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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Schramme im Gehirn
Auf der Suche nach den neuronalen
Grundlagen psychischer Leiden
Von Uwe Springfeld
Sendung: Montag, 29. Februar 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Roman Neumann
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2015
Bitte beachten Sie:
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MANUSKRIPT
Ansage:
Schramme im Gehirn –
Auf der Suche nach den neuronalen Grundlagen psychischer Leiden
Ein Feature von Uwe Springfeld
Sprecherin:
Wer lässt sich freiwillig einen Stromstoß durchs Hirn jagen? Wer lässt sich sein
Gehirn für 20 Minuten an elektrischen Strom anschließen?
Sprecher:
London, Queens Square. In einem der oberen Geschosse eines Altbaus im
gregorianischen Stil sitzt ein älterer Mann auf einem Bürostuhl. Eine junge Frau,
Camilla North, präpariert ihn für eine Demonstration.
O-Ton Camilla North / Übersetzerin:
Zuerst malen wir Ihnen einen kleinen Punkt über auf den Kopf, direkt über den
präfrontalen Kortex. Dieser Bereich ist aktiv während der Erinnerungsaufgaben. Und
er zeigt Abnormitäten in einer Depression.
Sprecher:
Camilla North arbeitet an ihrer Dissertation. Ihr Ziel ist es zu erforschen, wie sich
elektrische Stimulationen des Gehirns auf depressive Phasen eines Menschen
auswirken. Die junge Hirnforscherin weiß, wie sich beispielsweise das Gedächtnis
künstlich stimulieren lässt. Man schickt dem Menschen ein Milliampere elektrischen
Strom durch den präfrontalen Kortex, etwa so viel man aus einer Neun-Volt-Batterie
bekommt. Das regt die Nervenzellen an und das aktiviert den Geist.
O-Ton Camilla North / Übersetzerin:
Wenn sie sich ausruhen, scheint der präfrontale Kortex weniger aktiv zu sein. Aber
wenn sie etwas Schwieriges wie einen Erinnerungstest während einer Depression
machen, ist er überaktiv.
Sprecher:
Es wird etwas unangenehm. Camilla North drückt dem älteren Herrn einen nassen
Schwamm aufs schüttere Haar. Salzwasser rinnt ihm in den Nacken und Kragen.
Jetzt befestigt die Wissenschaftlerin eine Elektrode auf seinem Kopf. Halbhoch über
dem rechten Ohr. Dann kommt der Moment.
Keine Krämpfe, kein ungewolltes Muskelzucken, nicht einmal ein Kribbeln – nur ein
leichtes Pieken fühlt der Mann. Und einige Minuten später hat er das Gefühl, seine
Sinne seien leicht geschärft, der Geist flotter.
Sprecherin:
Ein kleines Experiment. Kaum der Rede wert zwischen all den tausenden, die
Hirnforscher täglich weltweit durchführen. Es bringt nicht einmal Camilla North
wesentlich weiter auf ihrem wissenschaftlichen Weg zur Promotion. Und doch:
Experimente dieser Art könnten bestimmen, wie die Gesellschaft künftig mit
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psychischen Leiden umgeht. Ob solche Leiden als Probleme des menschlichen
Geistes betrachtet werden oder als nachweisbare Defekte im Gehirn.
Bislang gilt: Ob ein Geist leidet oder nicht, unterwirft sich heute einer rein subjektiven
Bewertung. Sich beispielsweise während einer Depression schlapp und müde zu
fühlen, ist objektiv nicht messbar, sagt der Hirnforscher Jonathan Roiser vom
„University College of London“.
O-Ton Jonathan Roiser / Übersetzer:
Dafür, ob jemand gedrückter Stimmung ist, gibt es keinen objektiven Test, der die
gedrückte Stimmung misst. Trotzdem werden wir aber nie in der Lage sein zu sagen:
Diese Person ist nicht depressiv, wenn sie sich in gedrückter Stimmung zeigt. Das ist
das Besondere der psychischen Leiden.
Sprecherin:
Was aber, wenn psychische Leiden anhand objektiv messbarer Symptome
diagnostizierbar werden? Wenn Blut, Urin und Stuhlgang nicht mehr nur auf Zucker,
Cholesterin und verborgenes Blut untersucht werden, sondern auch auf
Neurotransmitter wie Serotonin und Dopamin. Dann würde man in der Besprechung
mit dem Arzt beispielweise hören:
Zitator:
„Ihre Werte sind so weit in Ordnung. Nur ihr Dopamin-Level im Gehirn, da müssen
wir einmal genauer hinschauen, ob sich da eine Depression oder eine Schizophrenie
versteckt. Am besten machen wir mal einen Termin für den
Magnetresonanztomographen.“
Sprecherin:
Der Arzt würde den Patienten ein Bild des Gehirns aufnehmen. Ein Bild, das dann
vergleichbar wäre mit dem Röntgenbild der Lunge eines hustenden Patienten. Was
ist es jetzt? Parkinson, Alzheimer, Schizophrenie, Depression? Vielleicht sogar eine
neue, bis dato unbekannte Art der Depression?
O-Ton Jonathan Roiser / Übersetzer:
Unsere Idee, und die ist international sehr populär, ist, dass es wenig Sinn hat, sich
die Depression als ein einzelnes Leiden vorzustellen, so wie etwa Asthma eine
einzelne Krankheit ist. Weil wir die Depression heute nicht anhand der
verursachenden biologischen Prozesse definieren. Wir definieren sie anhand der
Symptome.
Sprecherin:
Die Folgen eines solchen Umdenkens sind unabsehbar. Denn sollte man sich dafür
entscheiden, dass psychische Leiden nichts als Hirndefekte sind, wird es dann
künftig noch psychische Erkrankungen wie Depression und Schizophrenie im
heutigen Sinn geben? Oder würden Vertreter des Gesundheitssystems sie mit
Verweis auf ihre hirnstofflichen Grundlagen wegdefinieren und sie durch andere,
heute noch unbekannte Krankheiten ersetzen? Mit welchen Folgen für die
Betroffenen? Würden wir beispielsweise Menschen mit neurologischen
Auffälligkeiten, aber ohne psychische Symptome künftig noch als krank betrachten?
Und Menschen ohne neurologische Symptome aber mit Anzeichen der Depression
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oder Schizophrenie als gesund, sodass ein Arzt dann nur schulterzuckend sagen
könnte:
Zitator:
„Von meiner Warte aus fehlt Ihnen überhaupt nichts, schlafen Sie sich mal richtig
aus, dann wird es schon.“
Sprecherin:
Es kann aber auch ganz anders kommen. Die Forscher könnten endlich die
neuronalen Grundlagen psychischer Leiden aufklären und sie erfolgreich
behandelbar machen. In der gleichen Weise, wie die Entdeckung der Bakterien zur
Entwicklung des Penicillins führte, das die bis dahin tödliche Schwindsucht –
Tuberkulose – heilbar machte. Dann könnten Mediziner künftig psychische
Störungen behandeln, wie sie es sich heute in ihren kühnsten Träumen nicht
vorzustellen wagen.
Zitator:
„Es geht Ihnen nicht gut? Schlapp, antriebslos, Selbstmordgedanken? Aber nicht
doch! Hier, nehmen sie diese Pille. Nein, keine Nebenwirkungen. Sie müssen sie
auch nicht regelmäßig einnehmen. Eine reicht. Sie werden sehen, gleich geht es
Ihnen wieder besser.“
Sprecherin:
Solche Entwicklungen stehen und fallen mit der Forschungsfrage, an der Camilla
North, ihr Professor Jonathan Roiser und viele Tausend andere Hirnforscher weltweit
arbeiten. Die Frage lautet: Kann man bildgebende Verfahren aus der Hirnforschung
zur Diagnose psychischer Leiden einsetzen? Kann man jemandem den Schädel
durchleuchten und anhand objektiver und eindeutiger Kriterien im Gehirn erkennen,
ob dieser Mensch an einer Depression oder Schizophrenie leidet? Ganz so, wie man
ein Bein röntgt und eindeutig erkennt, ob es gebrochen ist oder nicht?
Ulman Lindenberger, Direktor des „Max Planck Instituts für Bildungsforschung“:
O-Ton Ulman Lindenberger:
Es gibt generell eine Entwicklung weg von einer Klassifikation psychischer Störungen
anhand von äußerlichen Kriterien, hin zu Verständnis der psychischen Störung auf
Grundlage der neuronalen Mechanismen. Und die Hoffnung besteht darin, dass wir
dann auch über eine genauere Diagnose zu einer passgerechteren Therapie
gelangen.
Sprecherin:
Allein zur Erforschung dieser einen Frage – lassen sich psychische Leiden mit den
Methoden der Hirnforschung sicher diagnostizieren? – hat das „Max Planck Institut
für Bildungsforschung“ in Berlin, gemeinsam mit dem Londoner University College
ein Forschungszentrum gegründet. Das „Center for Computational Psychiatry and
Aging Research“ – das Zentrum für rechnerintensive Psychiatrie und
Altersforschung.
Koordinator auf deutscher Seite ist Ulman Lindenberger:
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O-Ton Ulman Lindenberger:
Wir haben also Signale im Gehirn und können diese Signale im Gehirn in Beziehung
setzen zu psychischen Störungen oder zum Risiko für psychische Störungen. Und
ich glaube nicht, dass auf diese Weise die Messung des Gehirns die Messung des
Verhaltens ersetzen wird, sondern es geht darum, dass wir beide Analyseebenen
uns gleichzeitig anschauen und verstehen, wie sie miteinander zusammenhängen.
Sprecherin:
Längst nicht jedes psychische Leiden ist eine anerkannte Krankheit. Beispiel: Burnout. Zwar leiden immer mehr Menschen darunter und Ärzte diagnostizieren es
anhand anerkannter Symptome, wie emotionale Erschöpfung, Depersonalisierung
und verstärktem Erleben von Misserfolg, aber auf der offiziellen Abrechnung der
Ärzte an die kassenärztlichen Vereinigung taucht Burn-out nicht auf. Denn nicht das
Leiden eines Menschen bestimmt, was eine Krankheit ist.
Maßgeblich für Ärzte ist eine für Deutschland angepasste, von der
Weltgesundheitsorganisation, der WHO, erstellte Liste, die „internationale statistische
Klassifikation von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“, genannt ICD10. Was hier aufgeführt ist, gilt offiziell als Krankheit. Was hier nicht vorkommt, gibt
es – gesundheitspolitisch – nicht. Und was in der Liste steht, haben –
verwaltungstechnisch – alle Betroffenen gleich: Ob gebrochenes Bein, Tuberkulose
oder Depression, Varianten und Abweichungen sind nicht vorgesehen, lediglich
verschiedene Ausprägungen innerhalb ein und desselben Symptomkatalogs. Selbst
dann wenn diese Festlegungen der Wirklichkeit widersprechen. Jonathan Roiser:
O-Ton Jonathan Roiser / Übersetzer:
Wenn sie zwei Patienten haben und beide sagen, sie fühlen sich depressiv, ist das
nur eine sehr, sehr vage Beschreibung. Beide müssen nicht die gleichen
Stimmungen und Emotionen haben. Nicht einmal die gleiche Art von Depression.
Sogar auf der Ebene eines einzelnen Symptoms kann es sein, dass ihr Gefühl, ihre
subjektive Depression in vollkommen unterschiedlichen Arealen des Gehirns
hervorgerufen wird. Das ist absolut möglich.
Sprecherin:
Zu jeder aufgelisteten Krankheit verzeichnet die WHO einen Katalog verschiedener
Symptome. Oft genug besteht die ärztliche Kunst darin, das persönliche Leiden eines
konkreten Patienten mit den Einträgen dieser Liste in ungefähre Übereinstimmung zu
bringen. Wenn ein Patient also über emotionale Erschöpfung klagt, sucht der
Mediziner im Geiste ein glaubwürdiges Symptom im Katalog auf und gibt dem
Ganzen einen Namen. Aus Burn-out wird so dann beispielsweise ein „Problem in
Bezug auf die Lebensführung“. Was der Arzt behandeln und abrechnen darf. Im ICD10, der Liste aller Krankheiten, aufgeführt unter Punkt Z 73. Schizophrenie findet sich
unter F 20. Depression unter F 32.
In der medizinischen Praxis muss ein Diagnoseverfahren zwei Kriterien erfüllen: Es
muss relevante von irrelevanten Symptomen trennen. Und es muss eindeutig auf
eine dahintersteckende Krankheit verweisen. Bei einer Depression stehen unter
anderem folgende Symptome:
Zitator:
Gedrückte Stimmung, Verminderung von Antrieb und Aktivität, von Fähigkeit zur
Freude, von Interesse und die Konzentration. Ausgeprägte Müdigkeit mit
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Schlafstörungen, verminderter Appetit. Schuldgefühle oder Gedanken über eigene
Wertlosigkeit. Gewichts- und Libidoverlust.
Sprecherin:
Die Intensität der einzelnen Symptome spielt keine Rolle, allein ihre Anzahl. Bei bis
zu zwei Symptomen gilt der Mensch als gesund. Ab drei Symptome ist man
depressiv. Und je mehr Symptome auftreten, umso depressiver. Mit der Gewichtung
innerhalb des Symptomkatalogs will die Gesundheitsadministration individuelle,
geschlechtliche und kulturelle Unterschiede erfassen. Während beispielsweise in
Europa und Nord-Amerika eine Depression häufig mit Selbstmordgedanken
einhergeht, zeigt sie sich in Asien öfter durch körperliche Schmerzen. In der auf
Deutschland angepassten Liste aller Symptome kommen Schmerzen wiederum gar
nicht vor.
Sprecher:
Mit Schmerzen fängt auch die Geschichte der asiatisch-stämmigen Sophia Miller an,
einer Mittdreißiger-Buchhalterin in einer britischen Werbeagentur, die ihren richtigen
Namen nicht sagen möchte. Eine Scheidung, eine erkrankte Mutter und plötzlich –
weshalb nur? – schmerzten ihr Schultern und Nacken so sehr, dass sie kaum noch
aus dem Bett kam. Ihr Hausarzt diagnostizierte ein unspezifisches Stresssymptom.
Damit konnte er sie an einen Psychotherapeuten überweisen.
O-Ton Sophia Miller / Übersetzerin:
Mein Arzt sprach nie von einer Depression. Er verschrieb mir etwas fürs
Stressmanagement, weil mir die Schultern und der Nacken so wehtaten, damit ich
lerne, wie ich diese Schmerzen mental kontrollieren kann. Also jedes Mal, wenn ich
die Schmerzen fühle, kann ich sie mir mental wegdenken.
Sprecher:
Sophia Millers Psychotherapeut achtete in ihren Schilderungen hingegen auf die
Symptome einer Depression, die er ihr dann auch attestierte – etwas, was sie bis
heute noch nicht aussprechen mag.
O-Ton Sophia Miller / Übersetzerin:
Es war September, vielleicht – ich glaube August oder September. Ich ging zu einem
Therapeuten. Und der sagte – sie wissen schon.
Sprecherin:
Wie sicher kann das Patientengespräch als Diagnoseinstrument sein, wenn
Patienten wie Sophia Miller Symptome beklagen, die offiziell nicht zum Krankheitsbild
passen? Wie weit kann sich ein Arzt überhaupt auf das Wort seines Patienten
verlassen? Und was kann die Hirnforschung heute gegen solche diagnostischen
Unsicherheiten setzen? Jonathan Roiser:
O-Ton Jonathan Roiser / Übersetzer:
Wir könnten Mustern kartieren, die zu uns zeigen, diese Schaltkreise im Gehirn
arbeiten bei weiten nicht so gut wie sie sollten. In einem Fall. Und im Fall einer
anderen Person könnten sich andere Muster dieser Schaltkreise zeigen.
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Sprecherin:
Zurück im Labor. Simone Collins ist keine Patientin, sondern Studentin aus einer
gesunden Kontrollgruppe. Camilla North und ihr Doktorvater Jonathan Roiser haben
sie für einen Test in den Magnetresonanztomographen, kurz MRT, geschoben. Von
ihrem Schreibtisch mit Computer, Mikrophon und Lautsprecher im Nebenraum gibt
ihr Camilla North die letzten Instruktionen.
In der Röhre des Magnetresonanztomographen herrscht ein gleichmäßiges
Magnetfeld. Es verzerrt sich, wenn die Forscher einen Menschen hineinschieben.
Das kann die Technik heute nur ungenügend ausgleichen. Zudem misst ein
Magnetresonanztomograph nicht direkt die Aktivitäten der Nervenzellen, sondern
indirekt, über den Blutfluss. Den nehmen Hirnforscher dann als Maß für die
Hirnaktivität. Um beide Fehlerquellen, verzerrtes Magnetfeld und indirekte Messung,
zu minimieren, behelfen sich die Forscher, indem sie Durchschnittswerte bilden.
O-Ton Camilla North / Übersetzerin:
Als Daten bekomme ich von der Versuchsperson die Struktur ihres Gehirns und den
Blutfluss während jeder Aufgabe, die sie löst. Was ich nicht mache ist, dass ich den
Blutfluss von einer einzelnen Versuchsperson untersuche. Ich bilde
Durchschnittswerte und die nehmen wir als Maß für die neuronale Aktivität. Ich bilde
also den Durchschnitt aller Versuchspersonen und hoffe, es werden sechzig sein.
Die Werte dieser einen Versuchsperson hier sind dann Teil dieses Durchschnitts.
Sprecherin:
In einer Durchschnittsrechnung verschwinden zufällige Reaktionen des Gehirns mit
ihrem wahllosen Auf und Ab in den Messungen. Die bedeutsamen Daten bleiben
nicht nur übrig, sie verstärken sich sogar. Hinterher, so die Argumentation der
Hirnforscher, hat man das Wichtige klar und deutlich im Bild, wenn auch nur im
mathematischen Mittel. Von diesem Mittelmaß neuronaler Aktivitäten können die
Forscher jedoch nur auf allgemeine Strukturen des Gehirns schließen. Etwa darauf,
welche neuronalen Strukturen für die Entscheidungsfindung eines Menschen von
Bedeutung sind. Aber nicht, welche exakten neuronalen Strukturen bei einem
einzelnen, konkreten Menschen auf welche Weise aktiv werden. Auch wenn
Darstellungen ihrer Ergebnisse als bunte Bilder einzelner, individueller Gehirne,
etwas anderes suggerieren.
O-Ton Jonathan Roiser / Übersetzer:
Hier auf diesem Bild in meinem Computer können sie den Hotspot hier vorn im
Gehirn sehen. Er liegt noch im präfrontalen Kortex, es ist aber ein Unterareal. Das
unterscheidet sich in einer Gruppe depressiver Patienten von dem nicht depressiver
Menschen. Es sieht wirklich sehr unterschiedlich aus.
Sprecherin:
Die bunten Hirnbilder sagen zwar etwas über die Funktionsprinzipien der kleinen
grauen Zellen aus, aber nichts über einzelne Menschen, also nichts über das
konkrete Individuum. Bei ihren Forschungen zur Frage, ob sich aus bildgebenden
Verfahren der Hirnforschung Diagnoseinstrumente für psychische Leiden herleiten
lassen, müssen die Forscher weg von den prinzipiellen Arbeitsweisen des Gehirns
und hin zu individuellen Reaktionen, glaubt Ulman Lindenberger.
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O-Ton Ulman Lindenberger:
Wir sind noch nicht so weit bei der Vorhersage des Verhaltens einzelner Menschen.
Worum es also generell geht ist, dass wir Methoden und Theorien entwickeln
müssen, die dem einzelnen Menschen in seiner Entwicklung besser gerecht werden,
also herauszukriegen, wie ein einzelner Mensch tickt sozusagen und wie wir, wenn
wir ihn heute erfassen, Aussagen darüber machen können, wie er sich in Zukunft
entwickeln wird.
Sprecherin:
Mit manchen Methoden können die Forscher heute schon herausbekommen, was
einem konkreten Menschen im Kopf herumgeht. Am „Deutschen Institut für
Ernährungsforschung“ in Nuthetal bei Berlin sind Wissenschaftler in der Lage, aus
dem Elektro-Enzephalogramm eines Menschen herauszulesen, welchen Geschmack
er gerade auf der Zunge hat.
Weshalb sollten sie dann in London, Berlin und anderen Zentren der weltweiten
Hirnforschung nicht in den Bilder eines Magnetresonanztomographen erkennen,
welche neuronalen Schaltkreise und chemischen Substanzen die Symptome einer
Depression hervorrufen? Jonathan Roiser jedenfalls ist optimistisch:
O-Ton Jonathan Roiser / Übersetzer:
Vielleicht werden wir in der Lage sein, verschiedene Muster im Gehirn darzustellen,
die uns sagen: Dieser oder jener Schaltkreis arbeitet nicht in der Weise wie er sollte
und eine andere Person könnte andere Muster in diesem Schaltkreis zeigen.
Sprecherin:
Aber ist es so einfach? Gibt es doch Krankheiten – Krebs im Frühstadium – die eine
rigorose Therapie erfordern, auch dann wenn der Patient keinerlei Symptome spürt.
Es gibt andere Leiden – Herzrhythmusstörungen eines Hypochonders – die man auf
keinen Fall direkt behandeln darf. Und wie werden künftig psychische Leiden
behandelt? Soll man in Analogie zu einer Krebserkrankung künftig ein störungsfreies
Hirnbild zeigen? Oder werden, wie bisher, die psychischen geäußerten Leiden
ausschlaggebend sein? Ulman Lindenberger:
O-Ton Ulman Lindenberger:
Klar, immer wenn sie Prognosen machen, haben sie einen Vorhersagefehler. Es
kann gut sein, dass sie aufgrund einer Beobachtung zu einer Vorhersage kommen
und aufgrund einer anderen Beobachtung zu einer anderen und dass die sich
widersprechen. Das ist dann einfach der gegenwärtige Stand der Erkenntnis. Das
Ganze ist natürlich insofern fatal, als da Diagnosen dranhängen.
Sprecherin:
Dazu kommt, dass sich im Spannungsfeld aus Gesundheitsverwaltung, Ärzteschaft
und Politik krankheitsbestimmende Symptome permanent verändern. Bei einer
Depression beispielsweise kennt man den sogenannten Trauerausschluss. Es ist
ganz natürlich, in der Trauer um einen verstorbenen Angehörigen, Symptome der
Depression zu zeigen. Aber für wie lange? Früher einmal gab es das Trauerjahr,
zwölf Monate. Doch der Zeitraum verkürzt sich. In den USA sind es heute nur noch
ein paar Wochen. Wer also nach 35 Ehejahren mehr als sechs Wochen um seinen
verstorbenen Partner trauert, gilt dort schon als krank.
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Der Pariser Psychiater Bruno Falissard leitet am „Institut national de la santé et de la
recherche médicale“ in Paris eine Forschungsgruppe, die unter anderem die
Entwicklung von Persönlichkeitsstörungen bei Jugendlichen erforscht. Er steht
solchen Entwicklungen der Hirnforschung skeptisch gegenüber.
O-Ton Bruno Falissard / Übersetzer:
Stellen sie sich vor, Depression würde im Zusammenhang mit dem Neurotransmitter
Dopamin stehen. Und stellen sie sich auch vor, ich hätte in meinem Smartphone eine
App, die den Dopaminspiegel misst. Und nun stellen Sie sich bitte vor, Sie sind
depressiv, kommen zu mir und sagen: Uuuahh, mir geht“s so schlecht. Ich denke,ich
bringe mich um. Und ich antworte: Vielleicht haben sie ja eine Depression. Ich
nehme also mein Smartphone, mache ein Bild von ihnen und diagnostiziere: Sie
haben ein Problem mit ihrem Dopamin. Ich gebe Ihnen mal ein Medikament.
Kommen Sie bitte in drei Wochen wieder.
Sprecherin:
Verlassen sich Ärzte dann zukünftig ausschließlich auf Laborwerte? Wie sich bei
anderen Krankheiten die Spannung zwischen Hirnforschung und unspezifischen
Symptomen aufgelöst hat, lässt sich gut am Beispiel Parkinson zeigen.
Sprecher:
Erstmals 1817 vom englischen Arzt und Apotheker James Parkinson als
Schüttellähmung beschrieben, diagnostizierten sie Ärzte anhand von vier
wesentlichen Symptomen. Die Bewegungen verlangsamen, die Muskeln versteifen
sich, tremorartiges Zittern, Lauf- und Haltungsstörungen. Diese Krankheitszeichen
geben Ärzten noch heute erste Hinweise. Die endgültige Bestätigung erhalten sie
jedoch durch hirnanatomische Veränderungen.
Sprecherin:
Kann man die Bewegungsstörungen der Parkinson-Krankheit mit den psychischen
Leiden einer Depression vergleichen? Nein, sagt Bruno Falissard:
O-Ton Bruno Falissard / Übersetzer:
Drei Wochen später kommen Sie wieder. Ich frage: Na, wie geht“s Ihnen. Dann
nehme ich mein Smartphone und diagnostiziere: Ihr Dopamin ist wieder okay. Sie
sind vollkommen gesund. Trotzdem sagen Sie, aber ich fühle mich schlecht, ich
denke immer noch daran, mich umzubringen. Wer hat jetzt recht? Sie? Oder mein
Smartphone. Per Definition Sie, weil Sie mein Patient sind.
Sprecherin:
Ob es tatsächlich so kommen wird, kann heute niemand sagen. Beispiel: Alzheimer.
Sprecher:
Als 1906 der Psychiater Alois Alzheimer die später nach ihm benannte Krankheit
beschrieb, sprach er noch von „seniler Demenz“. Heute unterscheiden Mediziner
sauber zwischen einer Alzheimer Demenz, Vaskulären Demenz, Frontotemporalen
Demenz, Morbus Pick und weiteren Demenzformen. Zur Alzheimer Demenz zählt nur
jene, bei der das Leiden unter anderem aufgrund vermehrten Absterbens von
Hirnzellen hervorgerufen wird. Und nicht durch Durchblutungsstörungen, wie bei
anderen Demenzformen.
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Sprecherin:
Medizinisches Wissen um die Ursachen von Krankheiten führen nicht zwangsläufig
zur Entwicklung wirksamer Medikamente – wie Alzheimerpatienten leidvoll erfahren.
Aber auch Bruno Falissard gesteht ein, dass in der Behandlung depressiver
Patienten längst nicht alles zum Besten steht.
O-Ton Bruno Falissard / Übersetzer:
Das größte Problem heute ist, dass wir den meisten depressiven Patienten
überhaupt keine Hilfe anbieten können. Weil wir nichts haben, das ihnen hilft. Ich
schätze, bei etwa 30 bis 50 Prozent unserer Patienten haben die vorgeschlagenen
Behandlungen nur eine sehr eingeschränkte Effizienz.
Sprecherin:
Im Fall der Alzheimerkrankheit hat die Hirnforschung aber auch nicht dazu geführt,
dass Mediziner und behandelnde Ärzte ausschließlich anatomische Merkmale zur
Diagnose heranziehen. Bisherige Auffälligkeiten geben ihnen auch heute noch
Hinweise auf diese Erkrankung. Warum also sollte es anders kommen, wenn
Hirnforscher psychische Leiden wie etwa eine Depression auf ihren Bildern erkennen
können?
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