SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst Die Geburt der Kunst Die Chauvet-Grotte in der Ardèche Autor: Bettina Kaps Redaktion: Udo Zindel Regie: Günter Maurer Sendung: Freitag, 17. Oktober 2014, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. 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Zwischen der Chauvet-Höhle und der Höhle von Lascaux ist so viel Zeit vergangen wie zwischen Lascaux und uns. Schon Lascaux liegt für uns weit, weit weg, in früher Vorgeschichte. Aber zwischen den Malern von Lascaux und den Malern von Chauvet liegt noch einmal die gleiche Zeitspanne. Das ist atemberaubend. Ansage: Geburt der Kunst – Die Chauvet-Grotte in der Ardèche. Von Bettina Kaps. Atmo: Paddler im Wasser, Urlauber Sprecherin Sommer am Ufer der Ardèche. Sandstrände und glatt polierte Steine säumen den Wildfluss im Südosten Frankreichs. Urlauber aalen sich in der Sonne, schauen den Paddlern nach. Unaufhörlich treiben Kanuten in gelben, blauen, roten Booten den Fluss hinunter. Zwischen Vallon und Saint-Martin hat die Ardèche eine tiefe, 35 Kilometer lange Schlucht in eine Hochebene gefressen. Gemächlich fließt sie unter der natürlichen Felsbrücke des Pont d´Arc hindurch. Flussaufwärts gesehen ähnelt der klobige Steinbogen einem Mammut. In seinen Felsnischen nisten schwarze Dohlen. Atmo: Auto-Verkehr Sprecherin: Wenige Schritte von dem Naturwunder entfernt liegen ein Weinberg, ein Ausflugsrestaurant und ein großer Parkplatz. Dort steigt Dominique Baffier aus dem Auto. Die Archäologin kommt mehrmals im Jahr hierher, um in der „Chauvet-Grotte“ zu arbeiten. In der Höhle wurden Felsmalereien aus der Steinzeit gefunden, die älter und prächtiger sind als alles, was man bisher in Europa kennt. Für die Öffentlichkeit ist sie gesperrt, aber Dominique Baffier gehört zu den Wissenschaftlern, die die Grotte erforschen. Bis vor kurzem war sie auch als Konservatorin für den Schutz der Höhle 2 verantwortlich. Die etwa 60-Jährige zeigt auf eine steile Felswand, die das Tal der Ardèche eingrenzt. O-Ton – Dominique Baffier, darüber Übersetzerin: Sehen Sie dort in der Felswand über uns dieses große, grüne Dreieck aus Pflanzen? Darüber erkennt man eine schräg verlaufende Spalte. An ihrem Fuß liegt der heutige Eingang zur Chauvet-Höhle. In der Steinzeit öffnete sich die Höhle aber zu einer riesigen Vorhalle, die 18 Meter breit und gut zehn Meter hoch war. Vom hatte man damals den Eindruck, der Fels habe ein Maul. Die Höhle und der Pont d´Arc waren für die Menschen der Steinzeit wichtige Orientierungspunkte. Die Felsbrücke war außerdem ein Knotenpunkt, weil sie Menschen und Tieren ermöglichte, den Fluss bequem zu überqueren, vermutlich war sie auch ein Versammlungsort. Die Höhle war jedenfalls von weitem sichtbar. Heute ist sie unsichtbar. Atmo: Gehen im Gestrüpp Sprecherin: Das liegt am Steinschlag. Dominique Baffier folgt einem Trampelpfad ins Gebüsch. Der Weg führt steil bergan, vorbei an großen Felsbrocken – Reste der Vorhöhle, die in drei Etappen herab gestürzt ist. Geomorphologen haben die Konzentration von Chlor-36Isotopen an den Abbruchstellen ermittelt. Sie entstehen durch den Einfluss kosmischer Strahlung. Anhand ihrer Zerfallsrate wurde der Zeitpunkt der Steinschläge datiert. Der letzte Abbruch ereignete sich vor rund 22.000 Jahren, sagt Dominique Baffier. Er hat die Höhle vollständig verschüttet. O-Ton – Dominique Baffier, darüber Übersetzerin: Menschen und Tiere konnten sie nicht mehr betreten. Außerdem war sie vor klimatischen Schwankungen geschützt. Die Temperatur im Inneren der Chauvet-Höhle liegt das ganze Jahr hindurch bei 13 Grad Celsius. Ihre Tropfsteine, ihr Boden und ihre Wandmalereien – nichts wurde beschädigt. Sie ist außergewöhnlich gut erhalten, das kommt einem Wunder gleich. Sprecherin: Dass die Höhle überhaupt entdeckt wurde, ist einem Team privater Höhlenforscher aus der Ardèche zu verdanken: Vor 20 Jahren verbrachten Jean-Marie Chauvet, Eliette Brunel und Christian Hillaire ihr Wochenende wieder einmal in den ocker und grau schattierten Kalkfelsen oberhalb des Pont d´Arc, um ihrem Hobby nachzugehen. Es war Winter. Die Sonne schien, während sie durch Geröll und Gestrüpp krochen, erinnert sich Christian Hillaire, der als Techniker für die Atomindustrie arbeitet. O-Ton – Christian Hillaire, darüber Übersetzer: Ein Luftzug hatte uns verleitet, noch einmal zu dieser Felsnische zurückzukehren. Wir kannten den Hauch schon seit zehn Jahren, andere Höhlenforscher kannten ihn auch. Sie hatten bestimmt dasselbe gesehen wie wir, sind der Sache aber nicht nachgegangen. Es war Jean-Marie Chauvet, der darauf bestanden hat, an dieser Stelle zu graben. Deshalb haben wir die Höhle nach ihm benannt. Die Entdeckung war für uns ein unglaubliches Erlebnis, daran werden wir uns ein Leben lang erinnern. Atmo: Geröll wegkratzen 3 Sprecherin: Die drei schafften Felsblöcke beiseite, bahnten mit Hammer und Meißel Zentimeter um Zentimeter eine enge Passage, krochen Kopf voran und leicht bergab einen natürlichen Tunnel entlang und robbten dann sieben Meter bäuchlings durch eine niedere Engstelle, ohne zu wissen, ob die Mühe lohnt. Ein Höhlenforscher gibt sich auch mit wenig zufrieden, sagt Christian Hillaire: Ein unbekannter Stollen, ein paar Tropfsteine, eine außergewöhnliche Färbung begeistern ihn, wenn er der Erste ist, der seinen Fuß hineinsetzt. Am Sonntag, dem 18. Dezember 1994, aber wurden Hillaire und seine Freunde überreich belohnt: Sie landeten in einer riesengroßen Tropfsteinhöhle, ausgeschmückt mit Hunderten von Felsmalereien. Dem stämmigen Mann mit dem strubbeligen Schnurrbart huscht ein verklärtes Lächeln übers Gesicht. O-Ton – Christian Hillaire, darüber Übersetzer: Wenn man so etwas Wunderbares entdeckt, will man es beschützen. Ich erinnere mich genau: Auf dem Höhlenboden wechseln kristallisierte trittfeste Zonen mit weicher Tonerde ab. Wir haben gleich die Schuhe ausgezogen und sind in Strümpfen weitergelaufen. Die Höhle ist umwerfend schön: nicht nur die Felsmalereien, auch die Tropfsteine. Sie hat wunderbare Farben, überall sind Kristalle, es glänzt und glitzert, außerdem ist sie riesengroß, das macht sie noch schöner. Sprecherin: Eliette Brunel hatte ein paar Plastikplanen im Keller. Beim zweiten Besuch am folgenden Wochenende rollten die drei Höhlenforscher vor jedem Schritt Schutzfolien aus. Heute führt ein schmaler Metallsteg durch die Grotte, er folgt exakt dem Pfad, den die Erstbegeher damals nahmen. O-Ton – Christian Hillaire, darüber Übersetzer: Wir haben sofort begriffen, dass die Malereien älter waren als alles, was zumindest hier in der Ardèche entdeckt worden war. Wir kannten die Malereien aus dem Solutréen, also aus dem Jungpaläolithikum vor rund 20.000 Jahren. Was uns hier sofort ins Auge sprang, waren die roten Wollnashörner. In den anderen Grotten sind keine Rhinozerosse, sie waren wahrscheinlich schon ausgestorben, als die Zeichnungen dort entstanden sind. Unsere Vermutung hat sich später als richtig erwiesen: Die Höhle wurde auf etwa 35.000 Jahre datiert, das hat selbst die Fachleute überrascht. Ein großes Glück ist auch, dass die Menschen hier mit Holzkohle gemalt haben – deshalb war die direkte Datierung mit der Radiokarbonmethode möglich. Sprecherin: Die Vorfahren der heutigen Europäer waren vor ungefähr 40.000 Jahren aus Afrika und dem Nahen Osten eingewandert. Die kalibrierte C-14-Datierung der Felsmalereien in der Chauvet-Höhle ergibt ein Alter von 36.000 Jahren. Sie stammen somit aus dem Aurignacien – der frühesten archäologisch gesicherten Steinzeit-Kultur in Europa. Damals lebten die Menschen in Sippen von rund 40 Personen, schätzen Prähistoriker. Sie sammelten wild wachsende Pflanzen, jagten Tiere und harpunierten Fische mit Lanzen. Landwirtschaft und Tierzucht kannten sie noch nicht. Vor der Entdeckung der Chauvet-Höhle waren in Europa vor allem die Felsmalereien von Altamira und Lascaux berühmt. Altamira liegt in Nordspanien, westlich von Santander. Ein Mädchen hatte dort 1879 in einer Höhle auf dem Familiengrundstück prähistorische Malereien entdeckt: Bisons, ein Pferd, Hirschkühe und abstrakte 4 Zeichen. Es waren die ersten Steinzeit-Malereien, die je gefunden und als solche erkannt wurden. Aber viele Fachleute blieben ungläubig. Derartige künstlerische Leistungen trauten sie den Steinzeit-Menschen nicht zu. Deshalb erklärten sie die Malereien zu Fälschungen. Erst 1902 wurden die Höhlenbilder als echt anerkannt. Die Höhle von Lascaux in der Dordogne haben ebenfalls Jugendliche entdeckt, im Kriegsjahr 1940. In Altamira und Lascaux ist die direkte Datierung nicht möglich, weil keine organischen Substanzen vorhanden sind. Fachleute schätzen das Alter der Malereien in den beiden Höhlen aber auf 18.000 Jahre. Atmo: Vogelzwitschern, Bienensummen Sprecherin: Dominique Baffier hat früher in Lascaux geforscht. Die Chauvet-Höhle im Felshang über uns sei nicht nur doppelt so alt, sagt die Wissenschaftlerin. Sie sei auch viel prächtiger ausgestaltet: Höhlenbären, Höhlenlöwen, Hyänen, Mammuts, Wollnashörner, Riesenhirsche, Bisons, Wildpferde – ein wahres Bestiarium bevölkert die Wände. 420 Zeichnungen und Ritzbilder erzählen, welche Tiere unsere Vorfahren gekannt haben. Aber wie die Landschaft aussah, welche Pflanzen damals gediehen, das hätten unsere Vorfahren nicht festgehalten, bedauert Baffier. Trotzdem haben die Forscher ein recht präzises Bild von der damaligen Zeit. O-Ton – Dominique Baffier, darüber Übersetzerin: Geologisch sah es damals ähnlich aus wie heute. Der Pont d´Arc existierte schon vor 500.000 Jahren, also lange vor den Höhlenmalern. Aber Fauna und Flora waren anders. Wir befinden uns damals in der Eiszeit. Statt Wein und Olivenbäumen wachsen hier wenige und eher kümmerliche Bäume in den Felsnischen und am Ufer der Ardèche, vor allem Kiefern, Wacholder und Birken. Die Ebenen waren grasbewachsene Steppen, auf denen Mammuts und Nashörner weideten. Es gab auch Löwen und Bären, aber andere Arten, als wir sie heute kennen. Sprecherin: Die Alpengletscher reichten bis zum heutigen Lyon und auch das französische Zentralmassiv war von Eispanzern bedeckt. Die Durchschnittstemperaturen lagen vier bis fünf Grad niedriger als heute. In der Ardèche herrschte eine Art skandinavisches Klima. So erklärt sich, dass viele Tierarten langes, dichtes Fell hatten. Sie waren auch viel größer als ihre Nachkommen. Der Höhlenbär zum Beispiel: Kratzspuren in der Chauvet-Höhle bezeugen, dass er aufgerichtet mehr als drei Meter groß war. Der Koloss überwinterte in der Grotte. Alte, kranke oder unterernährte Bären verendeten dort auch. Für die Wissenschaftler ist die Chauvet-Höhle ein wahres Naturkundemuseum: Sie haben Knochen und Skelette von 200 Höhlenbären gefunden, einige enthalten noch Erbmaterial. Wenig später starb der Höhlenbär aus. Doch die Felszeichnungen liefern erstaunlich präzise Informationen, wie er aussah. Im Unterschied zum heutigen Braunbären hat er einen Kopf mit steil ansteigender Stirn und einen kleinen Fettbuckel auf der Schulter. Vom Höhlenlöwen haben die Forscher dank einer Felszeichnung gelernt, dass das Männchen keine Mähne hatte wie sein afrikanischer Nachfolger. 5 O-Ton – Dominique Baffier, darüber Übersetzerin: Die Gemälde setzen eine präzise Beobachtung der Tiere voraus. Die Maler haben ihr Verhalten studiert. Das sehe ich hier zum ersten Mal. In der Höhlenkunst sind die Tiere sonst fast immer sehr statisch abgebildet, hier wirken sie extrem lebendig: Ein Rudel Löwen jagt Bisons. Zwei Rhinozerosse bekämpfen sich, ein Löwe macht einem Löwenweibchen den Hof. Das ist einmalig. Außergewöhnlich ist auch, dass hier so viele gefährliche Tiere zu sehen sind. Atmo: Dominique Baffier spricht weiter Sprecherin: Wenn Dominique Baffier nicht in die Höhle hinabsteigt, arbeitet sie mithilfe eines 3 DModells der Höhle am Computer. Sie beschreibt eine Abbildung mit vier Pferdeköpfen und erklärt die Zeichentechnik: Die Künstler haben die Felswände vorbereitet und dünne Kalkschichten abgekratzt, dann haben sie die Konturen mit Kohle gezeichnet und die Tierkörper mit Wischtechnik plastischer gemacht. Schwarze Kohle, weißer Kalkstein und rote Tonerde dienten ihnen als Farbpalette, sie haben Pigmente auch gemischt. Zum Schluss haben sie die Umrisse mit einem Feuerstein nachgeritzt, damit sich die Wildpferde vom Hintergrund abheben. Auf einer anderen Felswand ist ein Rhinozeros mit sieben Hörnern zu sehen, man spürt förmlich, wie es zustößt. Ein Bison mit acht Beinen erinnert an heutigeTrickfilmtechnik: Er scheint zu galoppieren. Dominique Baffier forscht seit 16 Jahren in der Höhle, aber sie ist immer noch so begeistert wie am ersten Tag. O-Ton – Dominique Baffier, darüber Übersetzerin: Die Chauvet-Höhle hat alles über den Haufen geworfen, was wir vorher für sicher gehalten haben. Die Urgeschichtsforscher hatten ihre Theorien auf einem chronostilistischen System aufgebaut, wonach die Kunst mit simplen Zeichen und Symbolen beginnt, unbeholfenen Tierzeichnungen, die man kaum erkennen kann, dem weiblichen Schamdreieck. Nach und nach entfaltet sich die vorgeschichtliche Kunst, bis wir in Lascaux ankommen, und schließlich, vor rund 10.000 Jahren, haben wir perfekte, fotorealistische Tierzeichnungen. Doch dann – aus heiterem Himmel – wird Chauvet entdeckt. Und siehe da: Die geradlinig ansteigende Entwicklungstheorie stimmt nicht. Von Anfang an ist alles da! Die Menschen vor 36.000 Jahren beherrschen die Malerei. Ihre Kunst ist perfekt. Aber jetzt stehen wir vor einem ernsten Problem: Wo liegt der Ursprung der Kunst? Wenn die Menschen vor 36.000 Jahren so hervorragend malen konnten, dann müssen sie auch vorher schon gemalt haben. Was wir in der Höhle sehen, sind keine Anfängerübungen. Wir müssen davon ausgehen, dass es viele Zeichnungen gegeben hat, die wir nicht kennen, weil sie nicht entdeckt wurden oder weil sie nicht überdauert haben. Vielleicht waren ja ganz viele Felsen hier bemalt. Atmo: Prähistorische Musik aus dem Museum 6 Sprecherin: Um mir vorzustellen, in welchem Umfeld die Künstler der Chauvet-Höhle gemalt haben, fahre ich 20 Kilometer nach Süden zur Tropfsteinhöhle Aven d´Orgnac. Ein Aven ist eine Grotte mit einem senkrechten Eingang, der sich durch den Einsturz der Gewölbedecke gebildet hat. Im Aven d´Orgnac liegt der erste Saal 40 Meter unter der Erdoberfläche. Deshalb wurde er wohl nie von prähistorischen Menschen aufgesucht. Erst 1935 seilte sich ein französischer Höhlenforscher durch das Erdloch ab und erkundete den Untergrund. Heute ist die Tropfsteinhöhle eine Sehenswürdigkeit und kann über einen künstlichen Eingang bequem besichtigt werden. Stephane Tocino, selbst Speläologe, kümmert sich um Erforschung, Ausstattung und Besichtigung des Aven d´Orgnac. Er kennt die Höhle wie kein anderer. O-Ton – Stéphane Tocino, darüber Übersetzer: Vor 100 Millionen Jahren gab es hier einen tropischen Ozean mit seichtem Wasserstand und starkem Lichteinfall. Das waren die besten Voraussetzungen für Korallen, Algen und Muscheln. Ihre Schalen und Ausscheidungen lagerten sich als Sedimente auf dem Meeresboden ab und verfestigten sich zu Kalkstein. Als sich die Alpen bildeten, kamen die Kalksteinfelsen an die Luft. Durch feine Risse konnte Regen einsickern. Das saure Wasser löste den Kalkstein auf. Nach und nach entstanden Ablaufrinnen im Fels, wurden größer und vernetzten sich. Vor viereinhalb Millionen Jahren floss hier unter unseren Füßen ein unterirdischer Fluss. Er hat Grotten gebildet. Das Wasser floss ab, das Stollensystem trocknete aus. Einzelne Stollen brachen zusammen, dadurch bildeten sich neue Hohlräume, sie dichteten sich ab und die Tropfsteine konnten wachsen. Atmo: Tropfsteinhöhle Sprecherin: Deshalb sind die Kalkfelsen der Ardèche-Schlucht heute so löchrig wie ein Schweizer Käse. Stéphane Tocino geht voran. Bizarre Stalagmiten wachsen in die Höhe wie Palmenstämme, die zu Fossilien versteinert sind. Andere erinnern an hoch aufgetürmte Tellerstapel. Tiefer im Höhleninnern hat sich Kalk aus dem Sickerwasser zu orange und rosa gefärbten Vorhängen verfestigt, die theatralisch von der Decke herabwallen. Draperien, wie sie auch auf Fotos aus der Chauvet-Höhle zu sehen sind. Es ist kühl und feucht. Kein Wunder, dass prähistorische Menschen in solchen Höhlen nicht gelebt haben, allenfalls nahe der Eingänge, wo noch Tageslicht herrschte. Das Innere der Grotten betraten sie nur um zu malen, vielleicht auch um Rituale zu feiern, von denen wir nichts wissen. In der Nähe der Tropfsteinhöhle von Orgnac liegt die „Cité de la Préhistoire“. „Stadt der Vorgeschichte“, mit einem Museum über die ersten menschlichen Spuren in der Region und einem Archiv für die Funde aus den 1.400 urgeschichtlichen Stätten dieser Gegend. Die frühesten Ausstellungsstücke des Museums sind 350.000 Jahre alt: Steinwerkzeuge des Neandertalers. Sie wurden ganz in der Nähe gefunden. Atmo: Gehen im Wald 7 Sprecherin: Die Archäologin Marie-Hèlène Moncel läuft querfeldein durch einen Eichenwald, steigt in eine Senke hinab und geht auf eine Felswand zu. Der Platz – Abri du Maras – liegt nahe des Dorfs Saint-Martin, am Ausgang der Ardèche-Schlucht. Hier haben vor 90.000 Jahren Neandertaler gelebt. Vor dem Abhang ist ein luftiger Unterstand aufgebaut. Von einem Plastikdach hängen schnurgerade Fäden herab, die in Metallstäben enden. Sie teilen die Fläche in Quadrate, wie ein imaginäres Schachbrett. Archäologen tragen den Erdboden vorsichtig in Schichten ab. Marie-Hèlène Moncel hat vor sechs Jahren mit den Ausgrabungen begonnen. O-Ton – Marie-Hélène Moncel, darüber Übersetzerin: Als moderne Menschen tendieren wir dazu, uns für höher entwickelt zu halten als alle anderen Gruppen von Hominiden. Neandertaler und Homo sapiens sind ja nur zwei von ganz vielen Menschengruppen. Seit 20 Jahren machen wir große wissenschaftliche Fortschritte. Dabei haben wir gelernt, dass die Art und Weise, wie Neandertaler seine Umgebung beherrscht und Werkzeuge entwickelt hat, sehr komplex ist. Leider zeigen viele populärwissenschaftliche Filme den Neandertaler immer noch als großen Dummkopf. Das ist schade. Atmo: Ausgrabungsstätte Sprecherin: Dabei stellten auch Neandertaler schon Schmuckstücke her: Sie durchbohrten Muscheln und Tierzähne, um sie auf Ketten zu ziehen. Weil die Schneidezähne der Hirsche so selten sind, schnitzten sie ihre Form sogar aus Knochen nach. Marie-Hèlène Moncel hält es durchaus für möglich, dass Neandertaler auch gemalt haben. O-Ton – Marie-Hélène Moncel, darüber Übersetzerin: Die Art und Weise, wie sie Muscheln durchbohrt haben, ist originell. Sie gehen dabei anders vor als der moderne Mensch. Jetzt gibt es zwei Hypothesen: Entweder haben die Neandertaler gesehen, wie die modernen Menschen vorgehen, und haben sie auf ihre Weise imitiert. Oder aber sie haben sich weiter entwickelt und ähnliche Verhaltensweisen erlangt. Das würde bedeuten, dass sie Körperschmuck von sich aus entwickelt haben. Vielleicht haben Neandertaler auch gemalt, Körperbemalungen oder Malereien auf Holz sind denkbar. Vom modernen Menschen wissen wir es nur, weil er auf Felswände gemalt hat, an denen die Zeichnungen erhalten blieben. Beim Neandertaler wissen wir es einfach nicht. Sprecherin: Marie-Hèlène Moncel lehnt es entschieden ab, den Neandertaler mit modernen Menschen zu vergleichen. Ihr geht es darum, die komplexe Welt eines intelligenten Frühmenschen zu erforschen und ihm mit ihrer Analyse gerecht werden. Neandertaler haben 300.000 Jahre lang überlebt, sagt sie. Das werde Homo sapiens sapiens wohl kaum gelingen. Wir, die modernen Menschen, haben viele Spuren unserer Vorfahren beschädigt und zerstört: Die berühmten Grotten von Altamira und Lascaux konnten jahrelang besichtigt werden. In Lascaux wurde der Höhlenboden eigens abgegraben, um einen bequemeren Rundgang zu ermöglichen. Erforscht wurde der Boden dort aber nicht, und jetzt ist es zu spät dafür. Die Besucherscharen mit ihren Ausdünstungen und ihrer 8 Körperwärme haben in beiden Höhlen das Mikroklima verändert. Pilze und Bakterien haben die Felsmalereien angegriffen. Die Chauvet-Höhle profitiert von diesen groben Fehlern der Vergangenheit: Sofort nach ihrer Entdeckung hat der französische Staat sie zum Kulturgut erklärt und für die Öffentlichkeit gesperrt. Selbst Wissenschaftler, die dort forschen dürfen, müssen strenge Regeln befolgen, sagt Marie Bardisa, Konservatorin der Chauvet-Höhle. O-Ton – Marie Bardisa, darüber Übersetzerin: Die Erhaltung hat Vorrang vor der Forschung. Ausgrabungen sind nicht erlaubt. Die Fundstücke dürfen nicht berührt werden. Wir haben nur mikroskopisch kleine Stichproben genehmigt. Deshalb wissen wir bis heute nicht, was der Boden der Höhle enthält. Wir verbieten uns vieles, weil wir hoffen, dass es in Zukunft neue Techniken geben wird, mit denen wir den Untergrund erforschen können, ohne ihn zu beschädigen. Atmo: Baustelle Caverne Sprecherin: Damit sich Besucher dennoch eine Vorstellung von diesem einzigartigen Kulturerbe machen können, wird drei Kilometer vom Original entfernt eine Replik fertig gestellt. Ingenieure, Bildhauer und Maler bilden die Höhle und ihre wichtigsten Felsmalereien mit modernsten Techniken detailgetreu nach. Mit dieser Kopie, die im April 2015 eröffnet werden soll, will das abgelegene Departement Ardèche eine Touristenattraktion schaffen. Aber die Vermarktung der Chauvet-Höhle sorgt für Streit. Die Entdecker des Originals fühlen sich betrogen und hintergangen. Sie sind vor Gericht gezogen. Vor der Chauvet-Höhle hatten die drei Speläologen schon acht andere Höhlen mit Felskunst rund um den Pont d´Arc entdeckt. Die vielen Gerichtsprozesse haben ihre Freundschaft nicht erschüttert. Sie gehen weiterhin ihrer Leidenschaft nach. Und sind auch wieder fündig geworden, sagt Christian Hillaire. O-Ton – Christian Hillaire, darüber Übersetzer: Wir haben neue Grotten mit Felskunst entdeckt. Sie sind nicht so prächtig wie die Chauvet-Höhle, aber wir glauben, dass es sich um eine Art von Kunst handelt, die man so noch nicht gesehen hat. Es sind ausgehöhlte Ritzbilder: Die Menschen der Urgeschichte haben diese Zeichnung nicht mit dem Feuerstein in den Fels geritzt, sondern den Stein abgetragen, damit die Zeichnung reliefartig hervorsteht. Wir haben eine Venus, ein Mammut und einen Bison gefunden. Atmo: Prähistorische Musik Sprecherin: Ob es eine wichtige Entdeckung ist, bleibt vorerst im Dunkeln: Jean-Marie Chauvet und seine Freunde melden ihre Funde nicht mehr. Aber sie und Archäologinnen wie Dominique Baffier sind überzeugt, dass unsere Vorfahren noch viele unterirdische Wunder hinterlassen haben. 9 O-Ton – Dominique Baffier, darüber Übersetzerin: Ich würde ihnen gerne begegnen, diesen Malern. Ich hätte so viele Fragen! Was wollen sie ausdrücken? Was erzählen sie? Ihre Zeichnungen sind uns erhalten geblieben, aber ihre Worte, ihre Gesten und Tänze sind für immer verloren. Sie haben bestimmt wunderbare Kleider getragen, verziert mit Muscheln, Zähnen und Federn. Vielleicht waren sie tätowiert? Ich empfinde tiefe Zuneigung für all diese Menschen und großen Respekt. ***** 10
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