Monatsspruch November 2015: Erbarmt euch derer, die zweifeln

Monatsspruch November 2015:
Erbarmt euch derer, die zweifeln (Jud 22).
Hätten Sie das gedacht? Auch in neutestamentlichen Gemeinden gab es Leute, die Zweifel hatten!
Freilich: Der methodische Zweifel, der für unser neuzeitliches Denken so wichtig geworden ist, war
damals noch unbekannt – auch außerhalb der Christenheit. Dass man sich mit überlieferten
Gewissheiten nicht einfach zufrieden geben soll, sondern kritisch fragen, ob sie zureichend
begründet sind, war die Kernforderung erst der Aufklärung, ohne die moderne Natur- und
Geisteswissenschaften, auch die Theologie, nicht mehr denkbar sind. Die kritische Nachfrage hält
unser Denken und Handeln in Bewegung.
Der Zweifel, von dem im Neuen Testament gesprochen wird, ist anderer Art, aber uns ebenfalls gut
bekannt. Dieser Zweifel tritt auf, wo ein Mensch zwischen Für und Wider hin- und hergerissen ist, wo
er nicht weiß, wem er Recht geben und wofür er sich entscheiden soll. Das griechische Wort, das in
unserem Monatsspruch für „zweifeln“ steht, hat die Grundbedeutung „mit sich im Streit liegen“. Ein
solcher Zweifler ist innerlich zerrissen.
Die Situation, in die der Judasbrief hineinspricht, ist ein schwerer innergemeindlicher und
übergemeindlicher Konflikt, in dem der christliche Glaube insgesamt auf dem Spiel steht. Judas hat
Christen vor Augen, die für ihn gefährliche Irrlehrer sind, aber die doch sehr viele Gläubige auf ihre
Seite gezogen haben. Es gab also Anhänger der neuen Richtung, es gab standhafte Vertreter der
Apostelüberlieferung, und es gab die Zweifler, die sich nicht entscheiden konnten.
Wie sollen die entschiedenen Christen mit diesen Unentschiedenen umgehen? Judas sagt: Erbarmt
euch ihrer! Nehmt euch ihrer helfend an! Macht ihnen also keine Vorwürfe und gebt sie nicht
vorschnell verloren! Helft ihnen vielmehr zu einer klaren und richtigen Entscheidung. Und was kann
in dieser Situation helfen? Natürlich nur überzeugende Argumente! „Erbarmt euch derer, die
zweifeln“, bedeutet also: Sucht das Gespräch, geht auf kritische Fragen geduldig ein und gewinnt die
Unsicheren mit der Kraft des besseren Arguments. Das ist intellektuelle Barmherzigkeit, die auch
heute gebraucht wird.
Uwe Swarat