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Beim Ausmalen des Schmetterlings
Langsamer, näher, tiefer: Im Slow-Life-Café versinken junge
Menschen für Stunden in einer Silbe von Proust. Seite 23
Fotos: fotolia/DooMinatorDesignz, 123rf/Oleksandr Zheltobriukh, Montage: nd
Sonnabend/Sonntag, 16./17. April 2016
71. Jahrgang/Nr. 89
Bundesausgabe 2,30 €
www.neues-deutschland.de
STANDPUNKT
HSV schlägt
Afrika
Velten Schäfer über Magdeburger
Träume von der AfD
Noch ist die sogenannte Keniakoalition nicht verhandelt, da beginnen die Absetzbewegungen:
bei den Grünen, denen es schon
unheimlich zu werden beginnt
mit dieser Union. Und bei derselben, die sich bereits bei der Wahl
des Landtagspräsidiums in Teilen
als blaustichig zeigte.
Und nun der Paukenschlag:
CDUler ventilieren eine Minderheitsregierung mit »wechselnden
Mehrheiten«. Faktisch geht das in
Richtung einer stummen Tolerierung durch die AfD.
Statt der afrikanischen Lösung
steht also eine HSV-Konstellation
im Raum: tiefschwarz mit blauem
Rahmen und unbestimmtem
weißen Kern, traditionsreich und
stets absturzbedroht. Eine unschöne Anordnung – meinen
nicht nur jene britischen Fußballfans, die jüngst die »Raute« des
Hamburger Klubs zum hässlichsten Logo des europäischen Vereinswesens wählten.
Denn die HSV-Lösung wäre
optimal für die AfD. Um zu regieren, ist sie noch zu ungefestigt,
erläuterte gerade ihr Führer
Gauland der »Zeit«. Aus einer
undefinierten Halbopposition
aber könnten die Rechten gleichzeitig Sprüche klopfen und Symbolprojekte durchboxen.
Noch hadert die AfD, ob sie
populistisch oder extrem ist. Und
diejenigen, die seit Jahren von
der SPD in dreist moralisierender
Pose Distanzierungsschwüre gegen Links einfordern, winken
freundlich: ein Tiefpunkt demokratischer Kultur, den der Regierungschef schnell ausradieren
muss – und die Partei diskutieren.
Hollande trotzt
Protesten in Paris
Kenia ist
doch zu weit
Präsident bekräftigt Modernisierung
und Schutz des Sozialmodells
Das Magdeburger Dreierbündnis
steht schon jetzt zur Disposition
Magdeburg. Fürs erste geht alles weiter, als wäre nichts
gewesen: Am Freitagabend waren CDU, SPD und Grüne
in Magdeburg verabredet, um offene Fragen auf dem
Weg zu einer sogenannten Keniakoalition – aus
Schwarz, Rot und Grün – zu besprechen. Am Dienstag
sollen dann die Ressorts verteilt und die Personalien besprochen werden. Doch stehen die Verhandlungen inzwischen unter einem dicken Fragezeichen: Ob die drei
Parteien am Ende tatsächlich zustimmen, gilt in Sachsen-Anhalts Hauptstadt derzeit als ebenso ungewiss wie
die für den 25. April angesetzte Wiederwahl von Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) im Landtag.
Die Dreierkoalition wankt quasi von Anfang an: Das
ist gewiss kein gutes Zeichen für jene »stabile Regierung der Mitte«, die Haseloff nach der Wahl versprach.
Die Irritationen begannen am Dienstag, als sich offenbar etliche CDU-Abgeordnete der Wahl von Wulf Gallert
(LINKE) zum Vize-Landtagspräsidenten gegen alle Gepflogenheit verweigerten, der AfD-Kandidat jedoch glatt
durchkam. Weiter ging es, als sich am Mittwoch prominente CDU-Vertreter auf einer Demonstration von Landwirten zeigten, die hitzig gegen einen grünen Landwirtschaftsminister Stimmung machte – gerade dies fordert aber deren Basis.
Darüber hinaus erodiert in der zweiten Reihe der CDU
bereits die kategorische Absage an die AfD, auf die sich
Haseloff im Wahlkampf festgelegt hatte. Forderungen
nach einer Minderheitsregierung mit wechselnden
Mehrheiten werden laut, längerfristig schließen manche
nicht einmal Schwarz-Blau noch aus. nd
Seite 5
Grafik: nd
UNTEN LINKS
Nur jeder zweite Angestellte in
Deutschland ist mit seinem Job
zufrieden – das ist das Ergebnis
der Studie einer Firma, die sich
rühmt, »weltweit führend in der
Bereitstellung innovativer Lösungen und Dienstleistungen« für –
sagen wir: Berufsprobleme zu sein.
Vielleicht kann die Linksfraktion
bei dieser Perle der Motivationsverbesserung Hilfe finden? Die
Frage stellt sich, seit bekannt ist,
dass ihr langjähriger allererster
Angestellter mit seinem neuen Job
in der zweiten Reihe unzufrieden
ist. Ein Vorgang, der die Volksnähe
dieser Partei und ihres größten
Fraktionschefs aller Zeiten beweist. Denn die Frage, ob man nun
»eine Rolle oder auch keine Rolle«
irgendwo spielen möchte, das bezeugt besagte Studie, ist Breitensport. Apropos Ohr an der Masse:
Die Experten der weltweit in der
Bereitstellung von Lösungen führenden Firma warnen, unzufriedene Angestellte müssten ernst
genommen werden. »Sonst wandern wichtige Schlüsseltalente zu
Wettbewerbern ab.« Das kann die
Linksfraktion nicht wollen. tos
ISSN 0323-3375
Böhmermann stürzt Majestätsbeleidigung
Kanzlerin Merkel ermächtigt von Ankara geforderte Strafverfolgung / Empörung von SPD über LINKE bis FDP
Im Fall Böhmermann lässt die
Kanzlerin die Strafverfolgung
wegen Beleidigung des türkischen Präsidenten zu. Von SPD bis
FDP sind alle dagegen. Zugleich
fällt die umstrittene Strafnorm.
Von Vincent Körner
Die Entscheidung der Bundesregierung, eine Strafverfolgung des
ZDF-Moderators Jan Böhmermann wegen des umstrittenen Paragrafen zur Beleidigung eines
ausländischen Staatsoberhaupts
zuzulassen, ist von FDP bis Linkspartei auf scharfe Kritik gestoßen.
Selbst der Koalitionspartner SPD
distanzierte sich auffallend deutlich von dem Votum. Dieses sei in
der Bundesregierung »gegen die
Stimmen der SPD-Minister gefallen«, sagte Fraktionschef Thomas
Oppermann. Der SPD-Außenpolitiker Niels Annen machte deutlich, auf wen das Ja zur Strafverfolgung allein zurückgeht: Er
»halte das für eine falsche Entscheidung der Kanzlerin«.
Merkel hatte am Freitag mitgeteilt, dass die notwendige Ermächtigung der Staatsanwaltschaft für eine Strafverfolgung erteilt worden sei. Die CDU-Chefin
will damit keine Vorverurteilung
des Moderators verbunden sehen
– doch der Vorgang ist umstritten,
weil sowohl das Schmähgedicht
Böhmermanns auf den autoritären türkischen Staatspräsidenten
zu großer Debatte geführt hatte als
auch das förmliche Verlangen Recep Tayyip Erdogans nach einer
Strafverfolgung auf Basis einer
umstrittenen Rechtsnorm.
Eben diese will die Bundesregierung nun aber abschaffen. Paragraf 103 des Strafgesetzbuches
sei »für die Zukunft entbehrlich«,
sagte Merkel. Noch in dieser
Wahlperiode soll der Paragraf fallen, die Änderung könnte dann
2018 in Kraft treten. Das wurde
von der Opposition durchaus begrüßt – es änderte aber nichts an
der Empörung gegen Merkel.
Linksfraktionschef
Dietmar
Bartsch sagte, er sei »entsetzt darüber, dass die Entscheidung so
gefallen ist«. Die Linkenpolitikerin Ulla Jelpke sprach mit Blick auf
Erdogan von einer »Kumpanei«
Merkels »mit dem Autokraten«.
»Heute hat sich Kanzlerin Merkel für ihren Abschiebepartner Erdogan und gegen die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit
entschieden«, sagte Linksfraktionsvize Jan Korte. »Damit verletzt sie ihren Amtseid und beschädigt die Demokratie.« Es wäre laut Korte die Pflicht Merkels
gewesen, »hinter dem Grundgesetz und den darin garantierten
Freiheiten zu stehen«. Er kritisierte zudem die SPD, die »diese
Entscheidung toleriert«.
Bei den Sozialdemokraten legte man Wert auf die Feststellung,
dass alle SPD-Minister gegen
Merkels Entscheidung gestimmt
haben. Justizminister Heiko Maas
und der für Auswärtiges zuständige Frank-Walter Steinmeier erklärten das Nein unter Verweis auf
»Merkel hat sich für
ihren Abschiebepartner Erdogan und
gegen die Kunstfreiheit entschieden.«
Jan Korte, Linkspartei
die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit in der Verfassung. Man sei
sich »darüber einig, dass darüber,
wo die Grenze zwischen Kunst
und strafbarer Beleidigung verläuft, nicht die Regierung zu entscheiden hat, sondern die unabhängige Justiz.« Diese Prüfung
werde aber »ohnehin erfolgen«.
Grünen-Fraktionschef Anton
Hofreiter sagte ebenfalls, Merkel
sei vor dem türkischen Staatspräsidenten »eingeknickt«. Die
Kanzlerin müsse nun mit dem
Vorwurf leben, dass ihr der Bund
mit der Türkei wichtiger sei als die
Verteidigung der Pressefreiheit.
Auch sei sie nicht mehr glaubwürdig, wenn sie »die Einschränkung der Pressefreiheit in der
Türkei, wenn sie die massiven
Einschränkungen der Menschenrechte in der Türkei und wenn sie
die Untaten des Regimes Erdogan
in den Kurdengebieten anprangert«.
Kritik kam auch vom Deutschen Journalisten-Verband DJV
und aus der FDP. Deren Vorsitzender Christian Lindner sagte,
die Symbolwirkung des Falles sei
»sehr groß«, daher hätte Merkel
»politisch anders entscheiden
müssen«. Die frühere FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger kritisierte,
die Bundesregierung mache »einen Kniefall vor Erdogan«. Auch
wenn Merkel nun bereits angekündigt habe, den »antiquierten
Paragraf 103« des Strafgesetzbuches abzuschaffen, sei es »absolut widersprüchlich«, jetzt dennoch »noch einmal aus politischen Gründen die Strafverfolgung zu ermöglichen«.
Kommentar Seite 2
Paris. Gut ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich stemmt sich Amtsinhaber
François Hollande gegen Jugendproteste und
Unzufriedenheit. Dem Land gehe es besser als
zu Beginn seiner Amtszeit 2012, argumentierte der 61-Jährige in einem Fernsehinterview am Donnerstagabend. Er wolle Frankreich modernisieren und das Sozialmodell
schützen. Hollande steht wegen einer geplanten Arbeitsmarktreform unter Druck. Seit
Wochen gehen immer wieder Gewerkschaften und Jugendverbände auf die Straße, während das Land unter Rekordarbeitslosigkeit
leidet. Nach dem TV-Auftritt kam es in der
Nacht zum Freitag in Paris zu Ausschreitungen. Im Nordosten der Hauptstadt wurden
Scheiben von Geschäften und Bushaltestellen
eingeschlagen und Autos beschädigt, wie die
Polizei mitteilte. Beschuldigt wurde eine
Gruppe von etwa 300 Demonstranten vom
Platz der Republik. Dort wird unter dem Motto »Nuit debout« (Nacht im Stehen) seit zwei
Wochen gegen soziale Ungerechtigkeit demonstriert. dpa/nd
Seite 6
CDU will Rente aus
dem Wahlkampf
heraushalten
Kritik von der Linkspartei
Berlin. Alle reden über die drohende Altersarmut – doch Unionsfraktionschef Volker
Kauder will das Thema Rente aus dem Bundestagswahlkampf 2017 heraushalten. »In der
Vergangenheit ist das meist gelungen und wir
sind gut damit gefahren«, sagte Kauder den
»Ruhr Nachrichten«. Man müsse »jetzt umfassend darüber beraten, an welchen Stellen
Reformbedarf besteht«, so der Politiker. Aber
»wir alle sollten versuchen, das Thema Rente
aus dem Wahlkampf herauszuhalten«.
Linksparteichefin Katja Kipping kritisierte
Kauder. »Stehen Hartz IV, Kinderarmut und
der Dauerstress in Pflege sowie Gesundheit
auch auf Kauders Liste?«, fragte sie im Kurznachrichtendienst Twitter. Auch der FDP-Vorsitzende Christian Lindner kritisierte die Renten-Debatte – allerdings von einer ganz anderen Seite: Die »Rentenerhöhungspläne in
der Bundesregierung« bezeichnete er als
Stimmenkauf für die nächsten Wahlen, mit
denen aus der Rentenkasse »ein paar Stimmen« gekauft werden sollen. nd/Agenturen
Auch Prüfung in
Biblis vorgetäuscht
Externer Mitarbeiter fälschte
Prüfberichte in Atomkraftwerk
Wiesbaden. Ein für den Strahlenschutz zuständiger Mitarbeiter des Atomkraftwerks
Biblis in Hessen hat in den Jahren 2014 und
2015 – nach der Stilllegung des AKW im Jahr
2011 – Sicherheitsprüfungen an Messgeräten
vorgetäuscht. Weil die Dokumentation der
vermeintlichen Ergebnisse auffällig gewesen
sei, wurden der Kraftwerkbetreiber RWE und
das hessische Umweltministerium aufmerksam, teilte das Ministerium mit.
Eine sicherheits- und strahlenschutztechnische Gefährdung konnte nach Angaben des
Ministeriums umgehend ausgeschlossen
werden. Dem Mitarbeiter sei nach dem Aufdecken mit sofortiger Wirkung der Zutritt zu
dem Kraftwerk verwehrt worden, ihm wurde
auch gekündigt. Die Sicherheitsprüfungen
wurden nachgeholt, zudem wurden zusätzliche Standards eingeführt.
Im baden-württembergischen Atomkraftwerk Philippsburg 2 waren ebenfalls Sicherheitskontrollen von einem Mitarbeiter vorgetäuscht worden, wie am Donnerstag bekannt wurde. dpa/nd
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