Die Charakteristikenmethode zur Lösung von linearen PDGLn erster Ordnung Gegeben sei eine lineare partielle Differentialgleichung erster Ordnung a(x, y)zx + b(x, y)zy + c(x, y)z = d(x, y). (1) Es wird vorausgesetzt, dass sowohl a(x, y) als auch b(x, y) nicht identisch Null sind, dass also sowohl zx als auch zy wirklich in der PDGL vorkommen (ist dies nicht der Fall, dann kann die Gleichung als gewöhnliche DGL behandelt werden). Wir hatten uns solche Probleme schon angeschaut und gesehen, dass oft eine geeignete Variablentransformation dabei hilft, dass die PDGL in eine einfachere PDGL überführt wird. Bei einer Variablentransformation geht man von den alten Variablen x, y über zu neuen Variablen ξ, η, wodurch die Funktion z(x, y) übergeht in eine Funktion v(ξ, η). In den bisherigen Aufgaben war es immer so, dass in der Aufgabenstellung vorgegeben war, wie sich die neuen Variablen ξ und η aus den alten Variablen x und y ergeben. Hier wird nun beschrieben, wie man auch ohne eine solche Vorgabe auf eine geeignete Variablentransformation kommt. Um eine geeignete Variablentransformation zu finden, bestimmt man zunächst die allgemeine Lösung y = y(x) der sogenannten Phasendifferentialgleichung, auch charakteristische Gleichung genannt: b(x, y) y′ = . a(x, y) Bei dieser handelt es sich um eine gewöhnliche Differentialgleichung erster Ordnung, die beispielsweise mittels Trennung der Variablen gelöst werden kann. Die Lösung der charakteristischen Gleichung wird eine Konstante C enthalten. Nach dieser stellt man die Lösung um, das heißt man erhält dann die Lösung in der Form h(x, y) = C. Die Kurven, die durch diese Gleichung beschrieben werden, nennt man charakteristische Kurven oder einfach Charakteristiken der partiellen Differentialgleichung (1). Es bietet sich dann für unser Ausgangsproblem die Substitution ξ = h(x, y), η=y an. Hat man diese geeignete Substitution gefunden, geht es wie üblich weiter. Wir tragen noch einmal alle erforderlichen Schritte zur Lösung einer linearen PDGL erster Ordnung zusammen. Die eben beschriebene Bestimmung einer geeigneten Variablentransformation wird dabei als nullter Schritt bezeichnet, die Schritte S1 bis S4 hatten wir schon einmal aufgeschrieben. S0: Bestimme die allgemeine Lösung y = y(x) der (gewöhnlichen) Differentialgleichung y′ = b(x, y) . a(x, y) Stelle die allgemeine Lösung nach der darin enthaltenen Konstanten um, stelle sie also in der Form h(x, y) = C dar. Dann ist folgende Variablentransformation günstig: ξ = h(x, y), 1 η = y. S1: Bestimme die partiellen Ableitungen von ξ und η nach x und y, also ξ x , ξ y , ηx , ηy . S2: Ersetze in der partiellen Differentialgleichung (1) z, zx und zy wie folgt: z = v, z x = ξ x v ξ + ηx v η , z y = ξ y v ξ + ηy v η . S3: Vereinfache die entstandene Gleichung so weit wie möglich. Insbesondere müssen alle Terme, die vξ beinhalten, wegfallen (siehe dritte Bemerkung unten). Kommen in der Gleichung am Ende noch die alten Variablen x und y vor, müssen sie durch die neuen Variablen ξ und η ausgedrückt werden. Es dürfen letztlich nur noch ξ, η, v und vη in der neuen Gleichung auftreten. Die neue Gleichung ist nun zu lösen. S4: Man erhält eine Lösung v(ξ, η) und daraus durch Rücktransformation die Lösung der Ausgangsaufgabe z(x, y) = v(ξ(x, y), η(x, y)). Bevor wir zu Beispielen kommen, machen wir noch einige Bemerkungen. Bemerkungen: • Für η ist sogar eine beliebige, von ξ unabhängige Definition möglich, das heißt auch η := x wäre denkbar. Es muss nur gewährleistet sein, dass die Funktionaldeterminante ξx ξy ηx ηy = ξx ηy − ηx ξy 6= 0 ist. • Manchmal ist es gar nicht oder zumindest nur sehr schwer möglich, exakt eine Lösung der b(x,y) Phasendifferentialgleichung y ′ = a(x,y) zu bestimmen. Dann kann man auch die Gleichung x′ = a(x, y) b(x, y) betrachten, bei der eine Funktion x = x(y) gesucht ist. Möglicherweise ist diese einfacher zu lösen. Das weitere Vorgehen ist das gleiche. • Durch die Wahl von ξ = h(x, y), wie oben angegeben, ist gewährleistet, dass in der neuen PDGL, die sich ergibt, wenn zx , zy usw. ersetzt werden, alle Terme, in denen vξ vorkommt, wegfallen. Es kommen nur noch v selbst und die Ableitung nach η, also vη , vor. Die neue PDGL wird also wirklich einfacher zu lösen sein als die alte PDGL. Warum alle Terme mit vξ wegfallen, wird ganz am Ende dieses Dokumentes erklärt (nach den Beispielen). • In einigen Aufgaben sind neben der partiellen Differentialgleichung noch Anfangsbedingungen gegeben, welche die Lösung erfüllen soll. In diesem Fall ist trotzdem zunächst die allgemeine Lösung der PDGL zu ermitteln. Danach sind die auftretenden Funktionen C, D, . . . so zu bestimmen, dass die Anfangsbedingungen erfüllt sind, siehe Beispiel (b). 2 Beispiele: (a) Mit Hilfe der Charakteristikenmethode ist die allgemeine Lösung der folgenden PDGL zu ermitteln: 1 1 zx + zy = 0. (2) x 2y Zur Lösung der Aufgabe arbeiten wir die oben beschriebenen Schritte ab. S0: Zunächst suchen wir eine geeignete Variablentransformation. Dazu ist die allgemeine Lösung y(x) der gewöhnlichen Differentialgleichung ′ y = 1 2y 1 x = x 2y 1 ist). zu bestimmen (man beachte, dass in diesem Beispiel a(x, y) = x1 und b(x, y) = 2y Diese gewöhnliche Differentialgleichung lösen wir mittels Trennung der Variablen: dy dx ⇒ ⇒ ´ = 2y dy = y 2 = x ´2y | ·2y, ·dx x dx 1 2 x 2 + C. Wie oben beschrieben, soll die allgemeine Lösung letztlich nach der Konstanten umgestellt werden. Wir brauchen also nicht nach y aufzulösen, sondern können die Gleichung von eben direkt nach C umstellen, wodurch sich ergibt: 1 y 2 − x2 = C. 2 Wir haben somit die Charakteristiken der PDGL ausgerechnet und eine geeignete Wahl für ξ gefunden. Die zweite Variable η setzen wir willkürlich auf y, sodass sich insgesamt für die neuen Variablen ergibt: 1 ξ = y 2 − x2 , 2 η = y. S1: Es sind die partiellen Ableitungen von ξ bzw. η nach x und y zu bestimmen: ξx = −x, ξy = 2y, ηx = 0, ηy = 1. S2: In der Ausgangsdifferentialgleichung (2) sind zx und zy wie folgt zu ersetzen: zx = ξx vξ + ηx vη = −x vξ , zy = ξy vξ + ηy vη = 2y vξ + vη . S3: Die in S2 erhaltenen Ausdrücke sind nun in (2) einzusetzen, wodurch sich ergibt: 1 1 · (−x vξ ) + · (2y vξ + vη ) = 0. x 2y 3 Wie gewünscht, fallen alle Terme, in denen vξ vorkommt, weg und es bleibt nur noch 1 vη = 0 2y übrig. Multiplizieren wir noch mit 2y, so verbleibt vη = 0. Die alten Variablen x und y kommen nun nicht mehr vor, wir müssen also nichts mehr ersetzen und können direkt nach η integrieren. Dadurch erhalten wir ˆ v = 0 dη = D(ξ), wobei D : R → R eine beliebige differenzierbare Funktion ist. (Zur Unterscheidung von der Konstanten C aus Schritt S0 nennen wir diese Funktion hier D anstatt C.) S4: Durch Rücktransformation ergibt sich die allgemeine Lösung der Ausgangsgleichung (2): 1 2 2 z(x, y) = D y − x , D : R → R differenzierbar. 2 (b) Gesucht ist diejenige Lösung der partiellen Differentialgleichung xy zx − y 2 zy = x, die zusätzlich die Anfangsbedingung 1 = (x + 1)2 z x, 4 (3) für alle x ∈ R (4) erfüllt. Wir bestimmen zunächst die allgemeine Lösung der PDGL (2). Dazu arbeiten wir die oben beschriebenen Schritte ab. Um die Anfangsbedingung kümmern wir uns erst am Ende. S0: Es ist eine geeignete Variablentransformation zu ermitteln. Dazu wird die allgemeine Lösung der gewöhnlichen Differentialgleichung y′ = − y y2 =− xy x bestimmt (man beachte, dass in dieser Aufgabe a(x, y) = xy und b(x, y) = −y 2 ist). Die DGL lösen wir mittels Trennung der Variablen: dy dx ⇒ ⇒ ⇒ ´ = 1 dy = y ln |y| = y = − xy´ − x1 dx − ln |x| + C˜ C · x1 . | ·dx, : y Die erhaltene Lösung ist nach C umzustellen, wodurch sich C = xy ergibt. Damit ist eine geeignete Wahl für ξ gefunden, η setzen wir einfach wieder auf y. Die neuen Variablen ergeben sich also wie folgt: ξ = xy, 4 η = y. S1: Es sind die partiellen Ableitungen von ξ bzw. η nach x und y zu bestimmen: ξx = y, ξy = x, ηx = 0, ηy = 1. S2: In der Ausgangsdifferentialgleichung (3) sind zx und zy wie folgt zu ersetzen: z x = ξ x v ξ + ηx v η = y v ξ , z y = ξ y v ξ + ηy v η = x v ξ + v η . S3: Durch Einsetzen der in S2 erhaltenen Ausdrücke in (3) ergibt sich xy · y vξ − y 2 · (x vξ + vη ) = x. Wie erwartet fallen alle Terme, in denen vξ vorkommt, weg und es verbleibt −y 2 vη = x bzw. vη = − x . y2 In dieser Gleichung kommen noch die alten Variablen x und y vor. Sie sind nun durch die neuen Variablen ξ und η zu ersetzen. So wie wir η festgelegt haben, gilt einfach y = η. Die Variable x kann nicht ganz so einfach ersetzt werden, für sie erhalten wir zunächst aus ξ = xy: ξ y=η ξ x= ⇒ x= . y η Damit ergibt sich als neue PDGL, in der nur noch ξ, η und v vorkommen: vη = − ξ . η3 Die gesuchte Funktion v erhalten wir, indem wir nach η integrieren, wobei ξ wie eine Konstante behandelt wird: ˆ ξ ξ dη = + D(ξ) v=− η3 2η 2 mit einer differenzierbaren Funktion D : R → R. S4: Durch Rücktransformation erhalten wir die allgemeine Lösung der Ausgangsgleichung (3): z(x, y) = xy x + D(xy) = + D(xy), 2 2y 2y D : R → R differenzierbar. Nun ist noch die Anfangsbedingung (4) einzuarbeiten. Genauer gesagt ist die Funktion D so zu bestimmen, dass z(x, 41 ) = (x + 1)2 erfüllt ist. Dazu setzen wir in die allgemeine Lösung y = 41 ein. Es ergibt sich: 1 1 ! = 2x + D z x, x = (x + 1)2 . 4 4 5 Durch Umstellen ergibt sich D 1 x 4 = (x + 1)2 − 2x = x2 + 1. Wir substituieren w := 41 x, woraus sich x = 4w ergibt und somit D(w) = (4w)2 + 1 = 16w2 + 1. Damit haben wir die Funktionsvorschrift für D ermittelt. In der Lösung des Anfangswertproblems wird D(xy) benötigt, wir müssen also w durch xy ersetzen. Schließlich ergibt sich als Lösung des Anfangswertproblems z(x, y) = x + 16x2 y 2 + 1. 2y 6 Warum bringt die angegebene Variablentransformation etwas? Wir hatten bereits angedeutet, dass durch unsere Wahl von ξ und η gewährleistet ist, dass in der neuen partiellen Differentialgleichung keine Terme mehr auftreten, in denen vξ vorkommt. Warum das so ist, soll hier erläutert werden. Nehmen wir erst einmal allgemein an, dass wir von den Variablen (x, y) übergehen zu neuen Variablen (ξ, η). Dann wissen wir, dass gilt: z = v, z x = ξ x v ξ + ηx v η , z y = ξ y v ξ + ηy v η . Setzen wir das in (1) ein, so ergibt sich (a(x, y) ξx + b(x, y) ξy ) vξ + (a(x, y) ηx + b(x, y) ηy ) vη + c(x, y) v = d(x, y). (5) Bei der Charakteristikenmethode bestimmen wir eine Funktion y = y(x), die der Differentialgleichung b(x, y) y ′ (x) = a(x, y) genügt und setzen ξ(x, y) so, dass gilt: ξ(x, y(x)) = C = konst. Differenzieren wir auf beiden Seiten nach x und beachten dabei die Abhängigkeit von y vom Argument x, so folgt daraus unter Verwendung der Kettenregel ξx + ξy · y ′ (x) = 0. Wegen y ′ = y ′ (x) = b(x,y) a(x,y) folgt daraus ξx + ξy · b(x, y) =0 a(x, y) bzw. a(x, y) ξx + b(x, y) ξy = 0. Daran sehen wir, dass in (5) tatsächlich der Term, in dem vξ auftritt, wegfällt. 7
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