Juristische Fakultät Konversatorium zum GK BGB I von Bien/Sonnentag Wintersemester 2015/16 Fall 3: Kalter Kaffee Sachverhalt V sendet am späten Abend des 13.11. per Fax ein günstiges Kaufvertragsangebot ins Büro des K (Öffnungszeiten 08:00 bis 17:00 Uhr). Dort wird das Schreiben sofort ausgedruckt. Am 14.11. um 9:30 Uhr ruft V bei K an, um das Angebot zu widerrufen. Erst in diesem Moment liest K das Schreiben. Er nimmt das darin unterbreitete günstige Angebot an. K verlangt von V Lieferung. Lösung Fraglich ist, ob K von V Lieferung aus § 433 Abs. 1 BGB verlangen kann. I. Kaufvertrag Voraussetzung ist, dass V und K einen entsprechenden Kaufvertrag geschlossen haben. Ein Vertrag kommt durch zwei inhaltlich miteinander korrespondierende Willenserklärungen, dem Angebot und der Annahme zustande. 1. Angebot Das Angebot liegt vorliegend in dem Schreiben des V. a) Abgabe V hat seine Erklärung willentlich in den Verkehr gebracht und damit zweifellos auch abgegeben. 1 Juristische Fakultät Konversatorium zum GK BGB I von Bien/Sonnentag Wintersemester 2015/16 b) Zugang Die Willenserklärung des V ist dem K spätestens in dem Zeitpunkt zugegangen, in dem er das Fax tatsächlich gelesen hat. c) Unwirksamkeit aufgrund Widerrufs Möglicherweise ist das Angebot des V aber durch Widerruf gemäß § 130 Abs. 1 S. 2 BGB nicht wirksam geworden. Der Anruf des V bei K enthielt eine Willenserklärung, die auf den Widerruf seines ursprünglich per Fax erklärten Angebots gerichtet war. Zu prüfen ist, ob dieser Widerruf die Voraussetzung der Rechtzeitigkeit erfüllt. aa) Zugangszeitpunkt des Angebots Empfangsbedürftige Willenserklärungen (z.B. Angebot) gehen spätestens in dem Zeitpunkt zu, - in dem sie so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, - dass für ihn unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit besteht, vom Inhalt der Erklärung Kenntnis zu nehmen (normativer Zugangsbegriff). Das Schreiben des V hatte eine empfangsbedürftige Willenserklärung zum Gegenstand, da es sich an eine bestimmte Person richtete. Es kam am späten Abend im Geschäft des K an. Da unter normalen Verhältnissen 2 Juristische Fakultät Konversatorium zum GK BGB I von Bien/Sonnentag Wintersemester 2015/16 nicht mit einer Kenntnisnahme nach Geschäftsschluss zu rechnen ist, ist das Fax erst zu Beginn des folgenden Arbeitstages, also dem 14.11. zugegangen (h. M.). Hier hat K auch nicht schon früher Kenntnis von dem Inhalt des Telefax genommen, so dass auch nicht ausnahmsweise von einem früheren Zugangszeitpunkt auszugehen ist. bb) Zugangszeitpunkt des Widerrufs Rechtzeitig ist der Widerruf nur, wenn er dem K vorher oder gleichzeitig mit dem Angebot zugegangen ist, § 130 Abs. 1 S. 2 BGB. Zwar hat V den K telefonisch erreicht, bevor dieser das Telefax mit dem Angebot gelesen hatte. Auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme ist aber nur dann abzustellen, wenn er dem Zeitpunkt vorausgeht, zu dem unter gewöhnlichen Umständen mit einer Kenntnisnahme zu rechnen ist (Beginn des Arbeitstages). Das ist hier aber, wie bereits ausgeführt, nicht der Fall. Vergleicht man den Zeitpunkt des Telefonats mit dem hier für das Kaufvertragsangebot allein maßgeblichen normativen Zugangszeitpunkt, kommt man zu dem Ergebnis, dass der Widerruf verspätet war. 3 Juristische Fakultät Konversatorium zum GK BGB I von Bien/Sonnentag Wintersemester 2015/16 d) Zwischenergebnis zu 1 Das Angebot des V ist mangels rechtzeitigen Widerrufs wirksam geworden. 2. Annahme K hat das Angebot des V durch seine Erklärung am Telefon fristgerecht angenommen (§ 147 Abs. 2 BGB). II. Ergebnis Zwischen V und K kam ein Kaufvertrag zustande. K kann von V also Lieferung aus § 433 Abs. 1 BGB zu den von V angebotenen Bedingungen verlangen. Hinweis: Das Ergebnis überzeugt rechtspolitisch nicht unbedingt, selbst wenn man bedenkt, dass V durch geschickteres Verhalten (früheres Absenden des Widerrufs) die Möglichkeit gehabt hätte, wirksam zu widerrufen. Der Grund dafür liegt in der nicht unbedingt sachgemäßen Kombination von normativem Zugangsbegriff einerseits und § 130 Abs. 1 S. 2 BGB andererseits. Der normative Zugangsbegriff wurde nicht für das Widerrufsrecht entwickelt, sondern dient an sich dem Schutz des Erklärenden, der sicher sein soll, dass seine (fristgebundene) Erklärung (Bsp.: Kündigung eines Mietvertrags) rechtzeitig zugeht, unabhängig von durch ihn nicht beeinflussbaren Zufälligkeiten der Kenntnisnahme durch den Erklärungsempfänger. 4
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