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Beitrag: Integration für Flüchtlingskinder –
Zu wenig Lehrer, zu wenig Erzieher
Sendung vom 22. März 2016
von Anke Becker-Wenzel und Tine Kugler
Anmoderation:
Wenn die Integration junger Flüchtlinge gelingen soll, muss die
Politik in Bildung investieren. Da sind sich Bund und Länder einig.
Es braucht mehr Kitas, mehr Lehrer, mehr Milliarden. Und schon
ist es mit der Einigkeit vorbei. Denn wer bezahlt das? Und wann
folgen den vielen Reden endlich Taten? Anke Becker-Wenzel und
Tine Kugler über den integrationshemmenden Konflikt um Kosten
und Konzepte.
Text:
Elif Demirci begleitet Flüchtlingskinder aus der Notunterkunft in
die Kita gegenüber. Die Berliner Familientherapeutin weiß, die
Kinder sind durch Krieg und Flucht traumatisiert. Der Alltag in der
Kreuzberger Kita soll ihnen helfen.
O-Ton: Kinder
„Guten Morgen, guten Morgen, wir winken uns zu.“
O-Ton: Elif Demirci, Systemische Familientherapeutin
„Es geht darum, die Kinder aus der Turnhalle zu holen, um
ihnen hier mit diesem Kindergartenkonzept das Kind sein zu
ermöglichen, um ihnen ein paar Stunden zu schenken, wo sie
Sicherheit erfahren dürfen.“
Manche Kinder brauchen deshalb mehr Aufmerksamkeit und
Fürsorge. Doch oft fehlt den Erzieherinnen dafür die Zeit. Es gibt
zu wenig Personal.
O-Ton: Silke Wenzel, Erzieherin
„Wir versuchen, auf sie einzugehen in so Situationen und nur
manchmal ist für uns nicht wirklich klar, woher Traurigkeit
kommt, woher plötzlich diese Aggression, diese Wut kommt.
Also es ist natürlich schon eine Belastung und wir gehen da
schon manchmal an unsere Grenzen.“
Sie brauchen dringend Psychologen und Dolmetscher. Doch auch
die gibt es nicht. Ohnehin leiden Kitas an Personalmangel. Vor
allem in sozialen Brennpunkten, beklagt der stellvertretende
Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln.
O-Ton: Falko Liecke, CDU, Stellv. Bürgermeister BerlinNeukölln
„Also ich könnte sofort 40 Plätze hier schaffen, wenn ich die
Erzieher und Erzieherinnen finden würde. Das ist mein
Problem hier dem Brennpunkt. „
Leere Räume, trotz großer Nachfrage, nicht nur in dieser Kita.
Falko Liecke will neuen Kräften inzwischen sogar 1.000 Euro
Prämie zahlen, damit die Integration gelingt.
O-Ton: Falko Liecke, CDU, Stellv. Bürgermeister BerlinNeukölln
„Wenn wir diesen Kindern, die hier auch in einem
Brennpunkt aufwachsen, eine Chance für die Zukunft geben
wollen, müssen wir dringend investieren, da gehört auch
eine bessere Bezahlung für Erzieherinnen und Erzieher dazu.
Da gibt es eigentlich keine Diskussion, man muss es
machen, denn wir produzieren sonst Verlierer in dieser
Gesellschaft und das kann sich diese Gesellschaft auch
nicht erlauben.“
Personalmangel heißt in vielen Kitas zu große Gruppen, auch
ohne Flüchtlingskinder. Gute Qualität wie hier bedeutet: pro
Erzieherin maximal acht Kinder bei 3- bis 5-Jährigen.
Im Kita-Alltag aber betreuen Erzieherinnen häufig mehr als
doppelt so viele Kinder, kritisieren Experten.
O-Ton: Prof. Joachim Wieland, Rechtswissenschaftler,
Universität Speyer
„Es muss dringend eine bundesweite Aufgabe sein, dass die
Kommunen und die Länder nicht allein gelassen werden,
wenn sie Erzieherinnen und Erzieher suchen, wenn sie für
deren Ausbildung sorgen, wenn sie sicherstellen, dass die
Gruppengrößen nicht zu groß werden. Anders wird man es
nicht schaffen, wenn jetzt etwa 100.000 neue
Flüchtlingskinder in die Einrichtungen kommen, die Qualität
aufrechtzuerhalten, die notwendig ist, um Kinder gut zu
betreuen und zu fördern.“
Die Qualität der Betreuung sollte überall in Deutschland gleich gut
ist, stellt der Jurist in einem Rechtsgutachten fest. Und nicht von
Bundesland zu Bundesland oder Kita zu Kita unterschiedlich.
Deshalb sei der Bund gefordert und müsse die einheitliche
Qualität auch deutschlandweit finanzieren.
O-Ton: Norbert Hocke, Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft
„Wir haben gute Erfahrungen gemacht mit dem VierMilliarden-Programm Krippenausbau und ähnlich brauchen
wir mit einem Qualitätsgesetz, was die Strukturqualität regelt,
die Beteiligung des Bundes. Neun Milliarden jährlich ist die
Summe, die wir in der Gruppe Caritas, Arbeiterwohlfahrt und
GEW berechnet haben.“
Eine notwendige Investition für mehr Qualität in Kitas. Gerade
jetzt besonders wichtig, damit die Integration gelingt. Denn der
Spracherwerb ist unverzichtbar, sonst kommen Flüchtlingskinder
später in der Schule nicht zurecht.
O-Ton: Prof. Michael Becker-Mrotzek, Sprachwissenschaftler
Uni Köln
„Man braucht drei bis fünf Jahre bis man so gut eine
Sprache gelernt hat und damit auch das Deutsche, dass man
in allen Sachfächern, in Physik, in Chemie, in Mathematik
wirklich auch gut mitkommt und nicht an den
Sprachproblemen dann scheitert in diesen anderen Fächern.
Dafür brauchen wir Konzepte, dafür brauchen wir
Lehrpersonen, dafür brauchen wir Lehrmaterial.“
Doch auch hier fehlt der bundesweite Plan. In manchen
Bundesländern kommen Flüchtlingskinder gleich in die
Regelklassen. In anderen wie in Bayern gibt es gesonderte
Übergangsklassen an Grund- und Mittelschulen.
O-Ton: Klasse
„Der Anorak. Der Stiefel.“
Über 20 Kinder aus zwölf Nationen - mit den unterschiedlichsten
Voraussetzungen. Auch hier fehlen Dolmetscher und zusätzliche
Fachkräfte. Die Schüler müssen sich untereinander helfen.
O-Ton: Lehrerin
„Kannst du ihn fragen? Was ist hier die magische Zahl?“
Jedes Kind nach individuellen Bedürfnissen zu fördern – das
klappt so nicht.
O-Ton: Simone Schock, Klassenlehrerin
„Ich mach mir ständig Sorgen, dass die begabten Kinder
unterfordert sind und schneller lernen könnten und schneller
in die Regelklasse integriert werden könnten und genauso
mach ich mir Sorgen um die Kinder, die viel mehr
Unterstützung und Zuwendung brauchen, denn, was soll
denn, wie soll das weitergehen? Also wir sind noch eine
junge Klasse die 5Ü, bei der 8Ü und 9Ü schaut das noch
brenzliger aus die Situation, weil da rennt die Zeit davon. Und
wenn diese Kinder nicht rechtzeitig ins Schulsystem
integriert werden, dann werden sie auch beruflich
wahrscheinlich nicht so erfolgreich sein.“
So gehen Talente verloren. Zum Beispiel Yeser. In Syrien ging
sie aufs Gymnasium. In Bayern ist sie in der Übergangsklasse
einer Mittelschule gelandet.
O-Ton Yeser, Schülerin
„Mit einer Feile kann man die Kanten glatt machen.“
Doch an der Mittelschule fühlt sie sich unterfordert.
O-Ton Yeser, Schülerin
„Was wir hier Mathe lernen, hab ich in 5. Klasse oder 4.
Klasse gelernt und jetzt wiederholen wir alles, wir könnten es
sehr schwer machen.“
Ihr Problem: Fast kein Gymnasium in Bayern bietet
Übergangsklassen an. Doch ohne zusätzlichen Deutschunterricht
schaffen Flüchtlingskinder kaum. So werden ihnen Chancen
verwehrt.
O-Ton: Birgit Schatt, Klassenlehrerin
„Es geht ja letztendlich darum, dass wir hier konkret Schüler
haben, die eigentlich aufs Gymnasium gehören. Welche
Brücken können da gebaut werden?“
Zu wenig Brücken für die Begabten. Und was ist mit den vielen
anderen, die noch nicht einmal einen Abschluss haben? Denen
immerhin baut Bayern eine Brücke als einziges Bundesland.
Denn für diese Jugendlichen zwischen 16 und 21 besteht in
Bayern Schulpflicht in speziellen Berufsschulklassen. Sprache,
Lebenskunde und Vorbereitung auf den Beruf - ein
Vorzeigeprojekt.
O-Ton: Markus Schiele, Berufschullehrer
„Das Ziel hier, das wir erreichen wollen, sind ja auch dann
Personen zu haben, die hier in der Gesellschaft voll integriert
sind und dann auch unsere Werte dann mittragen.“
Uns so werden auch dringend benötigte Fachkräfte gefördert, die
Gesellschaft und Wirtschaft dringend brauchen.
O-Ton: Eden, Geflüchtete Schülerin
„Mein Traum ist, eine Krankenschwesterausbildung zu
machen und den Leute zu helfen.“
Der Bedarf ist riesig: 12 Klassen zusätzlich allein in diesem Jahr.
Und selbst das reicht noch lange nicht.
O-Ton: Markus Schiele, Berufschullehrer
„Wir werden in Zukunft nicht mehr die Kapazitäten haben, da
müssen wir uns dann schlicht und ergreifend auf
Standardunterricht beschränken, weil wir dann viel zu sehr
ausgelastet sind dann eben mit der Vervierfachung der
Schülerzahlen, die wir im laufenden Jahr haben werden.“
Es ist wie bei den Kitas: zu wenig Geld, zu wenig Personal. Rund
20.000 Lehrer fehlen, mindestens - Länder und Kommunen sind
überfordert.
O-Ton: Claudia Bogedan, SPD, Präsidentin
Kultusministerkonferenz
„Ich sag ganz klar: Der Bund muss uns da unter die Arme
greifen. Es ist eine große nationale Aufgabe. Und zwar
kommen ja eine ganze Reihe von zusätzlichen Aufgaben
hinzu. Wir haben es bei den Kindern auch mit Kinder zu tun,
die natürlich mit Traumata, mit besonders spezifischen
Unterstützungsbedarfen bei uns anlanden.“
Der Bund verspricht zu helfen, sagt aber nicht wie.
O-Ton: Frontal21
„ZDF, Frontal21. Sie haben gesagt, sie wollen die Integration
von Flüchtlingskindern in Kita und Schule fördern, was heißt
das? Wie viele Milliarden wird der Bund sich das kosten
lassen für Länder und Kommunen?“
O-Ton: Peter Altmaier, CDU, Flüchtlingskoordinator der
Bundesregierung
„Wir erarbeiten derzeit gemeinsam mit den Ländern ein
Integrationskonzept. Zunächst geht es um die Inhalte und
dann geht es erst um die Frage des Geldes. Denn
entscheidend ist, dass die Integration gelingt. Dazu gehört
schulische, dazu gehört Betreuung, dazu gehört Sprache,
dazu gehört berufliche Integration und daran arbeiten wir,
vielen Dank.“
Doch ohne konkrete Finanzierungszusage bleiben solche
Versprechen leer.
Abmoderation:
Flüchtlinge mit Bildungschancen sind auch eine Chance für
Deutschland. Und trotzdem hat die AfD mit der Angst vor
Flüchtlingen gepunktet. Angst ist aber kein politisches Programm.
Was also will die AfD?
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