SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Bildungspläne - wer entscheidet? Von Susanne Kaufmann Sendung: Samstag, 05.03.2016, 08.30 Uhr Redaktion: Christoph König Regie: Tobias Krebs Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch sogenannte Addons oder Plugins zum Betrachten von E-Books: Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de MANUSKRIPT Atmo Glocke + Klasse vor Unterricht Costantino / Aufgabe einer Landesregierung lang „Ich nenn jetzt mal Stichworte wie Globalisierung, Diversität, Migration, Ökonomisierung. Auf all diese gesellschaftlichen Entwicklungen muss ein Bildungsplan überhaupt Antworten geben, und es ist auch Aufgabe einer jeden Landesregierung, letztendlich zu fragen, was brauchen Schülerinnen und Schüler heute, um Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben bewältigen zu können.“ Umfrage K2 / Gedichtvergleich „Man fängt ja jetzt in dem Alter manchmal an, so Ferienjobs zu machen. Komm ich zum Ferienjob, fragt mich der Arbeitgeber: Was ist Deine Steueridentifikationsnummer? Hab ich gesagt: Keine Ahnung, ich hab nie eine Steuererklärung abgegeben, hab das im Unterricht nie gemacht, aber ich kann Ihnen einen Gedichtvergleich schreiben. Das ist super! [Jugendliche lachen]“ Umfrage Mutter / gegen sexuelle Vielfalt + Trommel-Atmo „Ich hab drei Kinder, und ich bin einfach gegen diese sexuelle Vielfalt. Ich möcht’s net, dass meine Kinder Dinge lernen in der Schule durch solche Pläne, die einfach das aufsetzen und vorsetzen.“ [Trommeln] Moritz / Politische Einflussnahme „Spannend ist dann die Frage, welche inhaltlichen Schwerpunkte werden gesetzt. Und diese Schwerpunktsetzung ist durchaus eine politische, die nicht in der Kompetenz derer liegt, die die Bildungspläne ausarbeiten.“ Ansage: „Bildungspläne: Wer entscheidet?“ Eine Sendung von Susanne Kaufmann. Atmo Erstklässler schreiben „Ich schreibe gerade A! – Guck mal, Du musst hier die Wörter schreiben und dann Schwingungen machen! – Nein! Als erstes die Schwünge… „Frau Mucha, ist das so richtig? – Schau mal, Du musst nur einmal schreiben … Ooookay. – Guck, so wie der Paul es macht…“]“ Pant / Bedeutung von Bildungsplänen kurz „Bildungspläne sind von ihrer Funktion her ein relativ mächtiges Instrument, wenn es um die Umsetzung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages in Deutschland geht. Stellen Sie sich vor, die Bildung in Schule wäre vollkommen den einzelnen überlassen. Dann würden Sie glaube ich die soziale Ungerechtigkeit in einem Land maximieren, weil dann diejenigen, vor allem die Eltern, die besonders viel Geld und auch kulturelles und Bildungskapital in die Erziehung ihrer Kinder, in die Bildung ihrer Kinder stecken könnten, einen maximierten Vorteil hätten. Bildungspläne sind das Instrument jeder Landesregierung, um sicherzustellen, dass die allgemeinen Bildungsziele verfolgt werden und dass der Bildungsauftrag des Staates wahrgenommen wird.“ Sprecherin: 2 Soweit die Einschätzung von Hans Anand Pant. Er zählt zu den führenden deutschen Bildungsforschern, hat eine Professur für Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin und leitet die Deutsche Schulakademie, die von der Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung getragen wird. Atmo Pausenhof und Pausenhalle Gymnasium weiter Sprecherin: Etwa alle zehn Jahre werden die bestehenden Bildungspläne reformiert. Wenn sie dann in Kraft treten – wie nun nach den Sommerferien in Baden-Württemberg – gelten sie jeweils für die Kinder, die neu starten: in der Grundschule – hier in den Klassen 1 und 2 – und dann auf der weiterführenden Schule, in den Klassen 5 und 6. Alljährlich kommt ein weiterer Jahrgang mit hinzu. Auch wenn die Kultusministerkonferenz mittlerweile bundesweit gültige Bildungsstandards setzt, hat jedes Bundesland seine eigenen Bildungspläne – und die unterscheiden sich teilweise sehr. Wie entstehen solche Bildungspläne? Und wer entscheidet über die Inhalte? Eine wegweisende Veränderung leistete Baden-Württemberg schon 2004, als damals erstes Bundesland: die Umstellung auf kompetenzorientierte Bildungspläne. Darin ist festgeschrieben, welche Fähigkeiten die Kinder im Lauf der Jahre erwerben sollen, nicht welches Faktenwissen. Klieme / Kompetenzorientierung „Und das ist der Unterschied gegenüber früheren Lehrplänen, die im Wesentlichen lange Listen von detaillierten Lernzielen und –inhalten aufführten, ohne dass den Beteiligten – und zwar den Lehrkräften wie auch den Schülern und ihren Eltern – immer deutlich war, was denn der ultimative Gewinn davon ist. Was kann ich damit machen? Warum kann ich die Welt besser verstehen, wenn ich in diesem Unterricht bin?“ Sprecherin: Erklärt der Frankfurter Bildungsforscher Eckhard Klieme. Bei den neuen badenwürttembergischen Bildungsplänen hat sich in den Kernfächern – Mathe, Deutsch, Naturwissenschaften – nach Einschätzung von Experten inhaltlich nicht viel verändert. Für sie gelten Vorgaben der Kultusministerkonferenz, die teilweise noch eingearbeitet werden mussten. Eine kleine Aufgabe – andere Herausforderungen waren größer. Pant / neue Bildungspläne reagieren auf demographische Veränderungen „Wir haben in Baden-Württemberg insbesondere dramatische Veränderungen, was die demographische Entwicklung angeht, mehr als in anderen Bundesländern. Wir werden in einigen Jahren fast die Hälfte der Kinder im schulfähigen Alter haben, die einen Zuwanderungshintergrund haben. Wir werden insgesamt massive Rückgänge haben im ländlichen Bereich, was überhaupt die Zahl von Schülerinnen und Schülern im Schulalter angeht. Das heißt, die Struktur der Schulen in Baden-Württemberg wird sich massiv umstellen müssen auf mehr Durchlässigkeit, mehr Flexibilität, und daher auch dieses besondere Kennzeichen des neuen Bildungsplans, dass der abschlussbezogen ist, nicht mehr schulartbezogen, und vor allem im Sekundarstufenbereich 1 die Bildungspläne von vier, von früheren vier Schularten gemeinsam formuliert hat.“ 3 Sprecherin: Kinder, die in ihrer Lernentwicklung plötzlich große Sprünge nach vorne machen, können künftig viel leichter als bisher auf eine andere Schulart wechseln und einen höheren Abschluss machen – weil auf allen Niveaus die gleichen Inhalte vermittelt werden, nur mit steigender Komplexität. Die zweite große Neuerung ist die Einführung von Leitperspektiven, die sich durch die ganze Schulzeit ziehen. Hier zeigt sich deutlich, dass ein Bildungsplan stets auch ein politisches Statement ist. Sechs Leitperspektiven sollen den Unterricht in Baden-Württemberg künftig prägen. Sie heißen „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“, dann gibt es noch „Prävention und Gesundheitsförderung“, „Berufliche Orientierung“, „Medienbildung“ und „Verbraucherbildung“. Costantino / keine Note aus dem StaMi „Da gab’s keine Note oder keine Vorgaben von Seiten des Staatsministeriums, sondern das sind Dinge, die wir wirklich hier auf der Fachebene erarbeitet haben – „ Sprecherin: Betont Renzo Costantino. Er arbeitet beim Kultusministerium Baden-Württemberg in der Abteilung für allgemeinbildende Schulen und leitet dort das Referat Grundsatzfragen und Qualitätsmanagement. Dort ist die Bildungsplanreform angesiedelt, dort wurden auch die Leitperspektiven festgelegt. Bei den grundlegenden Arbeitspapieren holte sich das Ministerium Sachverstand von außen. So war zum Beispiel bei der Medienbildung das Landesmedienzentrum mit im Boot. Vor drei Jahren beauftragte das Kultusministerium dann das Landesinstitut für Schulentwicklung mit der konkreten Ausarbeitung der Bildungspläne. Die Arbeit leisteten rund 80 Bildungsplankommissionen, die jeweils für ein Fach zuständig sind, besetzt mit Fachleuten aus der Praxis. Grießinger / Praktiker in Bildungsplankommissionen „Das ist ja gerade das Reizvolle an der Tätigkeit, dass man weiter unterrichtet im Regelfall und dabei eben sozusagen immer geerdet ist und genau weiß, wenn ich jetzt eine neue Perspektive in diesen Bildungsplan einnehme, dann weiß ich immer genau, wenn ich etwa am Tag vorher eine 8. Klasse unterrichtet habe, was ist jetzt möglich zu ändern? An welchen Stellschrauben kann ich drehen? Deshalb ist gerade diese weitere Präsenz im Unterricht eine ganz zentrale Voraussetzung dafür, dass man – meine ich – einen guten Bildungsplan dann auch machen kann.“ Sprecherin: Andreas Grießinger leitet die Bildungsplankommission Geschichte. Mit einigen Stunden seines Deputats ist er abgeordnet ans Landesinstitut für Schulentwicklung, ansonsten unterrichtet er am Heinrich-Suso-Gymnasium Konstanz und ist Fachreferent für Geschichte am Regierungspräsidium Freiburg. In der Bildungsplankommission diskutierte er mit seinen Kolleginnen und Kollegen etwa über die Frage, welches die zentralen Elemente der Französischen Revolution sind und wie sich diese auf verschiedenen Niveaus im Unterricht vermitteln lassen. Dort fiel auch der Entschluss, die Steinzeit künftig nicht mehr als eigenes Thema zu behandeln und zusätzlich zur nationalen Geschichte die europäische Geschichte stärker in den Blick zu nehmen. Geweitet wird sie ihrerseits durch sogenannte „Fenster zur Welt“. 4 Grießinger / Römisches Weltreich „Dass Schüler zum Beispiel nicht mehr den Eindruck haben, wie man’s früher ab und zu noch dachte, man müsse von einem Römischen Weltreich sprechen, denn es war in der Tat kein Weltreich, es gab gleichzeitig ein sehr ähnlich großes chinesisches Weltreich, das die Schüler über ein solches Fenster kennen lernen sollen, um einen rein eurozentrischen Blick zu öffnen, und das halten wir im 21. Jahrhundert in Zeiten der Globalisierung für zeitgemäß.“ Sprecherin: Wissenschaftliche Beratung bekamen die Bildungsplankommissionen durch Experten von Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Und dann gab es einen Beirat, der die Entstehung der Bildungspläne in Baden-Württemberg begleitete, mit rund 50 Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion und Politik, darunter auch der Bildungsforscher Hans Anand Pant. Pant / Schulen müssen reagieren „Natürlich hat man auch 2004 im Bildungsplan in Baden-Württemberg bereits Themen wie Globalisierung, mediale Vernetzung, Themen auch wie die Fundamentalismus-Debatte im Ansatz aufgegriffen. In den letzten Jahren ist es aber so, dass man in Schulen plötzlich islamistische, rechtsradikale, demokratische Auffassungen bei Schülerinnen und Schülern nebeneinander hat und von daher auch neue didaktische Modelle des Umgangs mit solchen äußeren Bedingungen in Bildungsplänen Eingang finden müssen. Und es ist ja auch so, dass gerade in dieser Leitperspektive Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt sehr viel davon als Chance enthalten ist. Wenn es in Schulen nicht gelingt, diese Vielfalt unter Wahrung des Bezugs auf die Grundwerte des Grundgesetzes zu üben und zwar auch praktisch zu üben, Demokratie einzuüben, dann haben wir ein echtes Problem in wenigen Jahren.“ Sprecherin: So gesehen ist Vielfalt vor allem ethnische Vielfalt und religiöse Vielfalt. Doch in der öffentlichen Diskussion konzentrierte sich alles auf die sexuelle Vielfalt. Kein anderes Thema hat die Gemüter bei dieser Bildungsplanreform so stark bewegt. Atmo Demo / Redner mit Applaus und Johlen Umfrage / gegen sexuelle Vielfalt „Also mir ist wichtig, dass Grundgesetz Artikel 6, der besondere Schutz von Ehe und Familie, weiterhin im Grundgesetz stehen bleibt und auch gesichert wird, das ist mir wichtig. – Ich habe kein Problem mit Homosexuellen, aber ich finde es nicht normal, wenn man das als normal darstellt. – Das fängt schon an in der Bibel, dass Gott erschaffen hat den Mann und die Frau, und es steht nirgends, dass er die Liebe zwischen zwei Geschlechtlichen befürwortet. – Liebe ist ein Menschenrecht!“ Atmo Halleluja vs. Autonome Costantino / schräge Debatte „Auslöser war hier sicherlich, dass ein Arbeitspapier, ein internes Arbeitspapier, also nicht der Bildungsplan, ein Arbeitspapier von interessierten Stellen an die Öffentlichkeit gegeben wurde, und dort eben Formulierungen enthalten waren, die 5 als absolut gestellt wurden, die nur allein in den Blick genommen wurden, und da kam eine schräge Debatte auf.“ Sprecherin: In diesem Arbeitspapier stand: Die Schüler ZITAT „kennen Lebenssituationen von LSBTTI-Menschen“ – das ist die Gruppe der lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender und intersexuellen Menschen - und ZITAT „setzen sich mit Menschenrechten und Diskriminierungen auseinander“ ZITAT ENDE. So soll die Geschichte der Unterdrückung von bi-, homo-, trans- und intersexuellen Menschen behandelt werden, thematisiert werden sollten nach diesem Papier auch Ausprägungen homo- oder intersexueller Kultur in Kunst und Literatur. Atmo Gesang vs. Sprechchöre und Pfeifen der Autonomen Atmo Sprechchöre, Pfeifen + Trommeln der Autonomen) Sprecherin: Nur bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 gab es in den letzten Jahren eine so kontinuierliche Protestbewegung wie bei der sogenannten „Demo für Alle“. Unter dem Label des Protests gegen sexuelle Vielfalt in den Bildungsplänen gingen Tausende auf die Straße, von der bürgerlichen Mitte bis hin zur extremen Rechten. Auch die NPD rief zur Teilnahme an der Demo auf, und bei der Kundgebung im letzten Oktober erklärte ein Vertreter der AfD, wenn Homosexualität als gleichwertige Lebensform anerkannt werde, würden noch weniger Kinder geboren. Das verstärke das demographische Problem und schwäche die Wirtschaft. Außerdem steige die Gefahr der Überfremdung, weil aktuell ja ohnehin immer mehr Menschen aus anderen Ländern, die oft viele Kinder hätten, nach Deutschland kämen. Mit solchen Wellen der Erregung habe im Landesinstitut für Schulentwicklung niemand gerechnet, sagt Peter Grotz, der dort den Fachbereich „Bildungsplanarbeit für Allgemeinbildende und Berufliche Schulen“ leitet. Grotz / nicht mit Aufregung gerechnet „Also wir haben’s zum großen Teil auch überhaupt nicht verstehen können, weil die Diskussion, die da geführt wurde, sich auf einen vermeintlichen Ausschnitt, nämlich das vermeintliche Thema der Sexualisierung des Unterrichts bezogen hat, das in überhaupt keiner Weise gerechtfertigt ist. Also wir haben da jetzt noch mal unterm Strich nachgeschaut, wie das jetzt in der Endfassung realisiert ist. Wenn Sie bei der Online-Plattform auf der Suchmaske den Begriff Sex eingegeben, finden Sie null Fundstellen. Das ist für viele, die dieses Thema so ganz offensiv auf der Zunge tragen, eine ziemliche Enttäuschung.“ Sprecherin: Freilich hatte die Politik zuvor auch auf die großen öffentlichen Proteste reagiert und eingelenkt. Am 8. April 2014 erklärten Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Kultusminister Andreas Stoch: Zitator „Um die Debatte zu versachlichen und die Missverständnisse auszuräumen, haben wir uns dazu entschieden, eine eigenständige Leitperspektive zu Toleranz und Vielfalt einzuführen. Statt eines Querschnittsthemas sexuelle Vielfalt gibt es die neue allgemeine Leitperspektive, Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt.“ 6 Atmo morgens Gymnasium Eingang + Pausenhalle Sprecherin: Das Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach zählt zu den 100 Erprobungsschulen, die die neuen Bildungspläne über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg in der Praxis getestet haben. 2300 Schülerinnen und Schüler, rund 30 verschiedene Nationalitäten lernen hier gemeinsam. Dem neuen Bildungsplan zufolge sollen sie ihre interkulturelle Kompetenz auch im Fremdsprachenunterricht stärken. Atmo / Begrüßung Englisch-Unterricht + Anweisungen Good morning everybody! – Good morning, Mrs Saffert! …” weiter Sprecherin: Andrea Saffert unterrichtet Englisch und Geschichte. Sie ist Abteilungsleiterin für den Bereich Internationales und hat sich freiwillig dafür gemeldet, den neuen Bildungsplan für das Fach Geschichte zu erproben. Mit Blick auf das aktuelle Weltgeschehen hält sie gerade die „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“ für äußerst wichtig. Saffert / Vielfalt „Nehmen wir das Beispiel 6. Klasse, da geht es zum Beispiel um das Thema Migration. Das fängt ja in Griechenland an. Die Griechen gründen Kolonien, geraten dadurch in Konflikt mit anderen Bevölkerungsgruppen, wo neue Kolonien gegründet werden. Da kann man schon mal ansetzen und gerade bei kleinen oder jungen Schülern ein Bewusstsein dafür schaffen, was es bedeutet, sich von zu Hause aufzumachen, auf den Weg zu machen in ein fremdes Land, an einen ganz neuen Ort, alles hinter sich zu lassen, dieses Risiko einzugehen. Was für Gründe stecken dahinter? Und wie geht es den Menschen, die sich auf den Weg machen? Geschichtsunterricht finde ich macht nur dann Sinn, wenn wir die Vergangenheit verstehen, aber nicht isoliert in der Vergangenheit lassen, sondern daraus eben dann auch ein Verständnis bekommen für unser Leben heute.“ Atmo NWT „ Meine Damen und Herren, aufräumen! – Schlüssel bitte …“ Sprecherin: Frank Trittler entwickelte am Marbacher Schiller-Gymnasium als Pilotprojekt das Fach NWT – Naturwissenschaft und Technik. Nun hat er auch die Entstehung des entsprechenden Bildungsplans begleitet und die Fortbildungen für die Lehrkräfte mit konzipiert. So bekam er diesmal direkt mit, was anders lief als bei der letzten Bildungsplanreform 2004. Trittler / besseres Timing 1 2004 war ja so’n Paradigmenwechsel vom Lehrplan zu den Bildungstandards, das heißt, man definiert nicht mehr, was soll der Lehrer unterrichten, was lehrt der Lehrer, sondern was soll der Schüler können hinterher. Das fand ich im Prinzip schon eine tolle Sache damals. Das Problem war, der Lehrer wusste nicht so genau, was ist da eigentlich passiert. Und dann gab’s eben die Fortbildungen dazu, die kamen dann aber halt erst viel später. Ich glaube, die haben dann erst 2008 angefangen, so 7 genau weiß ich’s gar nicht mehr, aber auf jeden Fall Jahre, nachdem der Bildungsplan eigentlich da war. Und das läuft diesmal schon völlig anders. Die Implementierung vom neuen Bildungsplan an den Schulen, die ist wesentlich besser.“ Sprecherin: Die Schulleiter wurden frühzeitig informiert, dann die Kollegien, und Ende letzten Jahres begannen schon die eintägigen Fortbildungen auf Grundlage der vorläufigen Fassung des jeweiligen Bildungsplans. Trittler / besseres Timing 2 „Also wir haben den noch nicht mal, und trotzdem laufen schon die Veranstaltungen. Das ist natürlich schon wesentlich besser als erst vier Jahre, nachdem er da ist.“ Sprecherin: Groß ist die Zufriedenheit auch an einer anderen Erprobungsschule, der OskarSchwenk-Schule, einer Grund-, Haupt- und Realschule in Waldenbuch, die Christian Metzger leitet. Metzger / positive Rückmeldungen „Also die Rückmeldungen, die ich erhalten habe von den Kolleginnen, die in die Prozesse eingebunden sind, sind sehr positiv. Sie fühlen sich gehört, sie sehen sich sehr eingebunden in den Prozess, und in manchen Bereichen sieht man jetzt auch schon in den Entwurfsfassungen, dass Inputs der Kolleginnen aufgenommen worden sind.“ Sprecherin: Metzgers Konrektorin Nicole Sattler lobt, die Pläne seien sehr anwendungsbezogen mit vorgegebenen Begriffen und Beispielen. Und der Bildungsplan für Sport in der Grundschule formuliere erstmals überhaupt die Verbindung von Bewegung und Lernen. Da seien auch konkrete Spiele vorgeschrieben, um Arbeitsgedächtnis, Impulskontrolle und kognitive Flexibilität zu fördern: Reaktionsspiele oder MusikStopp-Spiele. Das wird allerdings nicht reichen, um später die Leistungen im Bereich der Naturwissenschaften zu heben. Da sind andere Bundesländer längst an BadenWürttemberg vorbeigezogen. Auch darum stand Monica Hettrich mit ihrer Bildungsplankommission für Physik vor der großen Frage, wie dieses Fach überhaupt an Attraktivität gewinnen kann. Hetterich / Physik beliebter machen „Physik ist ja nun ein Fach, was vor großen Herausforderungen steht alltäglich, und zwar bewegen wir uns ja in dem Spannungsfeld, dass Physik als eines der wichtigsten, also gesellschaftlich wichtigsten Fächer angesehen wird, weil es große Berufschancen vermittelt für die Schülerinnen und Schüler, und andererseits das unbeliebteste oder mit das unbeliebteste Fach ist in der Schule, um das mal deutlich zu sagen. Und natürlich muss ein Bildungsplan gerade dem Rechnung tragen, dass das Fach an Beliebtheit möglicherweise gewinnen sollte, damit möglichst viele Schülerinnen und Schüler natürlich partizipieren können von dieser Erkenntnis, dass gerade im naturwissenschaftlichen Bereich, physikalisch-technischen Bereich man einfach die tollsten Berufsfelder erobern kann. 8 Sprecherin: Gerade den Mädchen müsse das bewusster werden, sagt Hettrich. Sie unterrichtet Physik am Stuttgarter Königin-Katharina-Stift Gymnasium, wo sie auch konzeptionell in die Hochbegabtenförderung eingebunden ist. Der neue Bildungsplan achte darauf, dass die Experimente eine spielerische Dimension hätten. Im Physik-Unterricht sollten Kinder verstehen können: Wie funktioniert die Welt? Hetterich / spannend „Und das ist auch einfach wahnsinnig spannend. Und wenn man sie dabei packt, bei der Neugier, die Kinder, dann kann man sie natürlich auch gewinnen für Physik.“ Sprecherin: Drei Leitperspektiven sieht Hettrrich im Fach Physik. Zunächst die Vielfalt: Mädchen können Physik genauso gut wie Jungs. Dann natürlich die Nachhaltige Entwicklung, Stichwort Energie, aber auch „Prävention und Gesundheitserziehung“, wo Kinder nicht nur lernen könnten, wie im Haushalt eine Sicherung funktioniert. Hetterich / Kopfhörer „Aber denken Sie auch mal daran, Schülerinnen und Schüler laufen heute gerne überall mit Kopfhörern herum und hören Musik, ihre Lieblingsstücke, es gibt ja viele portable Geräte, die man so schön und einfach mit sich herumtragen kann. Aber denkt man da auch darüber nach, wie laut diese Musik auf die Ohren einprasselt? Das kann man in Physik vermessen. Es gibt inzwischen MesswertErfassungssysteme, einfache, auch kostenlose. Sie können mit einem simplen Smartphone heutzutage vermessen, wie hoch die Lautstärke ist, die die Kinder jetzt täglich bei ihrem Lieblingsmusikstück am Ohr verwenden, und dann können Sie das mal nachschlagen: Welche Schädigungen könnte das in der Zukunft hervorrufen, und wie müsste ich mein Verhalten verändern. Und das ist im Bildungsplan ebenfalls grundgelegt zum Beispiel.“ Atmo Musikunterricht „T – T – T – und T – T – T. [Lachen] Da ist kein T dabei. Gut! [Klavier] So-ja – und: So-ja-so-ja-so-ja-so-ja-so! ….“ Sprecherin: Im Vergleich zu heiß diskutierten neuen Fächern wie Wirtschaft oder Informatik wurde bei dieser Bildungsplanreform sehr wenig über die Bedeutung des Kunst- und Musikunterrichts gesprochen. In der Grundschule wird immerhin der Fächerverbund „Mensch – Natur – Kultur“ wieder in Einzelfächer aufgelöst. Künftig haben die Drittund Viertklässler also wieder Sachunterricht, Kunst / Werken bzw. Musik. Doch eine Leitperspektive „Kulturelle Bildung“, die viele forderten, hielt das Kultusministerium nicht für wichtig. Wie sehr drückt eine Landesregierung neuen Bildungsplänen ihren politischen Stempel auf? In einzelne Fachpläne spiele das nicht hinein, meint Peter Grotz, der am Landesinstitut für Schulentwicklung nun schon die dritte Reform mit gestaltet hat. Grotz / politische Einflussnahme „Also dass man jetzt einen Physik-Plan, dass man da spürt, dass da jetzt eine grünrote Landesregierung im Moment regiert, das kann man einfach schlichtweg verneinen. Auf der anderen Seite gibt’s natürlich aber schon Dinge, denen politische 9 Entscheidungen vorausgingen, also etwa die Frage des abschlussbezogenen Bildungsplans mit drei Niveaustufen. Das war eine klare Setzung vonseiten des Kultusministeriums natürlich im Zusammenhang mit der Einführung der Gemeinschaftsschule nach Regierungsübernahme im Jahr 2011. Und auch die Frage: Wie viele Leitperspektiven gibt es und wie sehen die überhaupt aus? Auch das ist ein Punkt, der von politischer Seite entschieden wurde, etwa die Leitperspektive BNE – Bildung für nachhaltige Entwicklung – ist ja sogar im Koalitionsvertrag explizit benannt.“ Klieme / Leitperspektiven leben „Was ich mir denke als jemand, der sich mit Bildungsplänen beschäftigt hat seit langem: Ist es überhaupt notwendig, diese Leitprinzipien detailliert durch zu deklinieren und immer wieder in die einzelnen Fächer hinein zu gehen? Bei der Diskussion um diese Leitprinzipien geht’s ja letzten Endes um Demokratieerziehung, um Werteerziehung, und das ist auch etwas, was gelebt werden muss an Schulen. Und solche Dinge im Rahmen der Schulkultur weiter zu entwickeln, zu thematisieren immer wieder neu, ist glaube ich mindestens genauso wichtig wie das, was in den Bildungsplänen steht.“ Sprecherin: In einem Punkt hat Baden-Württemberg schon etwas vorgelegt, was Beachtung finden dürfte: Die öffentliche Teilhabe an der Entstehung dieser neuen Bildungspläne war einzigartig. Klieme / partizipativ und transparent „Als Bildungsforscher kann ich nur sagen, wir wissen aus der Curriculum-Forschung, dass es vor allem darauf ankommt, diese Prozesse transparent und partizipativ zu gestalten, und da macht Baden-Württemberg glaube ich einen guten Job, weil das, was da läuft in der Bildungsplan-Entwicklung, sehr offen verhandelt wird, vielleicht auch so, dass es manchmal unangenehm ist für die Autoren der Pläne und für die Regierung. Aber ich denke, so ein transparenter Prozess, in dem bis hin zu Demonstrationen und öffentlichen Diskursen ausgehandelt wird, was relevant ist, das ist glaube ich eine Stärke.“ Sprecherin: Im letzten Herbst wurde eine vorläufige Fassung der Bildungspläne ins Internet gestellt, und danach hatten alle interessierten Bürger die Möglichkeit, sich mit Anregungen und Kritik zu Wort zu melden. Über 2600 Rückmeldungen wurden im Kultusministerium einzeln bewertet, auch politisch, und letztlich arbeiteten die Bildungsplankommissionen etwa jede zehnte Rückmeldung noch ein, berichtet Ministerialrat Renzo Costantino. Costantino / Anhörung und Partizipation „Im Rahmen der Anhörung haben wir wirklich ganz hervorragende sachliche, fachliche Hinweise bekommen. Wir haben im Rahmen der Erprobung sehr gute Optimierungshinweise bekommen, und uns war es wichtig, mit dieser breiten Partizipation wirklich auch zu einer Versachlichung in vielen Bereichen beizutragen und die Akzeptanz dieser Bildungspläne zu fördern. Es gibt Beispiele in anderen Bundesländern, ein benachbartes Bundesland führt im Moment gerade auch eine Bildungsplanreform durch, dort gibt es keinerlei Transparenz, keinerlei Partizipation, 10 soweit wir das hier beobachten können. Wir reden von Bayern. Wir sind einfach einen anderen Weg gegangen, und die ganzen Rückmeldungen, die wir bekommen haben, bestätigen uns darin, dass das so richtig war.“ Sprecherin: Noch diesen Monat wird Kultusminister Andreas Stoch seine Unterschrift unter die neuen Bildungspläne setzen. Danach werden sie im Internet veröffentlicht – das ist ein Novum – mit umfangreichen Querverweisen, die durch Verlinkungen schnell verfügbar sind. Alle Lehrkräfte bekommen einen USB-Stick mit dem Material und jede Schule ein gedrucktes Exemplar. Und dann sollen rund 100.000 Lehrerinnen und Lehrer in Baden-Württemberg ihren Unterricht nach den neuen Bildungsplänen umgestalten. Atmo Französisch / Pas mal en général /“Votre tour commence maintenant“) „Pas mal en général, und die Sophia guckt ganz unzufrieden. – Nein, nein, nein… Nein, nein, nein, nein? Angenommen, wir wollen uns noch verbessern: Wo müssen wir ansetzen, wenn wir’s verbessern wollen?“ Pant / Lehrer lesen Bildungspläne „Da gibt es ja das alte Sprichwort: Lehrer und Lehrerinnen lesen keine Bildungspläne, wenn sie ihren Unterricht vorbereiten. Ich glaube, dass das nicht stimmt und dass das vor allen Dingen in den letzten Jahren immer weniger stimmt, dadurch dass nämlich eine Neuorientierung und damit auch eine gewisse sagen wir mal Verunsicherung in den Schulen stattgefunden hat: Wie soll eigentlich moderner Unterricht aussehen? Das Stichwort ist hier Kompetenzorientierung, nicht mehr Lehrstofforientierung als Leitbild, und von daher schauen inzwischen nach meiner Erfahrung und auch nach meinen empirischen Untersuchungen Lehrkräfte sehr wohl, was steht eigentlich in den Bildungsplänen drin? Muss ich möglicherweise mich auf wirklich neue Vorstellungen von Unterrichtsgestaltung einlassen?“ Sprecherin: Das sind Hausaufgaben, die in den nächsten Monaten nicht die Kinder, sondern die Lehrerinnen und Lehrer zu machen haben. Atmo / Votre tour commence maintenant „Votre tour commence maintenant [Bimmeln]…” ***** 11
© Copyright 2024 ExpyDoc