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Beitrag: Marode Meiler –
Atomgefahr an Deutschlands Grenzen
Sendung vom 8. März 2016
von Andreas Halbach
Anmoderation:
Seit dem Atomausstieg wähnen sich viele Deutsche in
trügerischer Sicherheit. Denn ganz in der Nähe, an den Grenzen
zu Deutschland, haben unsere Nachbarländer marode Meiler in
Betrieb. Im Atomkraftwerk im französischen Fessenheim, direkt
am Rhein, gab es 2014 einen gravierenden Zwischenfall, den der
Betreiber offenbar verharmloste. Jetzt streitet die französische
Regierung darüber, ob Fessenheim schon in diesem Jahr
abgeschaltet werden muss. Die Pannenreaktoren in Belgien
sollen trotz Rissen und Risiken noch Jahre weiter laufen. Andreas
Halbach über bedrohliche belgische Nachbarn.
Text:
Was der IT-Ingenieur Peter Laws da auspackt, ist kein normales
Kleidungsstück. Er hat für sich und sein Familie Schutzanzüge für
einen Atomunfall bestellt:
O-Ton: Peter Laws, Familienvater
„Die Erstausstattung kostet etwa 15 Euro, also nicht wirklich
viel, wenn man sich vorstellt, dass dadurch die
Überlebenschancen deutlich erhöht werden.“
In Aachen geht die Angst um, vor den maroden belgischen
Kernkraftwerken. Katastrophenfibeln liegen bereit, Jodtabletten
gegen Schilddrüsenkrebs werden gezeigt. Die vielen
Informationsabende sind brechend voll.
O-Ton: Dr. Wilfried Duisberg, Internationale Ärzte für die
Verhütung des Atomkrieges
„Aachen ist die erste Stadt weltweit, die sich öffentlich auf
einen Atomunfall vorbereitet.“
Und das sind die Atomkraftwerke in Belgien, die Angst und
Schrecken verbreiten: das rund 40 Jahre alte Kernkraftwerk in
Doel, im Hafen von Antwerpen, und die veraltete Atomanlage in
Tihange, nahe der deutschen Grenze. 2012 sind in beiden
Werken Haarrisse in Reaktordruckbehältern festgestellt worden.
Die Pannen-Meiler in Tihange sind nur 65 Kilometer von Aachen
entfernt. Bis Doel sind es 170 Kilometer. Im Stahlmantel des
Meilers Tihange 2 sind es mehr als 3.000 Risse und in Doel 3
sogar mehr als 13.000 Risse. Sollte es hier zum GAU, zum
Platzen eines Meilers kommen, treiben die radioaktiven Wolken
vor allem Richtung Osten, erklärt der ZDF-Wetterexperte Özden
Terli.
O-Ton: Özden Terli, ZDF-Meteorologe Özden Terli
Wir schauen uns das mal auf einer Beispielkarte an. Und da
ist eine Südwestlage eingezeichnet. Und da sieht man, der
Wind kommt aus Südwesten und würde so eine Wolke mit
ins Ruhrgebiet ziehen oder Richtung Rheinland. Bei einer
Nordwestlage würde diese kontaminierte Wolke Richtung
Rhein-Main und sogar bis ins südwestliche Deutschland
ziehen. Und dann wären weit mehr als zehn Millionen
Menschen betroffen.“
GAU-Szenarien hält Electrabel, der Betreiber der beiden
Atomkraftwerke, für Panikmache, denn die Risse in den
Reaktoren seien ungefährlich.
O-Ton: Serge Dauby, Sprecher Electrabel
"Die Fehlstellen gibt es von Anfang an. Es sind
Wasserstoffflocken im Stahl, entstanden bei der Herstellung.
Im Betrieb haben wir keine Zunahme bei den Rissen
festgestellt. Alle Gutachten bestätigen, es gibt keine Gefahr.“
Die Materialwissenschaftlerin Ilse Tweer hat alle verfügbaren
Gutachten ausgewertet. Sie wundert sich, dass bei
Inbetriebnahme der Reaktoren, Anfang der 80er Jahre, niemand
die Risse bemerkt hat.
O-Ton: Ilse Tweer, Materialwissenschaftlerin:
„Wenn man 30 Jahre später tausende von Fehlstellen findet,
die eine Größe bis zu 179 Millimeter haben, dann bedeutet
das, die müssen während des Betriebes zumindest
gewachsen sein. Die Behauptung, sie hätten sich nicht
verändert, kann also nicht nachgewiesen werden.“
Dieselben Befürchtungen hat der Materialforscher Professor
Bogaerts von der Universität Leuven.
O-Ton: Prof. Walter Bogaerts, Center of Nuclear Engineering,
Universität Leuven, Belgien
“Normalerweise sind Risse, die beim Schmieden entstehen,
ein paar Millimeter groß, so groß wie ein Fingernagel. Hier
sind es schadhafte Stellen, die zwei- bis dreimal so groß
sind. Manche so groß wie eine Handfläche. Ich denke, keiner
kann Ihnen ernsthaft erzählen, dass die Lage sicher ist.“
Der Bau der belgischen Reaktoren begann schon in den 60er
Jahren, hier Originalbilder von damals. Je länger Atommeiler in
Betrieb sind, desto instabiler werden sie. Wenn der Stahlmantel
dann produktionsbedingt auch noch Risse hat, fürchten die
Kritiker folgendes Risiko:
Im laufenden Betrieb könnten die Belastungen im Druckbehälter
dazu führen, dass Wasserstoffmoleküle aus dem Kühlwasser ins
Metall wandern. Dort setzen sie sich in die vorhandenen Risse
und sprengen diese weiter auf:
O-Ton: Prof. Digby MacDonald, Chemiker, Universität
Kalifornien, Berkeley
“Hier baut sich dann Wasserstoffdruck auf und bläht den
Stahl weiter auf. Und dadurch entsteht nach unseren
Berechnungen ein immenser Druck.“
Jan Bens ist Chef der belgischen Atomaufsicht. Wir fragen ihn,
was er zu den Sicherheitsbedenken von Bogaerts und Mcdonalds
sagt.
O-Ton: Jan Bens, Generaldirektor belgische Atomaufsicht
FANC
„Wir haben die Theorien von Professor Bogaerts und
Mcdonalds sehr ernst genommen. Wir haben eine
Sachverständigengruppe damit beauftragt und diese ist zum
Schluss gekommen, dass deren Theorie nicht stimmt.“
Problem nur, bis heute gab es keine Tests an dem verbauten
Original-Stahl. Für die Belastungsproben musste intakter Stahl
aus Frankreich genommen werden. So bleibt unklar, ob die Tests
überhaupt zuverlässig sind? Will die belgische Regierung diese
Gefahr nicht sehen? Oder spielen die guten Kontakte des
Betreiberkonzern Electrabel eine Rolle?
Energieministerin Marghem wird beraten von zwei Ex-Mitarbeitern
des Stromkonzerns. Und Belgiens Atomaufseher Jan Bens war
29 Jahre lang Mitarbeiter bei Electrabel, zuletzt Kraftwerksdirektor
in Doel. Seit 2013 ist er nun Kontrolleur seines früheren
Arbeitgebers.
Frontal21: Sind sie überhaupt ein unabhängiger
Atomaufseher?
O-Ton: Jan Bens, Generaldirektor belgische Atomaufsicht
FANC
„Das bin ich mit Sicherheit. Ich habe jetzt eine andere
Stellung als früher.“
Deutschland hat den Atomausstieg beschlossen bis 2022,
Belgien bis 2025. Trotzdem, selbst die beiden Bröckel-Reaktoren
sind im Dezember wieder hochgefahren worden.
Seitdem gibt es noch mehr Pannen. Wegen veralteter Technik im
nichtnuklearen Bereich müssen immer wieder Reaktoren
abgeschaltet werden: Dezember 2015 - Doel 3: Leck in
Wasserleitung, Januar 2016 - Doel 1: Selbstabschaltung, Februar
2016 - Tihange 1: Abschaltung wegen defekter Pumpe
O-Ton: Ilse Tweer, Materialwissenschaftlerin:
„Wenn die Sicherheitskultur eben so mangelhaft ist, dann ist
es eben nur eine Frage der Zeit, dass im nuklearen Teil auch
was passiert.“
Hinzu kommt Schlamperei: Voriges Jahr wurden in Tihange vier
Mitarbeiter entlassen, weil sie im nuklearen Kontrollraum
mehrfach Sicherheitsregeln ignoriert haben.
Die belgischen Atomkraftwerke gehören nicht nur zu den ältesten,
sie sind laut dieser Statistik der Internationalen
Atomenergiebehörde IAEA auch die unzuverlässigsten Reaktoren
weltweit: Die 7 Meiler hatten in den vergangenen Jahren eine
Ausfallquote zwischen 15 und 29 Prozent.
Was also tut die Bundesregierung zum Schutz der deutschen
Bevölkerung? Umweltministerin Hendricks will darüber nicht mit
uns sprechen. Beim Krisentreffen kürzlich mit ihren belgischen
Ministerkollegen beteuerte sie:
O-Ton: Barbara Hendricks, SPD, Bundesministerin f. Umwelt,
Naturschutz, Bau, Reaktorsicherheit
„Wir sind selbstverständlich bereit, die Antworten auf die
Fragen, die wir gestellt haben, vorurteilsfrei auszuwerten und
danach weiter im Gespräch zu bleiben.“
Reden also, so wie seit Jahren schon. Dabei fordern die Berater
der Ministerin in der Reaktorsicherheitskommission längst, die
rissigen Meiler abzuschalten. Wir haben mit einem halben
Dutzend von ihnen gesprochen. Doch solange sich die Ministerin
nicht abschließend äußert, reden die Experten nur anonym.
Zitat:
„Keiner weiß, ob die Risse zu wanddurchdringenden Rissen
werden können.“
„In Deutschland wären diese Reaktoren niemals in Betrieb
genommen worden.“
„Es ist ein Wahnsinn, was da passiert.“
O-Ton: Sylvia Kotting-Uhl, B‘90/GRÜNE, MdB, atompolitische
Sprecherin:
"Es reicht nicht, ein bisschen zu reden und mal abzuwarten
und zu schauen, was dabei rauskommt. Solche gefährlichen
Reaktoren müssen vom Netz, bis alle Zweifel geklärt sind.
Falls die sich klären lassen. Und da muss die
Bundesumweltministerin anders auftreten.“
Doch die belgische Atomaufsicht regt sich schon jetzt auf über
das Wenige, was die Bundesumweltministerin bisher gemacht
hat.
In dieser E-Mail an Frontal21 wirft die Atombehörde der
deutschen Ministerin nicht nur „Arroganz“ vor, sondern auch eine
„Lüge“. Barbara Hendricks erwecke,
Zitat:
„… bewusst den Eindruck, als könne sie persönlich unsere
Arbeit überwachen… Wir betrachten das als sehr
beleidigend.“
Beleidigte Belgier und eine Ministerin, die sich auf Nachfrage von
Frontal21 hilflos gibt.
Zitat:
„Es liegt nicht in unserer Hand, Atomkraftwerke in anderen
Ländern abzuschalten.“
Dabei hätte die Bundesregierung zumindest eine Beschwerde an
der EU-Kommission gegen die Wiederinbetriebnahme der
maroden Meiler einreichen können. Hat sie aber nicht.
Und so fühlen sich die Städte und Gemeinden im Raum Aachen
im Stich gelassen und haben nun selbst Klage eingereicht gegen
den Betrieb der belgischen Risiko-Reaktoren.
O-Ton: Helmut Etschenberg, CDU, Städteregionsrat Aachen:
„Ich muss ihnen ganz klar und deutlich sagen, dass wir hier
in der Bevölkerung maßlos enttäuscht sind, darüber, dass
weder unser Landesumweltminister noch unsere
Bundesumweltministerin sich des Themas so angenommen
haben wie wir das eigentlich für notwendig halten.“
Schreckensszenario Atomunfall im benachbarten Belgien Familienvater Peter Laws probt in Aachen schon den Ernstfall.
Abmoderation:
Die Gefahr macht zwar nicht an Landesgrenzen halt. Die
Kontrolle aber schon – solange die nukleare Sicherheit nur als
nationale Aufgabe verstanden wird.
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