Bayern und Tschechien - Bayernkommentar

Manuskript
Der Bayernkommentar
Tauwetter im Sudetenland
Von Ernest Lang
Redaktion Landespolitik
Samstag, 5. März 2016
11.50 Uhr in der Bayernchronik
Dieses Manuskript wird ohne Endkorrektur versandt und darf nur zum privaten Gebrauch verwendet werden.
Jede andere Verwendung oder Veröffentlichung ist nur in Absprache mit dem Bayerischen Rundfunk möglich!
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Es ist bezeichnend: Die Sudetendeutschen verzichten auf die Rückgabe ihres Eigentums in der
Tschechischen Republik, das ihnen bei der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg genommen
worden war, und kaum jemand registriert es. Denn für die breite Öffentlichkeit sind die Forderungen
der Vertriebenen bedeutungslos geworden. Am vergangenen Wochenende stimmten bei der
Bundesversammlung der Sudetendeutschen mehr als 70 Prozent der Delegierten für eine neue
Satzung. Die Wiedergewinnung der Heimat und die Forderung nach Rückgabe des konfiszierten
Eigentums, sind jetzt aus der Satzung gestrichen. Eine Selbstverständlichkeit? Mitnichten.
Es sind noch nicht einmal zehn Jahre vergangen, dass Funktionäre der Sudetendeutschen
Landsmannschaft jeden gnadenlos bekriegten, der ihr Rückkehrrecht in die ehemalige Heimat in
Frage stellte. Ausgeblendet haben sie dabei, dass die Gräuel bei der Vertreibung der
Sudetendeutschen auch eine Reaktion auf die Zerschlagung der Tschechoslowakei durch das
Münchner Abkommen von 1938 war und eine Vergeltung für die Verbrechen deutscher Nazis in der
Tschechei bis 1945 darstellte! Verdrängt wurde dabei auch, dass die Vertreibung der
deutschstämmigen Bevölkerung 1945/46 mit der ausdrücklichen Billigung der Amerikaner, Franzosen
und Briten geschah und das Potsdamer Abkommen die Grundlage dafür bildete.
Doch das wollten die allermeisten Funktionäre der Sudetendeutschen Landsmannschaft nicht
akzeptieren. Bestärkt wurden sie in ihrer geschichtsblinden Haltung durch den damaligen bayerischen
Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der sich als Pate für den vierten Stamm sah, wie die
Sudetendeutschen in Bayern genannt werden. Stoiber lehnte es bis zum Ende seiner Amtszeit 2007
beharrlich ab, mit der tschechischen Regierung in Kontakt zu treten oder gar nach Prag zu fahren.
Dabei hatten bereits Bundeskanzler Helmut Kohl und der tschechische Ministerpräsident Václav Klaus
1997 im deutsch-tschechischen Abkommen festgelegt, dass die gegenseitigen Beziehungen nicht
durch politische und rechtliche Fragen aus der Vergangenheit belastet werden sollten. Das war Kohls
faktische Verzichtserklärung auf die Rückgabe ehemals sudetendeutschen Eigentums. Funktionäre
der Sudetendeutschen haben ihn deswegen heftig angefeindet. Ein trauriger Höhepunkt war dann im
Jahr 2003 erreicht, als ausgerechnet die sieben CSU-Abgeordneten im Europa-Parlament gegen den
Beitritt der jungen Tschechischen Republik in die Europäische Union stimmten. Das war ein
verheerendes Signal. Dabei wäre Bayern als unmittelbarer Nachbar eigentlich der natürliche Helfer
der Tschechen auf ihren schwierigen Weg in die EU gewesen.
Erst Ministerpräsident Seehofer beendete vor fünf Jahren mit seinem Besuch in Prag die Eiszeit
zwischen Bayern und Tschechien. Auf offizieller Ebene wurde damit endlich nachbarschaftliche
Normalität, was im bayerisch-tschechischen Grenzgebiet seit 1990 längst Alltag geworden war. Nun
haben also auch die Sudetendeutschen die Forderung nach Wiedergewinnung der Heimat und auf
Entschädigung aufgegeben. Sie sind damit in der politischen Gegenwart angekommen. Von denen,
die 1945/46 aus ihrer Heimat vertrieben wurden, lebt kaum mehr jemand. Das gegenseitige
Aufrechnen von Gräueltaten macht nichts ungeschehen, aber es versperrt den Blick in die Zukunft.
Ernst nehmen konnte man die Vertriebenenfunktionäre mit ihren revanchistischen Forderungen
ohnehin nicht mehr. Die Sudetendeutschen verzichten auf nichts, was nicht schon längst verloren war.
Aber sie gewinnen jetzt die Chance, an der Gestaltung des deutsch-tschechischen Verhältnisses
mitzuwirken. Und sie können im Rahmen der Europäischen Union die ehemalige Heimat
wiedergewinnen – in anderer Form. Es wird auf beiden Seiten dauern, bis das seit Jahrzehnten
gefrorene, dicke Eis geschmolzen ist. Aber es wird Frühling, Tauwetter ist angesagt – endlich.
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