LESERFORUM Freie Presse Mittwoch, 27. April 2016 LESEROBMANN Wegsehen geht nicht REINHARD OLDEWEME TELEFON: 0371 656-65666 (10-12 Uhr) TELEFAX: 0371 656-17041 E-MAIL: [email protected] G anz ehrlich? An diesem Morgen ist es mir eiskalt den Rücken runtergelaufen, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten nahm und das Titelbild auf der ersten Seite sah; und das lag nicht an den wenigen Grad über null einen Monat nach Frühlingsanfang. Ich musste tief durchatmen und die Teetasse mit beiden Händen umschließen, weil mir innerlich kalt war. Der Grund: Neben der Nachricht mit der Überschrift „Pegidianer huldigen ihrem Anführer“ war ein Foto, auf dem während des Prozessauftakts gegen ihn der Pegida-Mitbegründer Lutz Bachmann (nur von hinten) zu sehen ist, während die im Gerichtssaal sitzenden Zuhörer vor Begeisterung klatschen und ihm zujubeln. Bis Mittag hatten sich dann insgesamt 13 Leser bei mir gemeldet, weil sie sich über die ihrer Ansicht nach von dem Bild transportierte Nachricht geärgert hatten. Der Grund für ihren Unmut war stets der gleiche, eine Anruferin möchte ich stellvertretend zitieren: „Wie kann man diesem Mann nur solch ein Podium bieten“, meinte die Frau in der Leitung und bemerkte noch, dass das Bild den Eindruck erwecke, Bachmann sei ein Zeitgenosse, den man für seine Leistungen feiern müsse. Das Gegenteil hatte in mir das beklemmende Gefühl verursacht. Ich habe es am Telefon erklärt und bin damit bei fast allen Anrufern auf Zustimmung gestoßen. Zum einen ist da die reine Nachricht: Der Prozess gegen Lutz Bachmann, der sich wegen Volksverhetzung vor Gericht verantworten muss, hat begonnen. Die Verweise auf seine Vergangenheit und seine Rolle bei den Pegida-Demos in Dresden sind wichtig, um diese Information richtig einordnen zu können. Zum anderen ist da die Botschaft des Bildes; sie besteht aus zwei Teilen: Der 43-Jährige nutzt den Termin im Gerichtssaal für eine provozierende Selbstinszenierung. Und es gibt Menschen, die das gut finden, ihn für sein Tun feiern und ihm zujubeln. Aber genau das macht mir Angst, es sollte uns zum Nachdenken anregen: „Schauen Sie bitte in die Gesichter der Leute im Gerichtssaal“, habe ich deshalb am Telefon gesagt und die Anrufer gefragt: „Bereiten Ihnen diese Mienen, diese Begeisterung für einen mutmaßlichen Volksverhetzer nicht auch Sorge?“ Stets habe ich hinzugefügt, dass es mir nicht um die Leute geht, die auf die Straße gehen, um zu demonstrieren, sondern um die, welche ganz bewusst einem Mann mit Beifall und Durchhalteparolen dafür Mut zusprechen wollen, an seinen zweifelhaften Äußerungen festzuhalten. Vier Seiten weiter informierte der Bericht „Pegida-Chef Bachmann genießt den Auftritt vor Gericht“ über die Hintergründe zum Prozess in Dresden. Den Lesern am Telefon habe ich empfohlen, sich nach der Lektüre dieses Artikels das Foto auf der Titelseite noch einmal genau anzuschauen. Denn dann dürfte erst recht klar werden: Es gibt Menschen, die mitten unter uns leben und die kein Problem damit haben, sich zu ihrer Gesinnung zu bekennen. Ganz ehrlich? Das lässt mich gruseln, es zu ignorieren darf keine Option sein. HINWEIS Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe sinnwahrend zu bearbeiten. Leserbriefe geben stets die Meinung ihres Verfassers und nicht die der Redaktion wieder. E-Mails müssen die vollständige Adresse enthalten. Anonyme Zuschriften werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Briefkasten Freie Presse, Ressort Chef vom Dienst Postfach 261 09002 Chemnitz. Fax: 0371/656-17041 E-Mail: [email protected] Seite B1 Muss Demokratie das aushalten? Die Debatte um das Schmähgedicht eines Satirikers und die Reaktion des türkischen Präsidenten ist noch nicht beendet. Weitere Meinungen von Lesern sind bei uns eingegangen. Von Türkei abhängig gemacht Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit werden von der Bundesregierung immer wieder als ein nicht verhandelbares Gut bezeichnet und sind bei Nichteinhaltung durch andere Staaten ein ständiger Kritikpunkt. Nun unterwirft sich die Kanzlerin trotz vieler Stimmen aus der Öffentlichkeit und des Widerstandes durch den Außenminister und den Justizminister (beide SPD) den Forderungen des Möchtegernsultans, der im eigenen Land Meinungs- und Pressefreiheit mit Füßen tritt, die Unabhängigkeit der Justiz einengt, juristische Entscheidungen nicht anerkennt und militärisch gegen ethnische Minderheiten vorgeht. Nachdem sich Merkel zu Anfang ungefragt gegenüber dem türkischen Präsidenten kritisch zum Schmähgedicht geäußert hatte, war es aus ihrer Sicht nur folgerichtig, sich den Wünschen von Erdogan zur Eröffnung eines Verfahrens gegen Böhmermann mit Verweis auf den Majestätsbeleidigungsparagrafen des Strafgesetzbuches zu beugen. Dabei ist es möglich, ein normales Strafverfahren durch Erdogan zu beantragen, was dieser auch schon getan hat. Vollkommen fragwürdig ist die Ermächtigung der Kanzlerin, da sie den aus dem vorletzten Jahrhundert stammenden Paragrafen als entbehrlich bezeichnet hat. Die verfahrene Situation zeigt einmal mehr, wie die Bundesrepublik sich durch die Flüchtlingskrise in eine Abhängigkeit von der Türkei und besonders ihres Autokraten Erdogan begeben hat. Bernd Schlegel, Chemnitz Auf einer Stufe mit Erdogan Mit Erstaunen habe ich die Meinungen registriert, die den Satiriker verurteilen. Abgesehen davon, dass die meisten die Sendung vermutlich nicht gesehen haben, verwechseln sie Geschmack mit Unrecht. Nein, das Gedicht muss uns nicht gefallen und man muss Böhmermann nicht mögen. Aber darum geht es nicht. Ich will Alban Berg mit seiner atonalen Musik auch nicht vor Gericht bringen, weil mir die Ohren weh tun, wenn ich das höre. Man kann nicht vorschreiben, was in der Kunst erlaubt und was verboten ist; das Traurig und beschämend für unser Land In der Reportage „Die gewippte Einheitswippe“ ging es um die gescheiterten Pläne für ein Einheitsdenkmal. Ein bisschen schadenfroh Das meine ich nicht spöttisch, aber: In Plauen haben wir wohl Glück mit der Würdigung der Friedlichen Revolution und der Einheit. Aus diesem Grund steht in der Stadt, in der am 7. Oktober 1989 die DDR beendet wurde, schon seit 2010 ein solches Denkmal; es würdigt den Mut und das Durchhaltevermögen der Plauener. Sollte das der Autorin und anderen Medien entgangen sein? Als Plauener kann man da nur schadenfroh ausrufen: Streitet ruhig weiter, wir lachen da nur. Rolf Ladek, Plauen Merkel und der türkische Präsident Erdogan haben geredet – auch über Jan Böhmermann? hatten wir mal. Wir haben eine Meinungs-, Presse-, Kunst- und Religionsfreiheit. Und das ist gut so. Wer Böhmermann vor Gericht sehen will, stellt sich auf eine Stufe mit Erdogan. Und auch die Kanzlerin hat kein Recht zu beurteilen, ob ein Prozess stattfinden soll, denn das ist die Aufgabe einer unabhängigen Justiz. Das unterscheidet Deutschland immer noch von der Türkei. Dort ist Kritik am Staatsoberhaupt nicht erlaubt, Demonstrationen wie hierzulande Pegida würde man dort mit Waffengewalt auflösen. Doch eine Demokratie muss das aushalten. Jochen Bonitz, Limbach-Oberfrohna Mit zweierlei Maß gemessen Zugegeben, das ist ziemlich starker Tobak, den Böhmermann der Welt zumutet. Ich mag solche Art von Humor und Satire nicht, die auf dem Rücken anderer ausgetragen wird. Allerdings mag ich noch viel weniger, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird. Als das Attentat auf die französische Satirezeitung „Charlie Hebdo“ stattfand, gab es zahlreiche Rufe nach Presse- und Meinungsfreiheit, Freiheit der Kunst usw., obwohl von der Zeitung in fortgesetzter Manier der Islam verunglimpft und damit die Muslime zutiefst beleidigt wurden. Dies stellt gemäß Paragraf 166 StGB in Deutschland einen Straftatbestand dar. Trotzdem wurde hier zu bedingungsloser Solidarität aufgerufen. Und nun hat ein Satiriker ein schmähendes Gedicht über Erdogan verfasst, und sofort folgt die Regierung der Forderung dieses tür- kischen Mannes nach Strafverfolgung. Gemäß den Kriterien unserer freiheitlichen Demokratie gehört dieser Mann vor ein Tribunal, nach alledem, was er in seinem Land zu verantworten hat. Siegfried Franz, Oelsnitz Mehr als fragwürdiger Deal Das Gedicht muss eine enorme Sprengkraft haben, wenn türkische Politiker von einem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sprechen. Der ganze Vorgang, so scheint mir, ist eine Posse, die viel über die handelnden Personen aussagt, die von Kurzsichtigkeit erzählt und von fehlendem Rückgrat – und mittendrin der „Kasper“, der an das demokratische Recht der freien Satire glaubt. Dieser Glaube wurde nach dem Terror gegen das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ von Politikern aus aller Welt bestätigt und gefestigt. Seitdem kamen verstärkt Menschen zu uns, die unter Krieg, Terror, Willkür, Hunger oder mangelnder Lebensperspektive litten. Das änderte so manches. Der europäische Gedanke wurde von nationalen Interessen und Bestrebungen überlagert und erstickt, und so verwundert es kaum, dass Erdogans Angebot dankend angenommen wurde. Wir zahlen, und das Flüchtlingselend ist uns aus den Augen. Dafür drücken wir die Augen zu bei Menschenrechtsverletzungen oder bei den Einschränkungen der Pressefreiheit in der Türkei. Ein mehr als fragwürdiger Deal, der jetzt in die Ermittlungen gegen einen Satiriker mündet. FOTO: TOLGA BOZOGLU/DPA Man darf gespannt sein, was der nächste Akt beinhaltet. Petra Lindner, Freiberg Alle Staatsoberhäupter beleidigt Die Überschrift im Leserforum lautete: Ist das Satire oder gehört das bestraft? Meine Antwort: Nein, das ist keine Satire mehr, und ja, das gehört bestraft. Die Begründung kann man im ersten und zweiten Artikel des Grundgesetzes nachlesen. Böhmermann wurde sicherlich nicht für solche sprachliche Ausfälligkeiten mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet, was äußerst traurig für das Preiskomitee gewesen wäre und nicht den Grundwerten entspräche, zu denen auch das Sittengesetz gehört. Was in diesem Zusammenhang als Satire gemeint ist, ist nach meiner Auffassung in keiner Weise das Ergebnis von Parodie, Travestie und Persiflage oder Ironie, Spott und Sarkasmus, sondern ein plumper Versuch des Stimmenfangs mit obszönen, vulgären und in Medien völlig abwegigen Ausdrücken über einen bei Demokraten wegen seiner Handlungen unbeliebten Menschen in der Türkei, der jedoch von der Mehrheit seiner Landsleute gewählt wurde und als Staatsoberhaupt Europa mitgestaltet. Daran hat auch unsere Kanzlerin im Zusammenwirken eben auch mit Erdogan einen erheblichen Beitrag geleistet. Und in diesem Falle hat Jan Böhmermann all die anderen Staatsoberhäupter auf eine Stufe gestellt und zutiefst beleidigt. Heinz Paulus, Zwickau Historisches Projekt beendet Es ist traurig und beschämend, dass neun Jahre nach dem Beschluss einige Volksvertreter im Haushaltsausschuss mächtig genug sind, dieses Votum zu kippen. Ungeachtet des Nachweises der Fachleute, dass keine Mehrkosten entstehen, zogen die Abgeordneten trotzdem einen Schlussstrich und beendeten ein historisches Projekt. Kann es sein, dass sich die Abgeordneten eher am Motto „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“ gestoßen haben, als an den Kosten? Der Begriff „Volk“ wird nur sogenannten Rechtspopulisten überlassen? Ihnen darf man doch ihren wöchentlichen Spruch nicht noch durch ein Denkmal veredeln. Und flugs hat man wieder kleine Tierchen entdeckt, mit deren „Schutzbedürfnis“ schon mal eine notwendige Elbe-Überquerung verhindert werden sollte. Michael Sieber, Limbach-Oberfrohna Endlich Zuschlag für Kinderlose Zum Bericht „Nahles plant große Rentenreform“: Das Rentensystem krankt an der zu geringen Zahl der Kinder. In der Rentenreform kann ich kein Wort darüber lesen, dass endlich Familien mit Kindern ihren verdienten Vorteil erhalten sollen. Bei der Pflegeversicherung ist das der Fall, denn kinderlose Arbeitnehmer zahlen mehr. Warum wird die gleiche Regelung nicht auch in die Rentenversicherung übertragen? Ein Zuschlag von 20 Prozent für Kinderlose und zehn Prozent für Eltern mit nur einem Kind wäre ein angemessener Beitrag für den eigenen Rentenanspruch. Peter Blaudeck, Neukirchen Ein Weckruf: Bürger sollen endlich mitregieren Zum Beitrag „Niederlande in Not: Was tun mit diesem Ergebnis?“ und zum Leitartikel „Das klare Nein der Bürger“ haben uns diese beiden Leserbriefe erreicht. Eine Protestwahl war das nicht Der Autor des Leitartikels ordnet das Nein der Niederländer zum EU-Abkommen mit der Ukraine in die Kategorie Protestwahl ein, als allgemeinen Protest gegen die Politik in Brüssel. So kann man es sehen, muss man aber nicht. Wer es so sieht, unterstellt den Wählern ein unzureichendes Politikverständnis bezüglich der Auswirkungen ihrer Entscheidungen. Kann man es nicht auch so sehen, dass dieses Nein sich nur gegen dieses geplante Abkommen richtet? Meine Erinnerungen an die Proteste in der Ukraine gegen die Herrschenden, die mit dem Aufstand auf dem Maidan gipfelten, decken sich auch nicht mit denen des Kommentators, der diese als einen Kampf der Ukrainer für das Abkommen mit der EU interpretiert. Die Protestbewegungen richteten sich doch in erster Linie gegen das von milliardenschweren Oligarchen errichtete korrupte Herrschaftssystem mit begleitendem Terror und bitterer Armut für große Teile der Bevölkerung. An diesem System hat sich bis heute nicht viel geändert. Deshalb ist es richtig, gegen dieses Abkommen zu stimmen. Zum einen muss man doch befürchten, dass die Mittel, die dann in das Land fließen, zum großen Teil in den Taschen der Oligarchen landen und kaum dem Aufbau des Landes zugutekommen. Zum anderen könnte bei den Ukrai- lösen, aus eigener Kraft. Nur so kann sich eine stabile Demokratie entwickeln. Wenn ich lese, dass das Nein schädlich für die Außenpolitik der EU sei, dann erhebt sich auch hier die Frage: Aus welcher Sichtweise? Wenn es um eine gegen Russland gerichtete Außenpolitik geht, dann hat der Autor wohl recht. Ansonsten wohl kaum. Jürgen Nuß, Chemnitz Beim Referendum zum Ukraine-Abkommen haben sich die „Nee“-Sager durchgesetzt. FOTO: EVERT ELZINGA/DPA nern der Eindruck oder gar die Hoffnung geweckt werden, dass nun die EU ihre gesellschaftlichen Probleme lösen wird. Nein, diese Probleme müssen die Ukrainer vorher selbst Mehr direkte Mitbestimmung Die Abstimmung hat zwar in den Niederlanden stattgefunden. In Not befindet sich jedoch eher die EU. In der jüngeren Vergangenheit wurden schon oft Wahlen zweckentfremdet; wie beispielsweise auch bei den jüngsten Landtagswahlen hauptsächlich Bundesthemen eine Rolle spielten. Für mich zeigt das: Unser Land – ja ganz Europa – ruft nach mehr direkter Demokratie. Die Bürger wollen mitregieren. Sie wollen Richtungen mitbestimmen, nicht nur alle paar Jahre ihre Stimme abgeben, um unbekannte Leute in ein Riesenparlament auf gut dotierte Posten zu setzen. Und was kommt dabei heraus? Um nur mal beim Assoziierungsvertrag mit der Ukraine zu bleiben: Der Vertrag wurde ohne Konsultationen mit Russland ausgearbeitet, was das Zerwürfnis zwischen Russland und der Ukraine zur Folge hatte. In der Ukraine ist meiner Ansicht nach ein korruptes Regime an der Macht, und Brüssel ist drauf und dran, neben Griechenland ein weiteres Fass ohne Boden aufzumachen. Die Abstimmung in den Niederlanden war Volkes Stimme. Brüssel sollte sie vernehmen. Übrigens gab es bei der letzten Europawahl Länder mit noch geringerer Wahlbeteiligung, und da hat niemand gefragt, ob man diese Wahl ernst nehmen soll. Günter Schlag, Auerbach/E.
© Copyright 2024 ExpyDoc