Manuskript Beitrag: Europas neue Zäune – Abschottung um jeden Preis Sendung vom 1. März 2016 von Joachim Bartz, Eleni Klotsikas und Reinhard Laska Anmoderation: Europa hat Angst, inzwischen sogar doppelt Angst. Zum einen vor den vielen Flüchtlingen, zum anderen vor den wirtschaftlichen Folgen, wenn Grenzen in Serie geschlossen werden. Ungarn will zwar keine Flüchtlinge, egal wie groß das Leid der Menschen ist. Aber vom grenzenlosen Handel im Schengen-Raum will es weiter profitieren. Griechenland gerät durch das Grenzregime von Mazedonien in Not. Österreich macht die Obergrenze wahr und allen in Europa dämmert, dass es ein Dilemma gibt. Denn Schlagbäume fallen lassen und Schengen behalten wollen, das passt nicht zusammen. Joachim Bartz, Eleni Klotsikas und Reinhard Laska zeigen die Folgen. Text: Die deutsch-österreichische Grenze bei Kiefersfelden. Wir sind unterwegs mit dem Spediteur Georg Dettendorfer. Mit Sorge beobachtet er, dass die deutsche Polizei verstärkt die Grenze kontrolliert, die Autobahn auf eine Spur verengt. So entsteht Stau und der kostet ihn viel Geld. O-Ton Georg Dettendorfer, Spediteur: Die Fahrzeuge stehen in der Regel eine halbe Stunde im Stau, mal den Grenzübertritten, die wir haben, dann kommen wir im Monat in der gesamten Summe auf circa 40.000 Euro, die uns die Grenzkontrollen, Stand heute, schon kosten. Mit 200 Lastwagen ist seine Spedition europaweit unterwegs. Wenn der freie Waren- und Personenverkehr im Schengen-Raum stockt, erklärt uns der Spediteur, hat seine Firma ein Riesenproblem - und nicht nur sie. O-Ton Georg Dettendorfer, Spediteur: Die Region Bayern, die Region Tirol, aber auch Norditalien sind in den letzten 25 Jahren wirtschaftlich wahnsinnig eng zusammengewachsen. Man ist ein Wirtschaftsraum geworden, der durch offene Grenzen funktioniert hat. Wenn diese Grenzen zukünftig geschlossen werden, wird das eine enorme Bedrohung für diesen großen Wirtschaftsraum. Mein Appell ist es: Bitte haltet die Grenzen offen, der freie Warenverkehr in Europa muss gesichert werden. Wir machen uns auf den Weg - auf der Balkanroute, den Flüchtlingen entgegen. Wir gehen überall dahin, wo Grenzen geschlossen werden. Unsere nächste Station ist Debrecen in Ungarn. Auch hier fürchten sich Unternehmer vor einem Ende des grenzenlosen Handels. Die Geflügelfarm der Firma Tranzit Food. Von der Aufzucht bis zur Verarbeitung - alles in einer Hand. Die Firma exportiert jährlich sechs Millionen Enten und Gänse, vor allem nach Deutschland. Auch für Tranzit Food ist Schengen die Geschäftsgrundlage des ganzen Unternehmens. O-Ton Levente Kossuth, Commercial Manager Tranzit Food: Wir müssen frische Ware zu einer bestimmten Zeit an den Händler liefern. Wenn das nicht klappt, wenn wir Lieferzeiten nicht einhalten und die Haltbarkeitsdauer überschritten wird, sind wir am Ende. Vor allem durch EU-Subventionen konnte sich die Firma rasant entwickeln. Wie ganz Ungarn enorm von Europa profitiert. Fast 50 Milliarden Euro an EU-Geldern bekam das Land bereits. Doch jetzt, wo die EU die Solidarität Ungarns in der Flüchtlingskrise braucht, mauert die Regierung. Außenminister Péter Szijjártó lehnt eine EU-weite Verteilung von Flüchtlingen ab. Er ist genervt von der Kritik, gerade aus Deutschland, und erwartet stattdessen Anerkennung für den Grenzzaun zu Serbien. O-Ton Péter Szijjártó, Außenminister Ungarn: Momentan sind wir die Einzigen, die behaupten können, den Migrationsfluss an der Grenze gestoppt zu haben. Es gibt keine illegalen Migranten, die beispielsweise das Territorium Deutschlands über Ungarn betreten. Das ist also ein echtes Signal der Solidarität! Und was die Schengen-Zone angeht, so ist ihre Erhaltung ein überlebenswichtiges Ziel für uns. Ungarn will gerne weiter vom freien Waren- und Personenverkehr profitieren. Ministerpräsident Viktor Orbán sieht die EU vor allem als Wirtschaftsunion, will aber keine Lasten tragen, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Solidarität, eine der Grundfesten Europas, sieht anders aus. O-Ton Frontal 21: Warum ist Ungarn eigentlich noch in der EU? O-Ton Péter Szijjártó, Außenminister Ungarn: Weil wir ein Mitglied dieser Gemeinschaft sind und auch in Zukunft bleiben wollen. Wir gehören dazu. Wir sind eine europäische Nation, wir sind ein europäisches Land. Weiter auf der Balkanroute. Auch das Transitland Mazedonien braucht offene Grenzen. Skopje treibt regen Handel mit Deutschland und dem Nachbarn Griechenland. Außenminister Poposki weiß: Eine Abriegelung würde Mazedonien hart treffen. O-Ton Frontal 21: Was, wenn in ganz Europa wieder Zäune hochgezogen werden? O-Ton Nikola Poposki, Außenminister Mazedonien: Das wäre keine gute Idee. Das würde uns finanziell schaden, sicherlich, aber darüber hinaus wird es der größten Errungenschaft der europäischen Integration, nämlich der Freizügigkeit von Personen, schaden. Die Tatsache, dass es keine Grenzen gibt. Keine Grenzen - und dennoch macht Mazedonien gerade eine dicht. Geveglia an der mazedonisch-griechischen Grenze. Die Flüchtlinge sind verzweifelt und wütend. Mazedonien lässt nur noch wenige Syrer und Iraker durch, die übrigen sitzen auf der griechischen Seite fest. Eine martialische Grenzanlage durchzieht die griechisch-mazedonische Weingegend. Aufgebaut wurde sie in kürzester Zeit - mit ungarischer und österreichischer Unterstützung. O-Ton Mirke Jorgoski, Brigadegeneral Mazedonische Armee: Unsere Soldaten hier haben eine große Fronterfahrung. Die meisten haben bereits an diversen Auslandsmissionen teilgenommen, hauptsächlich in Afghanistan. Die meisten sogar Schulter an Schulter mit deutschen Soldaten. Gott sei Dank haben wir bisher weder verwundete Soldaten noch erschossene Flüchtlinge. Als gelte es einen kriegerischen Angriff abzuwehren. Die Regierung in Skopje zeigt sich hart. Außenminister Poposki rechtfertigt das neue Grenzregime: Sein Land sei überfordert, außerdem: O-Ton Nikola Poposki, Außenminister Mazedonien: Jedem ist inzwischen klar, dass Europa nicht eine unbegrenzte Zahl von Flüchtlingen aufnehmen kann. Die Dinge sind nicht einfacher geworden, seit wir wissen, dass viele von ihnen keine Flüchtlinge sind, die aus Konfliktzonen kommen, sondern nur Wirtschaftsflüchtlinge. Nur Wirtschaftsflüchtlinge? Tatsächlich sind die meisten syrische und irakische Kriegsflüchtlinge. Zu Tausenden strömen sie an die mazedonisch-griechische Grenze, Familien mit kleinen Kindern und Großeltern. Die Flüchtlinge am griechischen Grenzort Idomeni wollen sich nicht aufhalten lassen. Das Durchgangslager ist völlig überfüllt. Griechische Polizei und Militär müssen eingreifen, schicken die Neuankömmlinge in Bussen zurück nach Athen. O-Ton Emilios Douinias, Ärzte ohne Grenzen: Wir müssen diesen Wahnsinn in der Ägäis sofort stoppen. Wir müssen den Grenzübergang für diese Menschen sicherstellen und denen somit eine Hoffnung geben. Die EU sollte ihnen einen sicheren Übergang gewähren, nichts weiter. Doch danach sieht es nicht aus. Weil die Balkanstaaten die Grenzen schließen, stecken die Flüchtlinge in Griechenland fest. Wir machen uns auf den Weg nach Athen. In dieser ehemaligen Kaserne sind zurzeit 1.500 Flüchtlinge untergebracht, doch jeden Tag kommen Tausende dazu. Für die braucht Griechenland dringend Platz. Nun soll die Armee das Lager für weitere 4.000 Menschen ausbauen. Doch wie soll das hochverschuldete Land das alles leisten, zumal Athen ein strikter Sparkurs auferlegt wurde. Eine humanitäre Katastrophe droht. Im ehemaligen Flughafen ist die Lage so schlecht, dass wir sie nicht zeigen sollen. Drehverbot. Wir drehen trotzdem, mit versteckter Kamera. Kaum Sanitäranlagen, keine Versorgung mit Nahrungsmitteln. Die Flüchtlinge sind verzweifelt. O-Ton Leyla aus Syrien: Warum haben die Mazedonier die Grenze geschlossen, wir sind doch keine Tiere. Wir sind Menschen - genau wie ihr. Jeder hier sehnt sich nach Frieden. Wir wollen kein Geld, wir brauchen keine Almosen, wir brauchen nur Frieden, verstehen Sie? O-Ton Aufsicht: Stopp, Stopp, hören sie auf! Sie haben keine DrehGenehmigung. O-Ton Leyla aus Syrien: Hier wollen wir nicht bleiben, wir wollen hier weg. Die Grenze muss wieder aufgemacht werden. Mitten in Athen kampieren gestrandete Flüchtlinge. Die Situation droht außer Kontrolle zu geraten. Premierminister Tsipras fordert Solidarität. In einem Exklusiv-Interview für Frontal 21 kritisiert er das Vorgehen der Balkanstaaten. O-Ton Alexis Tsipras, Ministerpräsident Griechenland: Diese Alleingänge sind inakzeptabel. Die Flüchtlingskrise kann nicht ein Land allein bewältigen. Sie ist eine europäische Herausforderung. Wir müssen eine europäische Lösung dafür finden. Bei der letzten EU-Ratssitzung haben wir uns darauf geeinigt, dass kein Land auf der Balkanroute Maßnahmen ergreift, die nicht abgesprochen sind. Jetzt gibt es aber EU-Länder, die glauben, sie müssten sich nicht an die Regeln halten. Dabei haben wir doch Vereinbarungen getroffen, die von denen einfach nicht umgesetzt werden. Uns haben immer alle während den Euro-Verhandlungen gesagt, wir müssen Verträge einhalten. Nun sind wir diejenigen die sagen: Vereinbarungen müssen eingehalten werden. Die Kritik an der mangelnden Grenzsicherung weist Tsipras zurück. O-Ton Alexis Tsipras, Ministerpräsident Griechenland: Das Problem ist doch nicht, dass Griechenland seine Grenzen nicht schützen will. Wir haben Seegrenzen und es ist unmöglich, Grenzen mitten im Meer zu sichern. Wenn die Flüchtlinge mit der Hilfe von Schmugglern sich in Schlauchbooten unseren Küsten nähern, die auch EUGrenzen sind, dann bleibt uns nur eine einzige Möglichkeit: Wir müssen sie retten. Piräus, am vergangenen Freitag. Wieder kommen auf einen Schlag 3.000 Flüchtlinge - und jeden Tag werden es mehr. Europa muss sich einigen - und zwar fair. Sonst scheitert Griechenland - und Schengen sowieso. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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