arbeitsstättenverordnung könnten
noch größere Nebenwirkungen haben als
bisher vermutet. So werde damit der Betrieb vieler Läden und Imbisse in Bahnhöfen und Flughäfen infrage gestellt, warnt
die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in einer Stellungnahme an das Arbeitsministerium,
die dieser Zeitung vorliegt. Der Entwurf
der Verordnung sieht unter anderem vor,
dass künftig jeder Arbeitsraum ein Außenfenster haben muss. Die Regierung
hatte einen für Anfang Februar geplanten
Kabinettsbeschluss kurzfristig gestoppt,
hält an der geplanten Reform aber grundsätzlich fest. (Siehe Wirtschaft, Seite 18.)
chs. PARIS, 17. Februar. Frankreichs Regierung ist am Dienstag mit dem Versuch
gescheitert, eine sichere Mehrheit im Parlament für ein wichtiges Wirtschaftsreformgesetz zu mobilisieren. Kurz vor der
geplanten Abstimmung kündigte Premierminister Manuel Valls überraschend an,
das Gesetz zur Liberalisierung verschiedener Dienstleistungsbereiche per Notparagraph ohne Zustimmung des Parlaments
in Kraft treten zu lassen. Das linke Lager
der Sozialisten hatte Valls zuvor die Gefolgschaft verweigert. Die konservative
Oppositionspartei UMP kündigte an, nun
einen Misstrauensantrag gegen Valls zu
stellen. Das Reformpaket gilt als Testfall
für die Reformfähigkeit Frankreichs. (Siehe Seite 2 und Wirtschaft, Seite 19.)
mrb. KAIRO, 17. Februar. In der irakischen Provinz Anbar sollen Kämpfer der
Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) 45
Menschen verbrannt haben. Unter den Toten seien auch Sicherheitskräfte, sagte der
Polizeichef der Stadt al Bagdadi, die vergangene Woche in die Hände des IS gefallen war, am Dienstag. Unabhängig bestätigen ließen sich die Angaben nicht. Al Bagdadi liegt nahe dem von der irakischen Armee gehaltenen Militärstützpunkt al
Asad, der jüngst ebenfalls von IS-Einheiten angegriffen worden war. Nur mit Hilfe
amerikanischer Kampfhubschrauber gelang es Armeeeinheiten am Wochenende,
die IS-Kämpfer zurückzudrängen. Die
amerikanische Armee bildet in al Asad
irakische Soldaten aus. (Siehe Seite 5.)
Papierkrieg um Millionen
Zehn Millionen Dollar sind erst
der Anfang: Wie teuer werden die
Manipulationsversuche für Lance
Armstrong noch? Sport, Seite 32
Die Masern kommen
Der Masernausbruch in Berlin betrifft vor allem junge Erwachsene.
Wer sollte sich jetzt impfen lassen?
Natur und Wissenschaft, Seite N 1
Briefe an die Herausgeber
Seite 6
4<BUACUQ=eacfah>:Y;l;l;l;y
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Belgien 3,00 € / Dänemark 23 dkr / Frankreich, Griechenland 3,00 € / Großbritannien 3,00 £ / Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande 3,00 € / Österreich 3,00 € / Portugal (Cont.) 3,00 € / Schweiz 4,80 sfrs / Slowenien 3,00 € / Spanien, Kanaren 3,00 € / Ungarn 780 Ft
ger werden, müsste das Land den Euroraum verlassen. Allerdings muss die
Regierung in Athen ganz schnell begreifen, dass es nur von ihr abhängt,
wie es mit ihrem Land weitergeht. Die
griechische Zukunft liegt nicht in der
Hand der europäischen Gläubiger, die
sich angeblich gegen Griechenland
verschworen haben. So schwierig die
Lage in Athen ist, so simpel ist sie in
der Eurogruppe: Es gibt ein Hilfsprogramm mit Reformauflagen, zu dem
sich Athen bekennen muss. Unter dieser Voraussetzung sind die Eurostaaten – je nach Rechnung zum dritten
oder vierten Mal – bereit, Kredite
nachzuschießen. Wenn die griechische Regierung dieses Bekenntnis
nicht abgibt, hat sie die Konsequenzen zu tragen.
Noch nie in der über fünfjährigen
Geschichte der Dauerhilfe für Athen
war in der Eurogruppe der Überdruss
am griechischen Selbstmitleid so groß
wie jetzt. Und noch nie waren sich die
Eurostaaten so einig. Zugegeben: Das
Selbstmitleid ist keine Erfindung der
neuen Regierung, schon die Vorgänge-
F. A. Z. im Internet: faz.net
rinnen haben sich in der Opferrolle gefallen. Aber das Verständnis für
Athen ist einfach aufgebraucht, und
zwar nicht nur aus dem formalen
Grund, dass Abmachungen einzuhalten sind. Der griechische Finanzminister hat seinen Kollegen aus Osteuropa
kaltschnäuzig mitgeteilt, deren Länder müssten die Erhöhung griechischer Sozialleistungen mitfinanzieren, obwohl diese Leistungen dort
niedriger sind als in Griechenland.
Wundert er sich im Ernst über die einhellige Ablehnung seiner Kollegen?
Zu einer realistischeren Einschätzung der Situation wäre Giannis Varoufakis wohl in der Lage, wenn er
sich von zwei Illusionen verabschiedete: Zum einen sollte er aufhören zu
glauben, seine in der Diktion des professoralen Weltökonomen vorgetragenen Ausführungen zur „richtigen“
Wirtschaftspolitik im Euroraum würden irgendjemanden beeindrucken.
Er wird diese Politik nicht ändern.
Zum anderen sollte er sich nicht auf
die EU-Kommission als Verbündeten
gegen die Eurostaaten verlassen. Es
ist letztlich einerlei, wie viel Verständnis Kommissionschef Juncker Griechenland entgegenbringt. Er ist nicht
der Verhandlungspartner für Athen.
Das sind die anderen Eurostaaten,
welche die Hilfe bezahlen müssen.
Und die sind mit ihrer Geduld am
Ende.
Das Muster des Terrors
Von Rainer Hermann
st da ein Muster zu erkennen? Im
Januar hatten islamistische ExtreImisten
in Paris einen Doppelanschlag
auf die Meinungsfreiheit und auf eine
jüdische Einrichtung verübt, im Februar folgte ein vergleichbares Attentat
in Kopenhagen. Französische Muslime aus Afrika waren in Paris die Attentäter, ein dänischer Muslim mit palästinensischen Wurzeln war es in Kopenhagen. Das Muster könnte lauten:
Junge Muslime (unterstützt von jungen verschleierten muslimischen Frauen) lehnen die freiheitlichen Werte
der westlichen Gesellschaft ab; sie
sind Teil einer neuen muslimischen Jugendkultur. Zudem praktizieren sie einen neuen Antisemitismus, der sich
vom alten europäischen Antisemitismus absetzt; befeuert werden sie vom
nahen Schlachtfeld Syrien und der
von Hass erfüllten Ideologie des „Islamischen Staats“.
Zu einer latenten Gefahr für unsere
freien Gesellschaften werden diese
jungen Muslime erst durch die blutigen Konflikte in der arabischen Welt
– vor allem den Krieg in Syrien und
im Irak, aber auch den schwelenden
Palästina-Konflikt. Sie lassen die Gewalt zu einem Teil des Alltags werden.
Auch ohne diese Brandherde gäbe es
in Europa eine neue Jugend- und Protestkultur im Gewand des Islams.
Denn Konvertiten und muslimische
Einwandererkinder, die hier geboren
sind, grenzen sich bewusst und sichtbar von der Mehrheitsgesellschaft ab.
Sie finden den Islam cool, bei ihnen
ist die Freitagspredigt in, und der Prophet Mohammed ist ihr Vorbild. Anstatt sich in Freiheit zu bewähren, finden sie Gefallen an den starren Regeln eines rückwärtsgewandten Islams und leben wie in einer Sekte.
Diese neue islamische Jugendkultur
ist auch das Ergebnis einer gescheiterten Integration. Viele junge Muslime
sind in eine Identitätslücke gefallen:
Sie fühlen sich nicht mehr als Angehörige eines arabischen Landes, sehen
sich aber auch nicht von der Gesellschaft angenommen, in der sie leben.
Salafistische Rekrutierer haben ein gutes Auge für sie. Nun definieren sie
sich über den Islam, wo sie auf Gleichgesinnte stoßen; in Cliquen finden sie
Geborgenheit, in Jugendbanden „Brüder“; von den anderen und den „Ungläubigen“ grenzen sie sich ab. Ihre Eltern hatten sich noch als Algerier oder
Albaner definiert, als Syrer oder Somalier, die Söhne nennen sich nun
Muslime. Anfällig sind dafür eher Einwanderer aus der arabischen Welt.
Denn türkischstämmige Jugendliche
finden nach wie vor in ihren Moscheegemeinden Halt und eine Heimat.
Tausende von jenen, die keinen
Halt mehr haben, zieht es nach Syrien, um sich am großen Krieg der
„Muslime gegen die Ungläubigen“ zu
beteiligen. Nur ein sekundäres Motiv,
sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen, ist der Palästina-Konflikt.
In der Rekrutierungspropaganda des
IS spielt Israel kaum eine Rolle. Zu-
dem ist der IS für das Königreich Saudi-Arabien, das über die zwei heiligsten Stätten des Islams gebietet, gefährlicher als für Israel, auf dessen Territorium der Felsendom liegt, das drittwichtigste Heiligtum des Islams. Woher kommt dann der Antisemitismus
unter den jungen Islamisten Europas?
Die islamische Tradition hat zwar
feindliche Stereotype gegenüber den
Juden gekannt; der Antisemitismus ist
indes eine Erfindung Europas. Noch
beim Dreyfus-Prozess von 1894, bei
dem in Frankreich ein jüdischer Offizier in einem Justizskandal wegen
Landesverrats verurteilt worden war,
haben die meisten arabischen Muslime die Partei des Verurteilten ergriffen. Erst mit der Gründung des Staates Israel als einer Folge des Holo-
Radikalisiert werden die
Täter in der Jugendkultur,
die Kriege in Nahost
machen sie gewaltbereit.
causts (und damit des westlichen Antisemitismus) änderte sich die Einstellung der Araber zu den Juden. Da die
Araber wie die Juden Semiten sind, ist
es abwegig, ihnen pauschal Antisemitismus vorzuwerfen. Viele von ihnen
stellen aber die Existenz des Staates Israel in Frage und sind damit Antizionisten. Diese Feindseligkeit gegenüber Israel korrespondiert mit einer
verbreiteten Gleichgültigkeit der Araber gegenüber den Palästinensern. Lediglich während der Gaza-Kriege
macht sie kurzen Solidaritätsschüben
Platz.
Europa erlebt heute, siebzig Jahre
nach der Befreiung von Auschwitz,
dem Symbol des absolut Bösen, eine
alarmierende Rückkehr des Antisemitismus. In Frankreich hat sich die Zahl
der antisemitischen Übergriffe im vergangenen Jahr verdoppelt. Zwar ist der
alte Antisemitismus durch den Holocaust diskreditiert; unter den Muslimen, aber auch unter den rechten wie
linken Populisten Europas, gedeiht indessen ein neuer Antisemitismus. Die
neuen Rechtfertigungen sind die Leugnung des Holocausts und des Existenzrechts Israels sowie die stets wiederkehrende Behauptung, Juden hätten zu
viel Einfluss. Volksverhetzer wie der
„Komiker“ Dieudonné M’bala führen
die islamische Jugendkultur mit dem
Antisemitismus zusammen. Dieser ist
keine abstrakte Bedrohung, sondern –
die Anschläge in Paris und Kopenhagen zeigen es – eine blutige Realität.
Wenn deswegen der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu
die Juden Europas aber auffordert,
nach Israel auszuwandern, übersieht
er eines: Es ist nicht seine Aufgabe,
sie zu schützen, das tun die europäischen Rechtsstaaten. Sie haben die
Verantwortung, das Judentum vor
dem mörderischen Antisemitismus zu
schützen.