Vom Wert des Zweifels Zweifel stellen Überzeugungen in Frage. Sie zerstören damit Meinungsgebilde, Ansichten, die wir als gesichert betrachten wollen und als eigene („Mein“ung) vertreten zu können (dürfen) glauben (oder hoffen). Je lieber uns eigene Meinungen und Überzeugungen sind, desto vehementer wehren wir uns gegen jede Infragestellung, Anflüge von Zweifel. Speziell wenn uns diejenigen, die unsere Meinungen geprägt, uns zu einer eigenen Überzeugung geführt (verführt?) haben, lieb und teuer sind oder wir erhebliche Mühe darauf verwandt haben, zu einer eigenen Sichtweise zu gelangen, wehren wir uns oftmals mit aller Kraft gegen deren Bezweiflung. Wir nehmen es dann den Infragestellern, denjenigen, die uns mit Fragen verunsichern und in unserer Überzeugung erschüttern, nachgerade übel, daß sie als emotionale oder rationale Unruhestifter in unser Überzeugungsgebäude einbrechen. Nun gilt als „Aushängeschild“ eigenen (Mit)Denkens, die Umwelt mit kritischen Augen zu betrachten. Dahinter steckt die klare Aufforderung, an uns Herangetragenes nicht vorbehalt- und bedenkenlos, naiv und gutgläubig aufzunehmen, sondern diesen Novitäten mit einer entsprechenden Portion Skepsis und Vorbehalten zu begegnen. Was bedeutet dies aber in Wahrheit? Wir werden damit buchstäblich zu Mißtrauen und Vorsicht aufgerufen – ähnlich wie von der Botschaft aus Kindestagen: „Paß bloß auf!“ Vor wem oder was werden wir eigentlich gewarnt? Und wer schilt uns töricht, wenn wir neugierig, unvoreingenommen und mit offenem Herzen an einen neuen Sachverhalt, bislang Unbekanntes, neue Ideen oder Alternativen herangeführt werden? Nun, es könnte die in uns verankerte Überzeugung erschüttern, wider den zementierten, fest im System verankerten Stachel löcken und somit ein festgezimmertes Denkgebäude aus (mehr oder weniger) starren Denkmustern erschüttern, ins Wanken oder gar zum Einsturz bringen. Davon abgesehen, daß das lateinische criticos (als Lehnwort aus dem Griechischen) ursprünglich „Entscheidung nach Beurteilung“ bedeutet (crinein: griech.: „scheiden, trennen“) und Kritik erst ab dem 17. Jhd. die „wissenschaftliche Beurteilung“ verlangt, kommt auch das griechische Wort crisis [ursprünglich: „Entscheidung“, heute Gefährdung (im allgemeinen und im spezifischen Sinne)] aus dem gleichen Wortfeld. Als Kritiker bezeichnet man einen Nörgler und tadelnden Störer, dem man vorab einmal mit Skepsis (Ablehnung) gegenübersteht. Vielen gibt die Forderung nach einem kritischen Bewußtsein heute auf, sich gegen alles zu stellen, was normativer Üblichkeit widerspricht, und wohl aus diesem Grunde sehen wir Zweifel vornehmlich als eine von Abwehr bestimmte Haltung an. Versuchen wir es einmal andersherum: Wer generell nichts als unendlich, endgültig und per se abgeschlossen ansieht, demnach alles – Zustände, Meinungen wie auch Personen – immer auf dem Prüfstand hält, ohne vor Neuerungen, Ergänzungen oder Wandlung Angst zu haben, entsagt sich damit dem pejorisierenden Moment, dem negativen Beigeschmack des Zweifels. Für ihn ist der Zweifel ein allzeit zur Verfügung stehendes Prüfinstrument – nicht um zu falsifizieren und abzuwehren, sondern um damit den Inhalten neuer Botschaften und Informationen, neuen Wissens und bislang nicht bekannten Ansichten ein Mitspracherecht dahingehend einzuräumen, daß man eigene Überzeugungen manifestieren oder erweitern kann, bzw. Schwachstellen im eigenen Denken lokalisieren und dann ggf. berichtigen kann. Es ist die Kunst wertungsfreien Zweifelns, die uns die Angst vor dem Zweifel nehmen, ihn gar zu einem hilfreichen Instrument täglichen Erlebens werden läßt. Wir sollten aus diesem Grunde tunlichst unterscheiden zwischen endogenem, d.h. aus eigenem DenkFühlen erwachsendem Zweifel einerseits und exogenem, uns von normativem Zweifel, dem von offiziell verbreiteten Denkmustern ausgehenden und der Üblichkeit entsprechendem Zweifel. Erweist sich Zweifel als mehr mit Überraschung gepaartes Empfinden, so sollte uns dies ermuntern, mit weiterführender Neugier und wachsendem Interesse diesem Zweifel hinterherzuleuchten, ihm Raum zu geben. Steht dahinter jedoch die Angst vor Veränderung und, damit verbunden, der drohende © PERSPEKTIVE ohne Grenzen e.V., Feringastr. 12a, 85774 Unterföhring, 7/2002 Seite 1 „Zwang“, bisher Geglaubtes, als richtig Empfundenes oder geübtes Handeln verändern zu müssen, so begeben wir uns damit einer Chance der Erweiterung, des Zuwachses und einer sich bietenden Möglichkeit, intellektuell, emotional oder funktional/materiell hinzuzugewinnen. Insofern ist kritisches Bewußtsein und genährter Zweifel oftmals genau das Gegenteil dessen, was es vorgibt zu sein; systemisches Denken möchte ebenso wenig gestört werden, wie das System insgesamt. Gerade deshalb hat nicht nur die Wissenschaft das Dogma ausgegeben, das jede neue Idee, jede unübliche Vorgehensweise zu allererst wissenschaftlicher Kritik genügen und standhalten muß (was den Durchbruch unkonventioneller, schematisch offener Ideen so erschwert bzw. oftmals verunmöglicht und Forschern das Einwerben benötigter Geldmittel so erschwert), indem es die grundsätzlich natürliche Neugier erst einmal durch den „Filter“ kritischen Beäugens (und einer dahinterstehenden grundsätzlichen Abwehrhaltung) schickt. Wer jedoch den Zweifel nicht als vorbelastendes Moment ansieht, sondern mit Wachheit, Aufmerksamkeit und dennoch offenem, zugewandtem Interesse gleichsetzt, wird durch Zweifel nicht gehindert und gebremst, sondern zusätzlich animiert und interessiert. Insofern kann der Zweifel das Maß eigener Freiheit nachgerade steigern oder – im umgekehrten Fall, als Opfer von Zweifel – eigenes DenkFühlHandeln bremsen oder sogar unterbinden. Aus all dem erkennen wir aber einerseits, woher die mitunter recht befremdliche Ängstlichkeit vieler Menschen und ihre generelle Abwehrhaltung Neuem gegenüber rührt. Andererseits verrät sich hierbei aber auch das dahinterstehende Muster, die geistige und seelische Korruption des Menschen (in diesem Fall genormte Denk-, Fühl- und Handlungsvorgaben), mit Hilfe dessen sich das jeder Veränderung gegenüber abholde System vor jedweder Änderung, Infragestellung und daraus mutmaßlich resultierender, notwendiger Wandlung zu schützen versteht. Zumindest versucht es dies. Wer die Angst vor dem Zweifel besiegt, weil er Zweifel als etwas gewinnbringendes und ihm dienlich zur Verfügung stehendes Moment erkennt, dem schenkt der Zweifel seine Gunst, der kann Zweifel als etwas Sinnstiftendes ansehen. Umgekehrt: Solange wir Zweifel im Sinne einer drohenden Veränderung des bisher gepflegten Üblichen ansehen, unterstellen wir uns damit der uns und unser DenkFühlHandeln bremsenden Manipulation der Norm. Nun haben Menschen unterschiedlicher zerebraler Disposition1 auch unterschiedliche Herangehensweisen, wenn sie, weil mit Neuem konfrontiert, zweifeln. Der „grün“-Dominierte neigt generell zur Abwehr, wenn es um Neues, ihm Unbekanntes und nicht-Vertrautes geht. Ihn ängstigt unbekanntes Terrain und deshalb reagiert er mit pessimistischem Mißtrauen. Wird er durch Befehl oder den Zwang der Situation dann doch mit etwas Neuem konfrontiert und zum Handeln aufgerufen, erledigt er die ihm übertragenen Aufgaben in gewohnter Präzision. Sieht er sich dann aber eines Vorurteils überführt, weil sich das ihm verdächtig erscheinende Neue als wahr, real und richtig erweist, kann er sich über eine gelungene Arbeit nicht einmal wirklich freuen; es war ja eigentlich gar nicht seine Leistung, er hat ja nur auf Befehl gehandelt. Auch mehrfache Vorkommisse dieser Art lassen den stark im Normenkatalog verhafteten Stammhirn-Dominierten nicht etwa seine Meinung ändern, um dann generell optimistischer und zugewandter an Neues heranzutreten. Ganz im Gegenteil: Sein Pessimismus wird sogar noch manifestiert; nach seinem „Denken“ steigt mit jedem Erfolg die Gefahr eines irgendwann einsetzenden Mißerfolges. In seiner Gestik zeigt er vor allem eine spontan gerunzelte Stirn, nach unten gezogene Mundwinkel und einen manchmal schier angeekelten Gesichtsausdruck. Seine Körperhaltung ist zumeist verschlossen und eng („Platz sparend“). Steht bei ihm an zweiter Stelle das ratio-dominierte „blau“Hirn, kommt es zu einleitenden Teilsätzen wie: „Ja, aber...“ oder „Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß...“; mit vorgeblich logischen Einwänden wird emotionale Abwehr „begründet“. Der hauptsächlich emotional gesteuerte lymbische („rot“-Hirn-)Typ reagiert spontan mit Protest, trotzig vorgerecktem Kinn, stark überhöhter Lautstärke und einer nach außen gerichteten, abwehrenden Gestik. Seine Protestrhetorik beginnt dann zumeist mit „Nein, nein...“ oder sogar „Das kann gar nicht sein, weil...“. Steht bei ihm der instinktuell-gesteuerte Stammhirn-Aspekt an zweiter Stelle, zieht er sich möglichst rasch aus einer dann vielleicht einsetzenden Diskussion zurück; er will 1 gemeint ist hier eine unterschiedliche Dominanz entweder des Stammhirns („grün“), des lymbischen Systems („rot“) oder des rational orientierten Groß-/Kleinhirns („blau“), nach denen die „Struktogrammatik“ unterteilt. © PERSPEKTIVE ohne Grenzen e.V., Feringastr. 12a, 85774 Unterföhring, 7/2002 Seite 2 ihn des Irrtums potentiell überführende Argumente weder hören noch durchdenken. Trifft er in derartigen Momenten auf einen gleichfalls „rot“-dominierten Gesprächspartner, kann es flugs zu erheblichem Streit, mitunter gar zu einem totalen Zerwürfnis mit dem Gegenüber kommen. Ein derartiger Kampfdisput bedarf dann zumeist eines moderierenden Dritten, um nicht in einer Dauerfehde, ewigem Haß und völliger Entfremdung zu enden. Der Groß-/Kleinhirn orientierte („blau“-Hirn-)Typ verrät seine Zweifel weniger in mimischer Weise, vielmehr versucht er durch einen breiteren Fußstand quasi Standpunkt-„Sicherheit“ zu gewinnen. Sein Tonfall wird heftiger und klingt gereizt, seine Stimmlage steigt an und seine Gestik wirkt abgehackter. Trifft er bei einem derartigen Streitgespräch auf einen ebenfalls „blau“-dominierten Gesprächspartner sollten sich die übrigen Zuhörer am besten verabschieden; die beiden verlieren sich nämlich dann in einem Spezialisten-Disput, der sich in Theorismen, (pseudo-)wissenschaftlicher Beweisführung und abstrakter Logik sehr schnell verliert. Unabhängig von allem oben Genannten birgt Zweifeln generell einen fatalen „Charme“; es spart Denkarbeit. Wer Zweifel vorschützt, mag mitunter nicht aus ehrlichen Motiven und einer generell skeptisch-pessimistischen Haltung ihm Unbekanntes, Neues ablehnen. Viel öfter schützt derjenige Zweifel vor, der schlicht denkfaul ist, dies aber (verständlicherweise) um nichts in der Welt zugeben mag. Wer ohnehin intellektuell bequem ist, sich rhetorisch und literarisch nie sonderlich geübt hat und aus diesem Grunde von vornherein Minderwertigkeitskomplexe hat, wird Zweifel als probates Mittel vorschützen, um nicht – wieder einmal – eigener Unbelesenheit, Unwissenheit und eines oberflächlichen Denkens überführt zu werden. Diskussionen mit derartigen Menschen dauern deshalb auch zumeist nicht sehr lange. Diese Menschen zu überzeugen hat auch wenig bis überhaupt keinen Sinn; es fehlt die Bereitschaft und der Wille, sich generell mit Neuem auseinanderzusetzen. Wer auf den „Trick“ dieser Zeitgenossen hereinfällt und meint, Zweifeln dann mit Argumenten begegnen, aufklärerische Überzeugungsarbeit leisten zu müssen, gerät in die Falle eines zumeist sehr frustrierenden Psychospiels. In solchen Momenten spart man sich und anderen erheblichen Verdruß, wenn man das „Streitgespräch“ mit einem verbindlichen Lächeln beendet und sich darauf einigt, sich zu „zweinigen“. Wer seine eigenen Zweifel partout nicht hinterfragen möchte, bei dem ist jede Überzeugungsarbeit völlig sinnlos. H.-W. Graf © PERSPEKTIVE ohne Grenzen e.V., Feringastr. 12a, 85774 Unterföhring, 7/2002 Seite 3
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