SWR2 Wissen

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Bildungspläne - wer entscheidet?
Von Susanne Kaufmann
Sendung: Samstag, 05.03.2016, 08.30 Uhr
Redaktion: Christoph König
Regie: Tobias Krebs
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Atmo Glocke + Klasse vor Unterricht
Costantino / Aufgabe einer Landesregierung lang
„Ich nenn jetzt mal Stichworte wie Globalisierung, Diversität, Migration,
Ökonomisierung. Auf all diese gesellschaftlichen Entwicklungen muss ein
Bildungsplan überhaupt Antworten geben, und es ist auch Aufgabe einer jeden
Landesregierung, letztendlich zu fragen, was brauchen Schülerinnen und Schüler
heute, um Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben bewältigen zu können.“
Umfrage K2 / Gedichtvergleich
„Man fängt ja jetzt in dem Alter manchmal an, so Ferienjobs zu machen. Komm ich
zum Ferienjob, fragt mich der Arbeitgeber: Was ist Deine
Steueridentifikationsnummer? Hab ich gesagt: Keine Ahnung, ich hab nie eine
Steuererklärung abgegeben, hab das im Unterricht nie gemacht, aber ich kann Ihnen
einen Gedichtvergleich schreiben. Das ist super! [Jugendliche lachen]“
Umfrage Mutter / gegen sexuelle Vielfalt + Trommel-Atmo
„Ich hab drei Kinder, und ich bin einfach gegen diese sexuelle Vielfalt. Ich möcht’s
net, dass meine Kinder Dinge lernen in der Schule durch solche Pläne, die einfach
das aufsetzen und vorsetzen.“ [Trommeln]
Moritz / Politische Einflussnahme
„Spannend ist dann die Frage, welche inhaltlichen Schwerpunkte werden gesetzt.
Und diese Schwerpunktsetzung ist durchaus eine politische, die nicht in der
Kompetenz derer liegt, die die Bildungspläne ausarbeiten.“
Ansage:
„Bildungspläne: Wer entscheidet?“ Eine Sendung von Susanne Kaufmann.
Atmo Erstklässler schreiben
„Ich schreibe gerade A! – Guck mal, Du musst hier die Wörter schreiben und dann
Schwingungen machen! – Nein! Als erstes die Schwünge… „Frau Mucha, ist das so
richtig? – Schau mal, Du musst nur einmal schreiben … Ooookay. – Guck, so wie der
Paul es macht…“]“
Pant / Bedeutung von Bildungsplänen kurz
„Bildungspläne sind von ihrer Funktion her ein relativ mächtiges Instrument, wenn es
um die Umsetzung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages in
Deutschland geht. Stellen Sie sich vor, die Bildung in Schule wäre vollkommen den
einzelnen überlassen. Dann würden Sie glaube ich die soziale Ungerechtigkeit in
einem Land maximieren, weil dann diejenigen, vor allem die Eltern, die besonders
viel Geld und auch kulturelles und Bildungskapital in die Erziehung ihrer Kinder, in
die Bildung ihrer Kinder stecken könnten, einen maximierten Vorteil hätten.
Bildungspläne sind das Instrument jeder Landesregierung, um sicherzustellen, dass
die allgemeinen Bildungsziele verfolgt werden und dass der Bildungsauftrag des
Staates wahrgenommen wird.“
Sprecherin:
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Soweit die Einschätzung von Hans Anand Pant. Er zählt zu den führenden
deutschen Bildungsforschern, hat eine Professur für Erziehungswissenschaften an
der Humboldt-Universität Berlin und leitet die Deutsche Schulakademie, die von der
Robert-Bosch-Stiftung und der Heidehof-Stiftung getragen wird.
Atmo Pausenhof und Pausenhalle Gymnasium
weiter Sprecherin:
Etwa alle zehn Jahre werden die bestehenden Bildungspläne reformiert. Wenn sie
dann in Kraft treten – wie nun nach den Sommerferien in Baden-Württemberg –
gelten sie jeweils für die Kinder, die neu starten: in der Grundschule – hier in den
Klassen 1 und 2 – und dann auf der weiterführenden Schule, in den Klassen 5 und 6.
Alljährlich kommt ein weiterer Jahrgang mit hinzu. Auch wenn die
Kultusministerkonferenz mittlerweile bundesweit gültige Bildungsstandards setzt, hat
jedes Bundesland seine eigenen Bildungspläne – und die unterscheiden sich
teilweise sehr. Wie entstehen solche Bildungspläne? Und wer entscheidet über die
Inhalte? Eine wegweisende Veränderung leistete Baden-Württemberg schon 2004,
als damals erstes Bundesland: die Umstellung auf kompetenzorientierte
Bildungspläne. Darin ist festgeschrieben, welche Fähigkeiten die Kinder im Lauf der
Jahre erwerben sollen, nicht welches Faktenwissen.
Klieme / Kompetenzorientierung
„Und das ist der Unterschied gegenüber früheren Lehrplänen, die im Wesentlichen
lange Listen von detaillierten Lernzielen und –inhalten aufführten, ohne dass den
Beteiligten – und zwar den Lehrkräften wie auch den Schülern und ihren Eltern –
immer deutlich war, was denn der ultimative Gewinn davon ist. Was kann ich damit
machen? Warum kann ich die Welt besser verstehen, wenn ich in diesem Unterricht
bin?“
Sprecherin:
Erklärt der Frankfurter Bildungsforscher Eckhard Klieme. Bei den neuen badenwürttembergischen Bildungsplänen hat sich in den Kernfächern – Mathe, Deutsch,
Naturwissenschaften – nach Einschätzung von Experten inhaltlich nicht viel
verändert. Für sie gelten Vorgaben der Kultusministerkonferenz, die teilweise noch
eingearbeitet werden mussten. Eine kleine Aufgabe – andere Herausforderungen
waren größer.
Pant / neue Bildungspläne reagieren auf demographische Veränderungen
„Wir haben in Baden-Württemberg insbesondere dramatische Veränderungen, was
die demographische Entwicklung angeht, mehr als in anderen Bundesländern. Wir
werden in einigen Jahren fast die Hälfte der Kinder im schulfähigen Alter haben, die
einen Zuwanderungshintergrund haben. Wir werden insgesamt massive Rückgänge
haben im ländlichen Bereich, was überhaupt die Zahl von Schülerinnen und Schülern
im Schulalter angeht. Das heißt, die Struktur der Schulen in Baden-Württemberg wird
sich massiv umstellen müssen auf mehr Durchlässigkeit, mehr Flexibilität, und daher
auch dieses besondere Kennzeichen des neuen Bildungsplans, dass der
abschlussbezogen ist, nicht mehr schulartbezogen, und vor allem im
Sekundarstufenbereich 1 die Bildungspläne von vier, von früheren vier Schularten
gemeinsam formuliert hat.“
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Sprecherin:
Kinder, die in ihrer Lernentwicklung plötzlich große Sprünge nach vorne machen,
können künftig viel leichter als bisher auf eine andere Schulart wechseln und einen
höheren Abschluss machen – weil auf allen Niveaus die gleichen Inhalte vermittelt
werden, nur mit steigender Komplexität. Die zweite große Neuerung ist die
Einführung von Leitperspektiven, die sich durch die ganze Schulzeit ziehen. Hier
zeigt sich deutlich, dass ein Bildungsplan stets auch ein politisches Statement ist.
Sechs Leitperspektiven sollen den Unterricht in Baden-Württemberg künftig prägen.
Sie heißen „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, „Bildung für Toleranz und
Akzeptanz von Vielfalt“, dann gibt es noch „Prävention und Gesundheitsförderung“,
„Berufliche Orientierung“, „Medienbildung“ und „Verbraucherbildung“.
Costantino / keine Note aus dem StaMi
„Da gab’s keine Note oder keine Vorgaben von Seiten des Staatsministeriums,
sondern das sind Dinge, die wir wirklich hier auf der Fachebene erarbeitet haben – „
Sprecherin:
Betont Renzo Costantino. Er arbeitet beim Kultusministerium Baden-Württemberg in
der Abteilung für allgemeinbildende Schulen und leitet dort das Referat
Grundsatzfragen und Qualitätsmanagement. Dort ist die Bildungsplanreform
angesiedelt, dort wurden auch die Leitperspektiven festgelegt. Bei den
grundlegenden Arbeitspapieren holte sich das Ministerium Sachverstand von außen.
So war zum Beispiel bei der Medienbildung das Landesmedienzentrum mit im Boot.
Vor drei Jahren beauftragte das Kultusministerium dann das Landesinstitut für
Schulentwicklung mit der konkreten Ausarbeitung der Bildungspläne. Die Arbeit
leisteten rund 80 Bildungsplankommissionen, die jeweils für ein Fach zuständig sind,
besetzt mit Fachleuten aus der Praxis.
Grießinger / Praktiker in Bildungsplankommissionen
„Das ist ja gerade das Reizvolle an der Tätigkeit, dass man weiter unterrichtet im
Regelfall und dabei eben sozusagen immer geerdet ist und genau weiß, wenn ich
jetzt eine neue Perspektive in diesen Bildungsplan einnehme, dann weiß ich immer
genau, wenn ich etwa am Tag vorher eine 8. Klasse unterrichtet habe, was ist jetzt
möglich zu ändern? An welchen Stellschrauben kann ich drehen? Deshalb ist gerade
diese weitere Präsenz im Unterricht eine ganz zentrale Voraussetzung dafür, dass
man – meine ich – einen guten Bildungsplan dann auch machen kann.“
Sprecherin:
Andreas Grießinger leitet die Bildungsplankommission Geschichte. Mit einigen
Stunden seines Deputats ist er abgeordnet ans Landesinstitut für Schulentwicklung,
ansonsten unterrichtet er am Heinrich-Suso-Gymnasium Konstanz und ist
Fachreferent für Geschichte am Regierungspräsidium Freiburg. In der
Bildungsplankommission diskutierte er mit seinen Kolleginnen und Kollegen etwa
über die Frage, welches die zentralen Elemente der Französischen Revolution sind
und wie sich diese auf verschiedenen Niveaus im Unterricht vermitteln lassen. Dort
fiel auch der Entschluss, die Steinzeit künftig nicht mehr als eigenes Thema zu
behandeln und zusätzlich zur nationalen Geschichte die europäische Geschichte
stärker in den Blick zu nehmen. Geweitet wird sie ihrerseits durch sogenannte
„Fenster zur Welt“.
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Grießinger / Römisches Weltreich
„Dass Schüler zum Beispiel nicht mehr den Eindruck haben, wie man’s früher ab und
zu noch dachte, man müsse von einem Römischen Weltreich sprechen, denn es war
in der Tat kein Weltreich, es gab gleichzeitig ein sehr ähnlich großes chinesisches
Weltreich, das die Schüler über ein solches Fenster kennen lernen sollen, um einen
rein eurozentrischen Blick zu öffnen, und das halten wir im 21. Jahrhundert in Zeiten
der Globalisierung für zeitgemäß.“
Sprecherin:
Wissenschaftliche Beratung bekamen die Bildungsplankommissionen durch Experten
von Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Und dann gab es einen Beirat,
der die Entstehung der Bildungspläne in Baden-Württemberg begleitete, mit rund 50
Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion und Politik, darunter
auch der Bildungsforscher Hans Anand Pant.
Pant / Schulen müssen reagieren
„Natürlich hat man auch 2004 im Bildungsplan in Baden-Württemberg bereits
Themen wie Globalisierung, mediale Vernetzung, Themen auch wie die
Fundamentalismus-Debatte im Ansatz aufgegriffen. In den letzten Jahren ist es aber
so, dass man in Schulen plötzlich islamistische, rechtsradikale, demokratische
Auffassungen bei Schülerinnen und Schülern nebeneinander hat und von daher auch
neue didaktische Modelle des Umgangs mit solchen äußeren Bedingungen in
Bildungsplänen Eingang finden müssen. Und es ist ja auch so, dass gerade in dieser
Leitperspektive Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt sehr viel davon als Chance
enthalten ist. Wenn es in Schulen nicht gelingt, diese Vielfalt unter Wahrung des
Bezugs auf die Grundwerte des Grundgesetzes zu üben und zwar auch praktisch zu
üben, Demokratie einzuüben, dann haben wir ein echtes Problem in wenigen
Jahren.“
Sprecherin:
So gesehen ist Vielfalt vor allem ethnische Vielfalt und religiöse Vielfalt. Doch in der
öffentlichen Diskussion konzentrierte sich alles auf die sexuelle Vielfalt. Kein anderes
Thema hat die Gemüter bei dieser Bildungsplanreform so stark bewegt.
Atmo Demo / Redner mit Applaus und Johlen
Umfrage / gegen sexuelle Vielfalt
„Also mir ist wichtig, dass Grundgesetz Artikel 6, der besondere Schutz von Ehe und
Familie, weiterhin im Grundgesetz stehen bleibt und auch gesichert wird, das ist mir
wichtig. – Ich habe kein Problem mit Homosexuellen, aber ich finde es nicht normal,
wenn man das als normal darstellt. – Das fängt schon an in der Bibel, dass Gott
erschaffen hat den Mann und die Frau, und es steht nirgends, dass er die Liebe
zwischen zwei Geschlechtlichen befürwortet. – Liebe ist ein Menschenrecht!“
Atmo Halleluja vs. Autonome
Costantino / schräge Debatte
„Auslöser war hier sicherlich, dass ein Arbeitspapier, ein internes Arbeitspapier, also
nicht der Bildungsplan, ein Arbeitspapier von interessierten Stellen an die
Öffentlichkeit gegeben wurde, und dort eben Formulierungen enthalten waren, die
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als absolut gestellt wurden, die nur allein in den Blick genommen wurden, und da
kam eine schräge Debatte auf.“
Sprecherin:
In diesem Arbeitspapier stand: Die Schüler ZITAT „kennen Lebenssituationen von
LSBTTI-Menschen“ – das ist die Gruppe der lesbischen, schwulen, bisexuellen,
transsexuellen, transgender und intersexuellen Menschen - und ZITAT „setzen sich
mit Menschenrechten und Diskriminierungen auseinander“ ZITAT ENDE. So soll die
Geschichte der Unterdrückung von bi-, homo-, trans- und intersexuellen Menschen
behandelt werden, thematisiert werden sollten nach diesem Papier auch
Ausprägungen homo- oder intersexueller Kultur in Kunst und Literatur.
Atmo Gesang vs. Sprechchöre und Pfeifen der Autonomen
Atmo Sprechchöre, Pfeifen + Trommeln der Autonomen)
Sprecherin:
Nur bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 gab es in den letzten Jahren eine
so kontinuierliche Protestbewegung wie bei der sogenannten „Demo für Alle“. Unter
dem Label des Protests gegen sexuelle Vielfalt in den Bildungsplänen gingen
Tausende auf die Straße, von der bürgerlichen Mitte bis hin zur extremen Rechten.
Auch die NPD rief zur Teilnahme an der Demo auf, und bei der Kundgebung im
letzten Oktober erklärte ein Vertreter der AfD, wenn Homosexualität als gleichwertige
Lebensform anerkannt werde, würden noch weniger Kinder geboren. Das verstärke
das demographische Problem und schwäche die Wirtschaft. Außerdem steige die
Gefahr der Überfremdung, weil aktuell ja ohnehin immer mehr Menschen aus
anderen Ländern, die oft viele Kinder hätten, nach Deutschland kämen.
Mit solchen Wellen der Erregung habe im Landesinstitut für Schulentwicklung
niemand gerechnet, sagt Peter Grotz, der dort den Fachbereich „Bildungsplanarbeit
für Allgemeinbildende und Berufliche Schulen“ leitet.
Grotz / nicht mit Aufregung gerechnet
„Also wir haben’s zum großen Teil auch überhaupt nicht verstehen können, weil die
Diskussion, die da geführt wurde, sich auf einen vermeintlichen Ausschnitt, nämlich
das vermeintliche Thema der Sexualisierung des Unterrichts bezogen hat, das in
überhaupt keiner Weise gerechtfertigt ist. Also wir haben da jetzt noch mal unterm
Strich nachgeschaut, wie das jetzt in der Endfassung realisiert ist. Wenn Sie bei der
Online-Plattform auf der Suchmaske den Begriff Sex eingegeben, finden Sie null
Fundstellen. Das ist für viele, die dieses Thema so ganz offensiv auf der Zunge
tragen, eine ziemliche Enttäuschung.“
Sprecherin:
Freilich hatte die Politik zuvor auch auf die großen öffentlichen Proteste reagiert und
eingelenkt. Am 8. April 2014 erklärten Ministerpräsident Winfried Kretschmann und
Kultusminister Andreas Stoch:
Zitator
„Um die Debatte zu versachlichen und die Missverständnisse auszuräumen, haben
wir uns dazu entschieden, eine eigenständige Leitperspektive zu Toleranz und
Vielfalt einzuführen. Statt eines Querschnittsthemas sexuelle Vielfalt gibt es die neue
allgemeine Leitperspektive, Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt.“
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Atmo morgens Gymnasium Eingang + Pausenhalle
Sprecherin:
Das Friedrich-Schiller-Gymnasium in Marbach zählt zu den 100 Erprobungsschulen,
die die neuen Bildungspläne über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg in der
Praxis getestet haben. 2300 Schülerinnen und Schüler, rund 30 verschiedene
Nationalitäten lernen hier gemeinsam. Dem neuen Bildungsplan zufolge sollen sie
ihre interkulturelle Kompetenz auch im Fremdsprachenunterricht stärken.
Atmo / Begrüßung Englisch-Unterricht + Anweisungen
Good morning everybody! – Good morning, Mrs Saffert! …”
weiter Sprecherin:
Andrea Saffert unterrichtet Englisch und Geschichte. Sie ist Abteilungsleiterin für den
Bereich Internationales und hat sich freiwillig dafür gemeldet, den neuen
Bildungsplan für das Fach Geschichte zu erproben. Mit Blick auf das aktuelle
Weltgeschehen hält sie gerade die „Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt“
für äußerst wichtig.
Saffert / Vielfalt
„Nehmen wir das Beispiel 6. Klasse, da geht es zum Beispiel um das Thema
Migration. Das fängt ja in Griechenland an. Die Griechen gründen Kolonien, geraten
dadurch in Konflikt mit anderen Bevölkerungsgruppen, wo neue Kolonien gegründet
werden. Da kann man schon mal ansetzen und gerade bei kleinen oder jungen
Schülern ein Bewusstsein dafür schaffen, was es bedeutet, sich von zu Hause
aufzumachen, auf den Weg zu machen in ein fremdes Land, an einen ganz neuen
Ort, alles hinter sich zu lassen, dieses Risiko einzugehen. Was für Gründe stecken
dahinter? Und wie geht es den Menschen, die sich auf den Weg machen?
Geschichtsunterricht finde ich macht nur dann Sinn, wenn wir die Vergangenheit
verstehen, aber nicht isoliert in der Vergangenheit lassen, sondern daraus eben dann
auch ein Verständnis bekommen für unser Leben heute.“
Atmo NWT
„ Meine Damen und Herren, aufräumen! – Schlüssel bitte …“
Sprecherin:
Frank Trittler entwickelte am Marbacher Schiller-Gymnasium als Pilotprojekt das
Fach NWT – Naturwissenschaft und Technik. Nun hat er auch die Entstehung des
entsprechenden Bildungsplans begleitet und die Fortbildungen für die Lehrkräfte mit
konzipiert. So bekam er diesmal direkt mit, was anders lief als bei der letzten
Bildungsplanreform 2004.
Trittler / besseres Timing 1
2004 war ja so’n Paradigmenwechsel vom Lehrplan zu den Bildungstandards, das
heißt, man definiert nicht mehr, was soll der Lehrer unterrichten, was lehrt der Lehrer,
sondern was soll der Schüler können hinterher. Das fand ich im Prinzip schon eine
tolle Sache damals. Das Problem war, der Lehrer wusste nicht so genau, was ist da
eigentlich passiert. Und dann gab’s eben die Fortbildungen dazu, die kamen dann
aber halt erst viel später. Ich glaube, die haben dann erst 2008 angefangen, so
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genau weiß ich’s gar nicht mehr, aber auf jeden Fall Jahre, nachdem der
Bildungsplan eigentlich da war. Und das läuft diesmal schon völlig anders. Die
Implementierung vom neuen Bildungsplan an den Schulen, die ist wesentlich
besser.“
Sprecherin:
Die Schulleiter wurden frühzeitig informiert, dann die Kollegien, und Ende letzten
Jahres begannen schon die eintägigen Fortbildungen auf Grundlage der vorläufigen
Fassung des jeweiligen Bildungsplans.
Trittler / besseres Timing 2
„Also wir haben den noch nicht mal, und trotzdem laufen schon die Veranstaltungen.
Das ist natürlich schon wesentlich besser als erst vier Jahre, nachdem er da ist.“
Sprecherin:
Groß ist die Zufriedenheit auch an einer anderen Erprobungsschule, der OskarSchwenk-Schule, einer Grund-, Haupt- und Realschule in Waldenbuch, die Christian
Metzger leitet.
Metzger / positive Rückmeldungen
„Also die Rückmeldungen, die ich erhalten habe von den Kolleginnen, die in die
Prozesse eingebunden sind, sind sehr positiv. Sie fühlen sich gehört, sie sehen sich
sehr eingebunden in den Prozess, und in manchen Bereichen sieht man jetzt auch
schon in den Entwurfsfassungen, dass Inputs der Kolleginnen aufgenommen worden
sind.“
Sprecherin:
Metzgers Konrektorin Nicole Sattler lobt, die Pläne seien sehr anwendungsbezogen
mit vorgegebenen Begriffen und Beispielen. Und der Bildungsplan für Sport in der
Grundschule formuliere erstmals überhaupt die Verbindung von Bewegung und
Lernen. Da seien auch konkrete Spiele vorgeschrieben, um Arbeitsgedächtnis,
Impulskontrolle und kognitive Flexibilität zu fördern: Reaktionsspiele oder MusikStopp-Spiele. Das wird allerdings nicht reichen, um später die Leistungen im Bereich
der Naturwissenschaften zu heben. Da sind andere Bundesländer längst an BadenWürttemberg vorbeigezogen. Auch darum stand Monica Hettrich mit ihrer
Bildungsplankommission für Physik vor der großen Frage, wie dieses Fach
überhaupt an Attraktivität gewinnen kann.
Hetterich / Physik beliebter machen
„Physik ist ja nun ein Fach, was vor großen Herausforderungen steht alltäglich, und
zwar bewegen wir uns ja in dem Spannungsfeld, dass Physik als eines der
wichtigsten, also gesellschaftlich wichtigsten Fächer angesehen wird, weil es große
Berufschancen vermittelt für die Schülerinnen und Schüler, und andererseits das
unbeliebteste oder mit das unbeliebteste Fach ist in der Schule, um das mal deutlich
zu sagen. Und natürlich muss ein Bildungsplan gerade dem Rechnung tragen, dass
das Fach an Beliebtheit möglicherweise gewinnen sollte, damit möglichst viele
Schülerinnen und Schüler natürlich partizipieren können von dieser Erkenntnis, dass
gerade im naturwissenschaftlichen Bereich, physikalisch-technischen Bereich man
einfach die tollsten Berufsfelder erobern kann.
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Sprecherin:
Gerade den Mädchen müsse das bewusster werden, sagt Hettrich. Sie unterrichtet
Physik am Stuttgarter Königin-Katharina-Stift Gymnasium, wo sie auch konzeptionell
in die Hochbegabtenförderung eingebunden ist. Der neue Bildungsplan achte darauf,
dass die Experimente eine spielerische Dimension hätten. Im Physik-Unterricht
sollten Kinder verstehen können: Wie funktioniert die Welt?
Hetterich / spannend
„Und das ist auch einfach wahnsinnig spannend. Und wenn man sie dabei packt, bei
der Neugier, die Kinder, dann kann man sie natürlich auch gewinnen für Physik.“
Sprecherin:
Drei Leitperspektiven sieht Hettrrich im Fach Physik. Zunächst die Vielfalt: Mädchen
können Physik genauso gut wie Jungs. Dann natürlich die Nachhaltige Entwicklung,
Stichwort Energie, aber auch „Prävention und Gesundheitserziehung“, wo Kinder
nicht nur lernen könnten, wie im Haushalt eine Sicherung funktioniert.
Hetterich / Kopfhörer
„Aber denken Sie auch mal daran, Schülerinnen und Schüler laufen heute gerne
überall mit Kopfhörern herum und hören Musik, ihre Lieblingsstücke, es gibt ja viele
portable Geräte, die man so schön und einfach mit sich herumtragen kann. Aber
denkt man da auch darüber nach, wie laut diese Musik auf die Ohren einprasselt?
Das kann man in Physik vermessen. Es gibt inzwischen MesswertErfassungssysteme, einfache, auch kostenlose. Sie können mit einem simplen
Smartphone heutzutage vermessen, wie hoch die Lautstärke ist, die die Kinder jetzt
täglich bei ihrem Lieblingsmusikstück am Ohr verwenden, und dann können Sie das
mal nachschlagen: Welche Schädigungen könnte das in der Zukunft hervorrufen,
und wie müsste ich mein Verhalten verändern. Und das ist im Bildungsplan ebenfalls
grundgelegt zum Beispiel.“
Atmo Musikunterricht
„T – T – T – und T – T – T. [Lachen] Da ist kein T dabei. Gut! [Klavier] So-ja – und:
So-ja-so-ja-so-ja-so-ja-so! ….“
Sprecherin:
Im Vergleich zu heiß diskutierten neuen Fächern wie Wirtschaft oder Informatik
wurde bei dieser Bildungsplanreform sehr wenig über die Bedeutung des Kunst- und
Musikunterrichts gesprochen. In der Grundschule wird immerhin der Fächerverbund
„Mensch – Natur – Kultur“ wieder in Einzelfächer aufgelöst. Künftig haben die Drittund Viertklässler also wieder Sachunterricht, Kunst / Werken bzw. Musik. Doch eine
Leitperspektive „Kulturelle Bildung“, die viele forderten, hielt das Kultusministerium
nicht für wichtig. Wie sehr drückt eine Landesregierung neuen Bildungsplänen ihren
politischen Stempel auf? In einzelne Fachpläne spiele das nicht hinein, meint Peter
Grotz, der am Landesinstitut für Schulentwicklung nun schon die dritte Reform mit
gestaltet hat.
Grotz / politische Einflussnahme
„Also dass man jetzt einen Physik-Plan, dass man da spürt, dass da jetzt eine grünrote Landesregierung im Moment regiert, das kann man einfach schlichtweg
verneinen. Auf der anderen Seite gibt’s natürlich aber schon Dinge, denen politische
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Entscheidungen vorausgingen, also etwa die Frage des abschlussbezogenen
Bildungsplans mit drei Niveaustufen. Das war eine klare Setzung vonseiten des
Kultusministeriums natürlich im Zusammenhang mit der Einführung der
Gemeinschaftsschule nach Regierungsübernahme im Jahr 2011. Und auch die
Frage: Wie viele Leitperspektiven gibt es und wie sehen die überhaupt aus? Auch
das ist ein Punkt, der von politischer Seite entschieden wurde, etwa die
Leitperspektive BNE – Bildung für nachhaltige Entwicklung – ist ja sogar im
Koalitionsvertrag explizit benannt.“
Klieme / Leitperspektiven leben
„Was ich mir denke als jemand, der sich mit Bildungsplänen beschäftigt hat seit
langem: Ist es überhaupt notwendig, diese Leitprinzipien detailliert durch zu
deklinieren und immer wieder in die einzelnen Fächer hinein zu gehen? Bei der
Diskussion um diese Leitprinzipien geht’s ja letzten Endes um Demokratieerziehung,
um Werteerziehung, und das ist auch etwas, was gelebt werden muss an Schulen.
Und solche Dinge im Rahmen der Schulkultur weiter zu entwickeln, zu thematisieren
immer wieder neu, ist glaube ich mindestens genauso wichtig wie das, was in den
Bildungsplänen steht.“
Sprecherin:
In einem Punkt hat Baden-Württemberg schon etwas vorgelegt, was Beachtung
finden dürfte: Die öffentliche Teilhabe an der Entstehung dieser neuen Bildungspläne
war einzigartig.
Klieme / partizipativ und transparent
„Als Bildungsforscher kann ich nur sagen, wir wissen aus der Curriculum-Forschung,
dass es vor allem darauf ankommt, diese Prozesse transparent und partizipativ zu
gestalten, und da macht Baden-Württemberg glaube ich einen guten Job, weil das,
was da läuft in der Bildungsplan-Entwicklung, sehr offen verhandelt wird, vielleicht
auch so, dass es manchmal unangenehm ist für die Autoren der Pläne und für die
Regierung. Aber ich denke, so ein transparenter Prozess, in dem bis hin zu
Demonstrationen und öffentlichen Diskursen ausgehandelt wird, was relevant ist, das
ist glaube ich eine Stärke.“
Sprecherin:
Im letzten Herbst wurde eine vorläufige Fassung der Bildungspläne ins Internet
gestellt, und danach hatten alle interessierten Bürger die Möglichkeit, sich mit
Anregungen und Kritik zu Wort zu melden. Über 2600 Rückmeldungen wurden im
Kultusministerium einzeln bewertet, auch politisch, und letztlich arbeiteten die
Bildungsplankommissionen etwa jede zehnte Rückmeldung noch ein, berichtet
Ministerialrat Renzo Costantino.
Costantino / Anhörung und Partizipation
„Im Rahmen der Anhörung haben wir wirklich ganz hervorragende sachliche,
fachliche Hinweise bekommen. Wir haben im Rahmen der Erprobung sehr gute
Optimierungshinweise bekommen, und uns war es wichtig, mit dieser breiten
Partizipation wirklich auch zu einer Versachlichung in vielen Bereichen beizutragen
und die Akzeptanz dieser Bildungspläne zu fördern. Es gibt Beispiele in anderen
Bundesländern, ein benachbartes Bundesland führt im Moment gerade auch eine
Bildungsplanreform durch, dort gibt es keinerlei Transparenz, keinerlei Partizipation,
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soweit wir das hier beobachten können. Wir reden von Bayern. Wir sind einfach
einen anderen Weg gegangen, und die ganzen Rückmeldungen, die wir bekommen
haben, bestätigen uns darin, dass das so richtig war.“
Sprecherin:
Noch diesen Monat wird Kultusminister Andreas Stoch seine Unterschrift unter die
neuen Bildungspläne setzen. Danach werden sie im Internet veröffentlicht – das ist
ein Novum – mit umfangreichen Querverweisen, die durch Verlinkungen schnell
verfügbar sind. Alle Lehrkräfte bekommen einen USB-Stick mit dem Material und
jede Schule ein gedrucktes Exemplar. Und dann sollen rund 100.000 Lehrerinnen
und Lehrer in Baden-Württemberg ihren Unterricht nach den neuen Bildungsplänen
umgestalten.
Atmo Französisch / Pas mal en général /“Votre tour commence maintenant“)
„Pas mal en général, und die Sophia guckt ganz unzufrieden. – Nein, nein, nein… Nein, nein, nein, nein? Angenommen, wir wollen uns noch verbessern: Wo müssen
wir ansetzen, wenn wir’s verbessern wollen?“
Pant / Lehrer lesen Bildungspläne
„Da gibt es ja das alte Sprichwort: Lehrer und Lehrerinnen lesen keine
Bildungspläne, wenn sie ihren Unterricht vorbereiten. Ich glaube, dass das nicht
stimmt und dass das vor allen Dingen in den letzten Jahren immer weniger stimmt,
dadurch dass nämlich eine Neuorientierung und damit auch eine gewisse sagen wir
mal Verunsicherung in den Schulen stattgefunden hat: Wie soll eigentlich moderner
Unterricht aussehen? Das Stichwort ist hier Kompetenzorientierung, nicht mehr
Lehrstofforientierung als Leitbild, und von daher schauen inzwischen nach meiner
Erfahrung und auch nach meinen empirischen Untersuchungen Lehrkräfte sehr wohl,
was steht eigentlich in den Bildungsplänen drin? Muss ich möglicherweise mich auf
wirklich neue Vorstellungen von Unterrichtsgestaltung einlassen?“
Sprecherin:
Das sind Hausaufgaben, die in den nächsten Monaten nicht die Kinder, sondern die
Lehrerinnen und Lehrer zu machen haben.
Atmo / Votre tour commence maintenant
„Votre tour commence maintenant [Bimmeln]…”
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