Fall 4: Doppelte Stereoanlage Sachverhalt Der 17

Juristische Fakultät
Konversatorium zum GK BGB I von Bien/
Sonnentag im Wintersemester 2015/16
Fall 4: Doppelte Stereoanlage
Sachverhalt
Der 17-jährige M sieht im Laden des V eine einfache Stereoanlage zum
Preis von 200 EUR. Ohne Wissen seiner Eltern einigt sich M mit V über
den Kauf. Dieser ist bereit, dem M die Anlage gegen Anzahlung von 100
EUR sofort auszuhändigen. Eine Woche später feiert M seinen 18ten
Geburtstag. Zu diesem Anlass überreichen ihm seine Eltern eine
wertvolle Stereoanlage. M hat nun an der wenige Tage zuvor bei V
erworbenen Anlage kein Interesse mehr und teilt dies dem V mit.
Wie ist die Rechtslage?
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Lösung
I. Anspruch des V gegen M auf Zahlung des restlichen Kaufpreises,
§ 433 II BGB
Fraglich ist, ob V von M Zahlung der restlichen 100 EUR aus § 433 II
BGB verlangen kann.
Kaufvertrag?
1. Willenserklärung des V
Problem:
Zugang
der
Willenserklärung
beim
beschränkt
geschäftsfähigen M (§§ 2, 106 BGB)
- Gemäß § 131 Abs. 2 S. 1 BGB ist für die Wirksamkeit der
Willenserklärung der Zugang beim gesetzlichen Vertreter (hier:
Eltern, vgl. §§ 1626 Abs. 1, 1629 BGB) erforderlich.
- Aber:
Gemäß § 131 Abs. 2 S. 2 BGB genügt der Zugang beim
Minderjährigen, wenn die Willenserklärung für diesen lediglich
einen rechtlichen Vorteil bringt.
- Hier: Angebot auf Vertragsschluss = lediglich rechtlich vorteilhaft
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= > Zugang der WE bei M (+)
2. Willenserklärung des M
Problem:
Wirksamkeit
der
Willenserklärung
des
beschränkt
geschäftsfähigen K (§§ 2, 106 BGB)
- Gemäß § 107 BGB bedarf der Minderjährige zu einer
Willenserklärung, durch die er nicht lediglich einen rechtlichen
Vorteil erlangt, der Einwilligung (= vorherige Zustimmung, vgl. §
183 S. 1 BGB) seines gesetzlichen Vertreters.
- Hier: Durch den Abschluss des Kaufvertrages wird M (auch) zu
einer Leistung (Zahlung des Kaufpreises, § 433 Abs. 2 BGB)
verpflichtet.
=>
Der Abschluss des KV ist für M nicht lediglich rechtlich vorteilhaft,
sondern auch rechtlich nachteilig.
=>
Eine Einwilligung der Eltern als gesetzliche Vertreter (§§ 1626 Abs.
1, 1629 Abs. 1 S. 1 BGB liegt nicht vor.
=>
Der Vertrag ist gemäß § 108 Abs. 1 BGB schwebend unwirksam.
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=>
Die Wirksamkeit hängt von der Genehmigung (= nachträgliche
Zustimmung, § 184 Abs. 1 BGB) ab.
Aber:
M
ist
mittlerweile
unbeschränkt
geschäftsfähig
geworden
(argumentum e contrario: §§ 106, 2 BGB).
=>
Gemäß § 108 Abs.
3 BGB tritt
die Genehmigung des
Minderjährigen an die Stelle der Genehmigung der Eltern.
Hier: M hat die Verweigerung der Genehmigung erklärt.
= > Die Willenserklärung des M ist endgültig unwirksam.
3. Ergebnis
V hat keinen Anspruch gegen M gemäß § 433 Abs. 2 BGB.
II. Anspruch des V gegen M gemäß § 985 BGB auf Herausgabe der
Stereoanlage
Möglicherweise hat V gegen M einen Anspruch auf Herausgabe der
Stereoanlage gemäß § 985 BGB.
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Voraussetzungen des Herausgabeanspruchs gemäß § 985 BGB
1. Eigentum des Gläubigers
2. Besitz des Schuldners
= tatsächliche Sachherrschaft,
vgl. § 854 Abs. 1 BGB
3. Kein Recht zum Besitz (Einwendung gemäß § 986 BGB)
Rechtsfolge: Pflicht zur Herausgabe
1. Eigentum des V?
Ursprünglich (+)
V könnte sein Eigentum aber durch Übertragung an M gemäß § 929 S. 1
BGB verloren haben.
Voraussetzungen der Übereignung beweglicher Sachen gemäß
§ 929 S. 1 BGB
1. Einigung
= dinglicher Vertrag
2. Übergabe der Sache
= Realakt
3. Einigsein im Zeitpunkt der Übergabe
4. Berechtigung des Veräußerers
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a) Berechtigung des V (+)
b) Übergabe (+)
c) Problem: Einigung
(1) Willenserklärung des V
(+) insbesondere genügte der Zugang der WE bei M (§ 131
Abs. 2 S. 2 BGB: lediglich rechtlich vorteilhaft)
(2) Willenserklärung des M?
- Gemäß § 107 Abs. 1 BGB ist die Einwilligung des gesetzlichen
Vertreters erforderlich, wenn die WE nicht lediglich rechtlich
vorteilhaft ist.
- Hier: lediglich rechtlicher Vorteil (+)
Durch die dingliche Einigung wird M nicht verpflichtet und auch
sonst nicht in seinen Rechten beeinträchtigt.
= > Auch ohne Einwilligung der gesetzlichen Vertreter ist die WE
des M wirksam.
(3) 1. Zwischenergebnis:
Einigung (+)
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d) 2. Zwischenergebnis:
V hat sein Eigentum an M verloren.
2. Endergebnis
V hat keinen Anspruch gegen M gemäß § 985 BGB auf
Herausgabe der Stereoanlage.
III. Anspruch des V gegen M gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
Möglicherweise steht V aber ein Anspruch auf Wiedereinräumung des
Besitzes und Rückübertragung des Eigentums an der Stereoanlage aus
ungerechtfertigter Bereicherung (§ 812 I 1 1. Alt. BGB) zu.
Voraussetzungen des Kondiktionsanspruchs aus § 812 Abs. 1 S. 1
Alt. 1 BGB
1. Etwas erlangt
= jede Verbesserung der Vermögenslage des
Bereicherungsschuldners, insbes. Besitz und/oder
Eigentum an einer Sache
2. Durch Leistung
= zweckgerichtete fremde Mehrung fremden
Vermögens
3. Ohne Rechtsgrund, insbesondere wegen Nichtigkeit (etwa aufgrund
mangelnder Geschäftsfähigkeit, Anfechtung etc.)
des zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäfts
Rechtsfolge: Pflicht zur Herausgabe des rechtsgrundlos Erlangten
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1. Etwas erlangt
(+) M hat Besitz und Eigentum an der Stereoanlage erlangt.
2. Leistung des V
(+) V hat bewusst und zweckgerichtet (Erfüllung des vermeintlich
wirksamen Kaufvertrages) das Vermögen des M gemehrt.
3. Ohne Rechtsgrund
(+) Der Kaufvertrag zwischen M und V ist unwirksam (s.o.)
4. Ergebnis
V kann von M Herausgabe des Erlangten, das heißt Rückübereignung
und Verschaffung des tatsächlichen Besitzes an der Stereoanlage, aus §
812 I 1 1. Alt BGB verlangen.
IV. Anspruch des M gegen V gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB
Fraglich ist, ob M einen Anspruch gegen V auf Herausgabe der als
Anzahlung geleisteten 100 € gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 BGB hat.
1. Etwas erlangt (+)
2. Leistung des M (+)
3. Ohne Rechtsgrund (+)
4. Ergebnis: M hat einen Anspruch gegen V auf Herausgabe der 100 €.
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Fall 5: Tierlexikon
V bietet über eine Internetplattform ein Lexikon der Tierwelt aus dem
Jahre 1952 für nur 10 EUR zum Verkauf an. Der Wert des Lexikons
beträgt 50 EUR. Der 10jährige K sieht fünf Minuten nach der Eingabe
des V das Lexikon und klickt nach Eingabe seiner Adresse auf „Kaufen“.
Sekunden später erscheint auf dem Bildschirm des K die übliche, vom
Computersystem
des
Plattformbetreibers
automatisch
erstellte
Bestätigungsnachricht, wonach der erteilte Auftrag bald ausgeführt
werde. Am Abend erzählt K seinen Eltern von dem Kauf. Sie schimpfen
und sagen, dass sie die Sache ablehnen. Er müsse ohne dieses Buch
auskommen.
Kann K von V Lieferung des Buches verlangen?
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Lösung
Es stellt sich die Frage, ob K gegen V einen Anspruch auf Lieferung
(Übergabe und Übereignung) des Buches aus Kaufvertrag hat, § 433
Abs. 1 S. 1 BGB.
1. Voraussetzung: Kaufvertrag zwischen K und V
a) Willenserklärung des K?
P: Minderjährigkeit des K (§§ 106 BGB)
-
Gemäß § 107 Abs. 1 BGB ist die Einwilligung des gesetzlichen
Vertreters erforderlich, wenn die WE nicht lediglich rechtlich
vorteilhaft ist.
- Hier: Rechtlicher Nachteil (+)
K wird durch Abschluss des Kaufvertrages zur Zahlung des
Kaufpreises verpflichtet (§ 433 Abs. 2 BGB)
Der Umstand, dass das Geschäft möglicherweise wirtschaftlich
vorteilhaft ist, spielt hier keine Rolle (rechtlicher Vorteil!)
- Wirksamkeit der WE gem. § 110 BGB?
(-) kein Bewirken der Leistung
= > Die Einwilligung der gesetzlichen Vertreter war erforderlich.
= > Mangels Vorliegen ist der Vertrag schwebend unwirksam (§
108 Abs. 1 BGB).
= > Die Wirksamkeit hängt von der Genehmigung ab.
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- Hier: (-)
Die Eltern haben die Genehmigung verweigert.
Gemäß § 182 Abs. 1 BGB konnte die Verweigerung der
Genehmigung auch gegenüber K erklärt werden.
= > Die Willenserklärung des K ist endgültig unwirksam.
2. Ergebnis
K hat keinen Anspruch gegen V auf Übergabe und Übereignung des
Buches gemäß § 433 Abs. 1 S. 1 BGB.
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Fortsetzung
Am folgenden Tag ruft V bei K an, um sich nach den gewünschten
Versandmodalitäten zu erkundigen. Die Eltern des K gehen ans Telefon.
Als V erfährt, dass K erst 10 Jahre alt ist, fordert er die Eltern auf zu
erklären, ob sie ihrem Sohn so etwas überhaupt erlauben wollen.
Nachdem die Eltern während des Gesprächs K herbei gewunken und
seine traurigen Augen gesehen haben, erklären sie dem V, dass sie den
Kauf gutheißen.
Kann K von V Lieferung des Buches verlangen?
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Lösung
Möglicherweise hat K einen Anspruch gegen V auf Verschaffung von
Besitz und Eigentum am Tierlexikon, § 433 Abs. 1 S. 1 BGB.
1. Voraussetzung: KV zwischen V und K
a) Willenserklärung des K?
P: Minderjährigkeit des K (§§ 106 BGB)
- Im
Unterschied
zum
Ausgangsfall
könnte
hier
eine
Genehmigung der Eltern am Telefon vorliegen (§ 108 Abs. 1
BGB)
- Problem: Die Verweigerung der Genehmigung gegenüber K
führte zunächst zur Unwirksamkeit der WE des K.
- Grundsätzlich kann die Genehmigung (bzw. die Verweigerung
der Genehmigung) gegenüber V oder gegenüber K erklärt
werden, § 182 Abs. 1 BGB (s.o.)
- Aber: Ausnahme gemäß § 108 Abs. 2 S. 1 HS 2 BGB:
Die
Aufforderung
des
H
führt
zur
rückwirkenden
Unwirksamkeit der Verweigerung der Genehmigung.
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Der ursprüngliche Schwebezustand lebt wieder auf.
Die Wirksamkeit der Willenserklärung des K hängt wiederum
von der Genehmigung der Eltern ab, die diesmal jedoch dem V
gegenüber abgegeben werden muss.
-
Hier: Erklärung der Genehmigung der Eltern am Telefon
= > Die WE des K wird rückwirkend wirksam, § 108 Abs. 1 BGB.
= > WE des K (+)
b) WE des V?
In Betracht kommt:
- Einstellen des Lexikons auf der Internetplattform
P: Rechtsbindungswille?
= > Abgrenzung bindendes Angebot i.S.d. § 145 BGB zur
invitatio ad offerendum
= > Durch Auslegung zu ermitteln, §§ 133, 157 BGB
= > Hier: eher invitatio ad offerendum (sonst u.U. Gefahr der
Doppelverpflichtung
bei
mehreren
gleichzeitigen
Annahmen durch „Klick“)
= > Aber: Entscheidung kann letztlich offenbleiben.
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- Eine WE des V liegt jedenfalls mit der Bestätigungsnachricht
oder mit dem Anruf des V bei K bzw. seinen Eltern vor
(dann auch Zugang der WE bei den gesetzlichen Vertretern, so
dass es auf § 131 Abs. 2 S. 2 BGB nicht mehr ankommt).
= > WE des V (+)
2. Ergebnis
K kann von V Übergabe und Übereignung des Lexikons gemäß § 433
Abs. 1 S. 1 BGB verlangen.
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