SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Hannah Arendt, Günther Anders: Schreib doch mal hard facts über Dich
Briefe 1939 bis 1975Texte und Dokumente
Herausgegeben von Kerstin Putz
C.H.Beck Verlag 2016
286 Seiten
29,95 Euro
Rezension von Constantin Fellner
Freitag, 14.10.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Die Beziehung zwischen Hannah Arendt und Günther Anders gehört zum
Bewundernswertesten, was das deutsch-jüdische Kulturleben im grausamen zwanzigsten
Jahrhundert hervorgebracht hat. Acht Jahre dauerte ihre Ehe, 1937 trennten sich ihre
Wege. Doch auch nach der Scheidung verband die beiden eine intensive Freundschaft.
Nun ist der Briefwechsel zwischen Arendt und Anders bei Beck erschienen. Constantin
Fellner hat ihn für uns gelesen.
SIND GERETTET WOHNEN 317 WEST 95= HANNAH. Legendär sind die Worte, mit
denen die vierunddreißigjährige Hannah Arendt am 23. Mai 1941 ihrem geschiedenen
Mann Günther Stern aus New York nach Kalifornien telegrafierte, dass sie dem Holocaust
entronnen sei – kein halbes Jahr vor Beginn der systematischen Judendeportationen. Das
Europa und das Deutschland, das die junge Philosophin damals hinter sich ließ, sollten nie
mehr dieselben sein.
Wie Arendt und Stern, der unter dem Alias Günther Anders als Philosoph bekannt wurde,
die Diaspora und den Weg dorthin erlebten, schildert ihr Briefwechsel, der 1937 einsetzte
und mit einer Unterbrechung von 1941 bis 55 bis zu Arendts Tod im Jahr 1975 anhielt. Die
Korrespondenz gehört zum Bemerkenswertesten, was die Geistesgeschichte der
deutschen Emigration zu bieten hat.
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Wie zwei Geschwister in einer Welt voller Feinde verschlägt es die beiden nach der
Machtergreifung erst ins französische, dann ins US-amerikanische Exil. Während Anders
bereits 1936 in New York ankommt und anschließend an der Westküste eine Anstellung
findet, folgt Hannah erst fünf Jahre später. Da sind sie bereits geschieden, doch die Not
schweißt sie zusammen, auch als Hannah längst schon in einer Beziehung mit Heinrich
Blücher lebt.
Wie ein Krebsgeschwür breiteten sich die Nazis im gebeutelten Zwischenkriegseuropa aus
und zerstörten nicht nur Millionen von Einzelschicksalen, sondern auch eine geistige
Landschaft, die hier über Jahrhunderte gewachsen war. Dieser Band, herausgegeben von
der österreichischen Literaturwissenschaftlerin Kerstin Putz, legt Zeugnis davon ab. Er
versammelt alle erhaltenen Briefe, die zwischen Arendt und Anders ausgetauscht wurden,
dazu drei Briefe von Anders an Lion Feuchtwanger sowie einige kleinere Texte beider
Autoren, etwa über Rilkes Duineser Elegien und Walter Benjamin. Briefe Arendts in
englischer bzw. französischer Sprache – nur knapp war ihr aus dem Durchgangslager
Gurs in Vichy-Frankreich die Ausreise gelungen – werden im Original und in deutscher
Übersetzung wiedergegeben.
„Weltlosigkeit“ und „Antiquiertheit des Menschen“: nicht zufällig sind dies die
Schlüsselbegriffe im Werk von Arendt und Anders. Sie stehe „noch ziemlich fassungslos
vor dieser Riesensiedlung New York“, das eine „so ganz andere Stadt wie die
europäischen“ sei, bekennt Arendts ebenfalls geflüchtete Mutter Martha im Brief vom 26.
Juni 1941 an ihren Ex-Schwiegersohn Günther. Damit drückt sie eine Befindlichkeit vieler
europäischer Emigranten aus, die sich nach gelungener Flucht mühsam eine neue
Existenz in der Neuen Welt aufbauen mussten.
Nach dem Krieg freilich sieht dies anders aus. 1955 lebt der Briefwechsel zwischen
Hannah und Günther wieder auf. Diesmal steht die politische Philosophin, die mit ihrem
Totalitarismusbuch inzwischen zu Weltruhm gelangt ist, old Europe deutlich distanzierter
gegenüber. Die Erfahrung realer physischer Freiheit hat die frühere Geliebte Martin
Heideggers der spekulativen europäisch-deutschen Gedankenwelt, in der alles um ein
abstraktes Sein kreist, spürbar entfremdet. Die Zukunft gehöre Amerika und seinem
Traum der Entgrenzung, der ultimativen Überwindung räumlicher und körperlicher
Horizonte. Das hört man aus den Briefen der reifen Hannah Arendt heraus.
Die „hard facts“, die der Titel verheißen mag, sind dabei schnell aufgezählt, beeindruckend
darunter ob seiner Kürze und Prägnanz Arendts Curriculum Vitae vom 31. Mai 41.
Interessant und fesselnd ist insbesondere der Ton dieser Korrespondenz und der
angeschlossenen Texte: das unglaubliche Bemühen, sich in einer weiten und wüsten Welt
eine Heimstatt zu schaffen, nicht verloren zu gehen – aber auch die Einsamkeit und die
Angst, vor allem kurz nach der Emigration ständige Begleiter der jungen Arendt: „An die
vielen fremden Leute, deren Adresse Du mir gibst, kann ich mich nicht wenden“, schreibt
sie im Mai 1941 an Günther. „Ich habe immer noch eine Todesangst vor Nicht-Bekannten
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und weiß immer noch nicht, dass jeder Bekannte einmal ein Unbekannter war.“
Uns Lesern freilich bleibt Arendt keine Unbekannte. Greifbar und lebendig wird sie in
diesen Briefen, mit denen der Herausgeberin – das kann man ohne Übertreibung sagen –
ein editorisches Kleinod gelungen ist.
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