Z E I T U NG F Ü R D E U T S C H LA N D Freitag, 16. Januar 2015 · Nr. 13 / 3 D 2 Tote bei Einsatz gegen Islamisten in Belgien now. BRÜSSEL, 15. Januar. Bei einer Polizeiaktion in der ostbelgischen Stadt Verviers sind am Donnerstagabend offenbar zwei mutmaßliche Terroristen erschossen und ein weiterer verletzt worden. Wie belgische Medien berichteten, soll es sich bei den Toten um Islamisten handeln, die einen Terroranschlag in Belgien geplant haben sollen. Wie belgische Medien berichteten, sollten eine Reihe von Personen festgenommen worden sein, die dem islamistischen Milieu zugerechnet werden. Angeblich sollen darunter mehrere Dschihadisten sein, die zuvor in Syrien gekämpft hatten und kurz zuvor nach Belgien zurückgekehrt waren. In Brüssel soll es am Abend zu Haussuchungen gekommen sein. Angehörige der belgischen Sicherheitskräfte seien in Verviers nicht verletzt worden, hieß es am Abend. Augenzeugen des Zwischenfalls in der östlich von Lüttich und unweit der deutschen Grenze gelegenen Stadt berichteten von mehreren Detonationen und Schüssen in der Nähe des Gerichtsgebäudes der Stadt. Die Polizeiaktion habe am frühen Abend begonnen und rund eine Viertelstunde gedauert. Die belgische Regierungsspitze beriet am Abend über mögliche Konsequenzen des Zwischenfalls. Erwartet wurde, dass die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden. HERAUSGEGEBEN VON WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER, HOLGER STELTZNER Gewaltiger Absturz Das Lebensprinzip der Demokratie Von Jasper von Altenbockum orbert Lammert und Angela Merkel haben im Bundestag alles N gesagt, was zum Terror im Namen des Ziemlich turbulent – Die Schweizerische Nationalbank hat am Donnerstag völlig überraschend den Wechselkurs freigegeben. Der Schweizer Franken wertete im Anschluss um etwa 15 Prozent gegenüber dem Euro und anderen Währungen auf. Ein Euro kostete damit kurzzeitig nur noch 78 Rappen. Es kam zu hef- F. A. Z. im Internet: faz.net tigen Marktturbulenzen. Der Schweizer Aktienindex SMI sackte um bis zu 14 Prozent ab. Der Euro sank zum Dollar auf den tiefsten Stand seit 2003. Die Schweizer Tourismus- und Exportindustrie zeigte sich entsetzt, da Schweizer Produkte und Urlaub in der Schweiz für Ausländer nun teurer werden. Seite 27 Foto Reuters Islam in Deutschland gesagt werden musste. Beide Reden lebten davon, dass sie sich nicht in die einfache Formel flüchteten, der Islamismus habe nichts mit dem Islam zu tun. Damit rückten Merkel und Lammert deutlich davon ab, was unmittelbar nach den Anschlägen von Paris gesagt worden war und was befürchten ließ, die Debatte nehme den rituellen, tabubeladenen Verlauf wie so viele IslamDebatten zuvor. Die Kanzlerin stellte das dadurch klar, dass sie an die Geistlichkeit der Muslime in Deutschland appellierte, womit vor allem die Imame gemeint sein dürften, berechtigten Fragen nicht länger auszuweichen: Welcher Islam soll es sein? Warum wird im Namen Allahs gemordet, geknebelt, unterdrückt – und zwar nicht nur von Islamisten? Zwar sagte Merkel das nicht, aber es war die Quintessenz ihrer Rede, dass ohne Antworten auf diese Fragen der Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, eine hohle Phrase bleiben muss: schön fürs multikulturelle Poesiealbum, aber ohne Konsequenzen für die politische Gestaltung eines Landes, das seine Verfassung nicht in den Wind schreiben will. Sind Imame und Muslimverbände in Deutschland auf diese Debatte vorbereitet? Danach sieht es nicht aus. Viele Imame können an der deutschen Öffentlichkeit schon mangels Sprachkenntnissen nicht teilnehmen. Die Verbände wiederum sind organisatorisch überfordert, repräsentieren nur einen Bruchteil der Muslime und versprühen nicht gerade ein Staats- und Demokratieverständnis, das Angela Merkel in ihrer Rede als „Lebensprinzip“ einer Gesellschaft pries, das die Religion achtet, aber nicht zum Wachhund ihrer Werte und Gesetze machen will. Die Kanzlerin richtete sich damit aber nicht nur an die Muslime. Auch den „stillen Helden unseres Lebens“, den Engagierten in allen Institutionen der Demokratie, des Sozialstaats und der Sicherheit, die sie lobte, fehlt es an Öffentlichkeit. Das war sicherlich auch als Seitenhieb auf die radikale Kritik gemeint, die selbst aus der Mitte der Gesellschaft an diesen Institutionen geübt wird – nicht nur von Pegida. Ohne die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, die sich wahrlich nicht nur darin äußert, Karikaturen zu zeichnen, ist diese Kritik eine Kritik von Spielverderbern. Sie haben nicht verstanden, dass Demokratie erkämpft werden muss – jeden Tag. Ende der Illusionen Heute Von Johannes Ritter Merkel: Muslimische Geistlichkeit muss Verhältnis des Islams zur Gewalt klären Werbung vor Kakerlaken Lebensmittelhersteller scheuen sich längst nicht mehr, ihre Produkte im Umfeld des „Dschungelcamps“ anzupreisen. Wirtschaft, Seite 26 Papst trifft Klimawandel Auf den Philippinen ist die Begeisterung über den Besuch Franziskus’ riesig. Er sucht auch Opfer des Taifuns Haiyan auf. Politik, Seite 5 Eine Philharmonie für alle Paris eröffnet sein prachtvolles neues Konzerthaus bewusst im Problemviertel des östlichen Stadtrands. Feuilleton, Seite 11 „Terroristischer Anschlag in Deutschland nicht auszuschließen“ / F.A.Z.-Gespräch F.A.Z. BERLIN, 15. Januar. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die „muslimische Geistlichkeit“ aufgefordert, das Verhältnis des Islams zur Gewalt zu klären. In einem Gespräch mit dieser Zeitung sagte sie, viele Menschen zweifelten daran, dass man der Behauptung noch folgen könne, Mörder, die sich auf den Islam beriefen, hätten nichts mit ihm zu tun: „Ich halte eine Klärung dieser berechtigten Frage durch die Geistlichkeit des Islams für wichtig und dringlich.“ Merkel sagte, es werde alles getan, um einen terroristischen Anschlag wie in Paris zu verhindern. „Völlig ausschließen können wir einen solchen Anschlag aber auch in Deutschland nicht.“ Die Kanzlerin äußerte, sie wisse, dass der Islam derzeit viele Deutsche verunsichere. Das lie- ge vielleicht auch daran, dass „wir zu wenig über den Islam wissen“. Die CDU-Vorsitzende rief die Christen in Deutschland zur „Stärkung der eigenen Identität“ dazu auf, „noch mehr und selbstbewusst über ihre christlichen Werte zu sprechen und ihre eigenen Kenntnisse ihrer Religion zu vertiefen“. Die Gefahr einer Islamisierung Deutschlands sehe sie nicht. In ihrer Regierungserklärung im Bundestag warnte Merkel vor einer Diskriminierung der Muslime in Deutschland. Sie wiederholte die Äußerung des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff, der Islam gehöre auch zu Deutschland. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hatte zuvor zum Dialog zwischen Christen, Juden und Muslimen aufgefordert. „Unser Gegner ist nicht der Islam, sondern der Fanatismus, nicht Religion, sondern Fundamentalismus“, sagte er. „Die gutgemeinte Erklärung, man dürfe den Islam nicht mit dem Islamismus verwechseln, der religiös begründete Terrorismus habe mit dem Islam nichts zu tun, reicht nicht aus“, fügte er an. Im koalitionsinternen Streit über die Vorratsdatenspeicherung kündigte Merkel Unterstützung für das Bemühen an, die EU-Kommission solle eine neue Richtlinie vorlegen, die in deutsches Recht „umzusetzen“ sei. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann mahnte zu Gelassenheit, versicherte aber, die SPD sei gesprächsbereit. Die Fraktionsvorsitzenden der Grünen, Anton Hofreiter, und der Linkspartei, Gregor Gysi, lehnten dieses Vorhaben ab. (Siehe Seiten 2 und 3.) Den Euro festigen Fehlentwicklungen in einzelnen Ländern dürfen die Euro-Gemeinschaft nicht belasten. Reichen die Regeln? Wirtschaft, Seite 18 Deutsche Wirtschaft wächst kräftiger als erwartet Niedrigste Arbeitslosenquote seit der Wiedervereinigung / Mehr Erwerbstätige denn je rike. BERLIN, 15. Januar. Die deutsche Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um 1,5 Prozent gewachsen. Das teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag in Berlin mit. Damit legte das Bruttoinlandsprodukt stärker zu als erwartet. Auch die Bundesregierung hatte zuletzt mit nur 1,2 Prozent Wachstum gerechnet, denn nach einem guten Jahresbeginn hatte sich die Konjunktur im Sommer deutlich schwächer entwickelt. Zum Jahresende aber stabilisierte sich die Lage wieder. Motor der Entwicklung war vor allem der Konsum im Inland, der 0,8 Prozentpunkte zum Wachstum beitrug; die Investitionen in Maschinen und Bauten sorgten für 0,3 Prozentpunkte. Der Export legte trotz außenpolitischer Turbulenzen mit 3,7 Prozent etwas stärker zu als der Import mit 3,3 Prozent. Der Außenhandelsüberschuss steuerte damit 0,4 Prozentpunkte zum Wachstum bei. Gut entwickelt hat sich der Arbeitsmarkt: Mit 42,7 Millionen Erwerbstätigen verzeichneten die Statistiker einen Höchststand. Die Zahl der Arbeitslosen sank um 3,5 Prozent auf 2,1 Millionen, was einer Arbeitslosenquote von 4,7 Prozent entspricht – der niedrigsten seit der Wiedervereinigung. Dabei hatten nicht nur mehr Menschen einen Arbeitsplatz, sie verdienten auch mehr Geld, was zusammen mit den niedrigeren Ölpreisen den Konsum anheizte: Die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer stiegen um 2,7 Prozent. Netto fiel der Zuwachs mit 2,4 Prozent wegen der gestiegen enSozialabgaben und Lohnsteuern geringer aus. Wenn sich der Arbeitsmarkt gut entwickelt, profitiert über steigende Steuereinnahmen und Sozialbeiträge auch die öffentliche Hand: Die Statistiker konnten zum dritten Mal hintereinander einen gesamtstaatlichen Finanzierungsüberschuss vermelden. Nach den 0,1-ProzentÜberschüssen der Jahre 2013 und 2012 waren es dieses Mal sogar 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Einen höheren Überschuss hatte es seit der Wiedervereinigung nur im Jahr 2000 gegeben – und damals lag das an den einmaligen Erlösen aus den Versteigerungen von UMTS-Frequenzen. 2014 erwirtschafteten Bund, Kommunen und Sozialversicherungen Überschüsse – den höchsten mit 7,3 Milliarden Euro der Bund. Die Länder wiesen dagegen ein Defizit aus. (Siehe Wirtschaft, Seiten 17 und 19.) Kerry: Verbrechen gegen die Menschlichkeit Ziercke: Habe nicht über Fall Edathy informiert Papst: Es gibt eine Grenze für Satire Gericht lässt Klage Pechsteins zu tos. JOHANNESBURG, 15. Januar. Der amerikanische Außenminister John Kerry hat die Massaker der Terrororganisation Boko Haram in Nigeria als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft. Es handele sich um Gewalttaten gegen Unschuldige, sagte Kerry am Donnerstag. Die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ hatte Satellitenaufnahmen der Region Baga vor und nach dem Angriff von Boko Haram veröffentlicht. Demnach wurden dort nahezu 4000 Gebäude zerstört. (Siehe Seite 5; Kommentar Seite 10.) elo. BERLIN, 15. Januar. Der ehemalige Präsident des Bundeskriminalamtes Jörg Ziercke hat bestritten, den SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Hartmann über Ermittlungen informiert zu haben, die gegen den – inzwischen ehemaligen – SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy laufen. Er habe mit Hartmann nicht über den Fall Edathy gesprochen, versicherte Ziercke am Donnerstag vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages. Edathy hatte vor Weihnachten behauptet, Ziercke habe Hartmann informiert, dieser wiederum ihn, Edathy. Hartmann hatte das bestritten. Edathy hat zugegeben, dass er Bilder nackter Knaben gekauft hatte, allerdings keine verbotenen. (Siehe Seite 4.) bin./bub. HANNOVER/FRANKFURT, 15. Januar. Satire darf nach den Worten von Papst Franziskus nicht alles. „Es gibt eine Grenze, jede Religion hat Würde“, sagte er im Blick auf die Zeitschrift „Charlie Hebdo“. „Jede Religion, die das menschliche Leben, die menschliche Person achtet, kann ich nicht einfach zum Gespött machen.“ Man dürfe den Glauben anderer nicht beleidigen. Mit Blick auf die Debatte über die Abschaffung des Verbots der Bekenntnisbeschimpfung sagte der Präsident des EKD-Kirchenamtes, Hans Ulrich Anke, eine Streichung des Paragraphen sei „kein geeignetes Zeichen der Solidarität mit den Terroropfern in Frankreich“. Andere Stimmen in der EKD sprechen sich für eine Abschaffung aus. (Siehe Seite 10.) chwb. FRANKFURT, 15. Januar. Das Oberlandesgericht München hat die Klage der Eisschnelläuferin Claudia Pechstein gegen die Internationale Eislauf-Union auf Schadenersatz in Höhe von 4,4 Millionen Euro zugelassen. Es erklärte die Schiedsklauseln des Verbands, mit der Sportler vor den Internationalen Sportschiedsgerichtshof Cas gezwungen werden, für unwirksam. Es liege ein Verstoß gegen das Kartellrecht vor. Der Verband missbrauche seine marktbeherrschende Stellung, die Neutralität des Cas sei „grundlegend“ in Frage gestellt. Zugleich ließen die Richter die Revision vor dem Bundesgerichtshof zu. Das Urteil gilt als wegweisend, weil es Sportlern den Gang vor staatliche Gerichte erleichtert. (Siehe Seite 10 und Sport.) „Alle Wünsche sind erfüllt“ Handball-Vizepräsident Hanning will im Gegenzug von der Mannschaft bei der WM in Qatar Ergebnisse sehen. Sport, Seite 31 Singapur bremst Preise Der Stadtstaat hatte über Jahre einen der heißesten Immobilienmärkte der Welt. Das ist erst einmal vorbei. Immobilien, Seite I 1 Briefe an die Herausgeber 2,30 € D 2954 A Seite 7 4<BUACUQ=eacdaj>:q;V;V;l;o Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH; Abonnenten-Service: 0180 - 2 34 46 77 (6 Cent pro Anruf aus dem dt. Festnetz, aus Mobilfunknetzen max. 42 Cent pro Minute). Briefe an die Herausgeber: [email protected] Belgien 3,00 € / Dänemark 23 dkr / Frankreich, Griechenland 3,00 € / Großbritannien 3,00 £ / Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande 3,00 € / Österreich 3,00 € / Portugal (Cont.) 3,00 € / Schweiz 4,80 sfrs / Slowenien 3,00 € / Spanien, Kanaren 3,00 € / Ungarn 780 Ft ie Entscheidung der Schweizerischen Nationalbank (SNB), den D Mindestkurs von 1,20 Franken je Euro aufzugeben, war ein Schock. Der Schweizer Franken schoss in die Höhe, der Euro rauschte in den Keller. Diese Wende markiert ein Ende gleich mehrerer Illusionen: Es ist einer Zentralbank auf Dauer nicht möglich, sich mit Interventionen gegen die Realitäten zu stemmen; wer seine Währung an eine andere bindet, bleibt nicht unabhängig; der Euroraum ist weit davon entfernt, wieder zu einem attraktiven Anlagestandort zu werden; Festkurse gibt es nicht zum Nulltarif. Die Stärke des Schweizer Franken ist vor allem eine Schwäche des Euro. Vor der Krise im Euroraum, wo der nächste große Anleihekauf durch die EZB ansteht und alle Zeichen auf Flutung der Märkte mit Liquidität stehen, suchen Kapitalanleger Zuflucht im sicheren Schweizer Hafen. Das macht den Franken so stark, macht aber die Schweizer auch zu Opfern der Fehlentwicklungen im Euroraum. Der Mindestkurs sollte in dieser Hinsicht das Schlimmste verhüten, band die Schweizerische Nationalbank je- doch auf Gedeih und Verderb an die EZB. Drei Jahre hatte sich die Wirtschaft über die Exporthilfe durch die Nationalbank freuen können; drei Jahre war das Gastgewerbe heilfroh, dass keine noch größere Frankenstärke die Gäste vergraulte. Einen Teil der Zeche dafür zahlten die Bürger in Form von verteuerten Importen in ihr ohnehin außenwirtschaftlich nicht wirklich offenes Land. Der zweite Teil wird kommen, wenn die SNB den aufgetürmten Eurobestand abschreiben muss. Nun versucht sie nur noch, mit Minuszinsen von 0,75 Prozent das Land für Spekulanten etwas weniger attraktiv zu machen – was freilich auch den Bürgern das Sparen und den Unternehmen das Investieren verleidet. Als die Nationalbank im September 2011 den Franken deckelte, hoffte sie auf einen Zeitgewinn, auf dass sich die Krise im Euroraum erledigen und der Aufwertungsdruck nachlassen werde. Nichts dergleichen ist geschehen. Die Schweizerische Nationalbank musste wohl oder übel einsehen, dass es ihre Möglichkeiten übersteigen würde, dem Aufwertungsdruck standzuhalten, der dem Franken damit blüht. Der Ausstieg kam keine Sekunde zu früh. Mehr wert als neun Medaillen Von Christoph Becker eun Medaillen hat Claudia Pechstein bei Olympischen Spielen geN wonnen. Sie alle seien weniger wert, sagte die erfolgreichste deutsche Sportlerin bei Winterspielen, als der juristische Etappensieg vor dem Oberlandesgericht München. Ihr Zug durch die Instanzen, zunächst die Schiedsgerichte des Sports, dann vor die staatlichen Gerichte, dauert inzwischen mehr als fünf Jahre, insofern ist die Erleichterung verständlich, die in ihren Worten zum Ausdruck kommt. Schließlich besteht die Aussicht, am Ende ihres persönlichen Kampfs um Gerechtigkeit nach der wegen vermeintlichen Dopings ausgesprochenen Sperre eine beträchtliche Schadenersatzsumme einklagen zu können. Viel größere Folgen aber hat, dass staatliche Richter von Frau Pechstein gezwungen wurden, die Schiedsgerichtsbarkeit, mit der Sportverbände ihre Streitigkeiten regeln, minutiös zu durchleuchten. Bereits in der ersten Instanz war dabei festgestellt worden, dass die Schiedsvereinbarungen, mit denen die Verbände Sportler auf den Schiedsgerichtsweg zwingen, unwirksam sind. Nun haben die Richter des OLG München diese Auffassung bestätigt und in deutlichen Worten festge- halten, dass die Verbände gegenüber den Athleten ihre marktbeherrschende Stellung missbrauchen. In diesem Urteil schwingt auch eine klare Abgrenzung gegenüber den Schiedsrichtern des Internationalen Sportgerichtshofs Cas in Lausanne mit; vor allem aber gegenüber den Sportfunktionären, die in weiten Teilen über die Besetzung des Cas entscheiden. Sie haben in der Vergangenheit gerne betont, die Schiedsgerichte seien staatlichen Gerichten gleichwertig. Die Richter am Münchner OLG halten jetzt deutlich fest: Das sehen wir anders. Sie wollen die Sportschiedsgerichtsbarkeit nicht zum Einsturz bringen, sie erkennen deren Wert. Schließlich ließe sich anders weltweit gültiges Fair Play im Sport auch nicht durchsetzen. Aber der Reformbedarf ist dringend. Und den Sportlern, und nicht nur Frau Pechstein, senden die Münchner Richter die Botschaft, ihre Rechte gegenüber den Verbänden mutiger durchzusetzen. Damit können Athleten künftig noch deutlich mehr Klauseln in Schiedsvereinbarungen in Frage stellen, mit denen Verbände ihre Macht absichern, etwa, wenn es um Persönlichkeits- und Werberechte geht. Dann könnte der Wert des Münchner Urteils auch beziffert werden.
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