Griechenland: Der Privatisierungsschwindel Der Staat trägt die Kosten, die Käufer sahnen ab ▶ LMd Seite 7 AUSGABE BERLIN | NR. 10966 | 10. WOCHE | 38. JAHRGANG H EUTE I N DER TAZ FREITAG, 11. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,80 AUSLAND | € 2,50 DEUTSCHLAND CDU endlich putschbereit SCHATTENKABINETT Just vor den alles entscheidenden Landtagswahlen räumt Verteidigungsministerin Dr. von der Leyen die letzte Hürde beiseite, um gegebenenfalls ... TITELHELDIN ▶ SEITE 6, 12 WAHLEN ▶ SEITE 4, 5, 14 GRENZEN „Die Men- schen brauchen Hilfe“: Der Künstler Ai Weiwei im überschwemmten Flüchtlingslager in Idomeni ▶ SEITE 3 GO Mensch gegen Ma- schine: Brettspiel-Profis im Duell mit GoogleComputern ▶ SEITE 18 BERLIN „Ich habe an- dere Träume“: Ramona Pop über Grün-SchwarzKoalitionen ▶ SEITE 23 Foto: ap VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Der Düsseldorfer Flughafen bekommt bis auf Weiteres nicht den Namenszusatz „Johannes Rau“. Wie dpa berichtet, verzichtete Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) jetzt auf weitere Initiativen in der strittigen Angelegenheit. NRWMinisterpräsidentin Hannelore Kraft und Geisel hatten vorgeschlagen, den drittgrößten deutschen Airport nach dem langjährigen Landesvater und Bundespräsidenten zu benennen. Im Stadtrat jedoch sind CDU und FDP strikt dagegen. Ihre in der Tat weitaus besseren Gegenvorschläge: JürgenRüttgers-Flughafen oder Jürgen-W.-Möllemann-Airport. Dramatische Wendung in „Deutschland vor dem Super-Sonntag“ („Maischberger“): Ausgerechnet in der „Woche der Wahrheit“ (Zeit) sichert sich „Reserve-Kanzlerin“ Ursula von der Leyen (Spiegel Online) ihren Doktortitel. Was heißt das für „Angela Merkels Schicksalswahl“ („Maischberger“)? Die FAZ wusste schon im Januar: „Merkel läuft die Zeit davon“ Foto: Fabian Bimmer/reuters EZB senkt Leitzins auf null GELD Hunger auf Plastik Europäische Zentralbank gegen Miniinflation. Trump: Währungskrieg FRANKFURT/MAIN dpa/rtr | Die Europäische Zentralbank (EZB) kämpft mit allen Mitteln gegen Miniinflation und Konjunkturschwäche: Die Währungshüter senkten am Donnerstag den Leitzins auf null Prozent. Zugleich pumpt die Notenbank mehr Geld in den Markt und brummt Banken, die Geld bei ihr parken, höhere Strafzinsen auf. Außerdem gibt es neue billige Langfristkredite für Banken. Mit diesem Maßnahmenbündel will die EZB die Kreditvergabe im Euroraum ankurbeln und so Konjunktur und Inflation anschieben. Diese war zuletzt sogar ins Minus gerutscht. An der Börse gab es zunächst ein Kursfeuerwerk. Der Euro verbilligte sich vorübergehend, was prinzipiell den Exportunternehmen hilft. Der umstrittene republikanische US-Präsidentschaftskandi- dat Donald Trump warnte mit Blick auf die EZB-Entscheidung bereits vor einem Währungskrieg. Die weltweiten Abwertungen der Währungen entwickelten sich zur Gefahr für Arbeitsplätze in den USA, sagte Trump. „Alle außer uns tun das.“ Auch die USA könnten ihre Währung abwerten. Besser sei es jedoch, Strafsteuern auf ausländische Produkte zu erheben. ▶ Der Tag SEITE 2 ABFALL Forscher aus Japan entdecken neue Bakterie BERLIN taz | Die Grundlagen für völlig neue Recylingverfahren haben offenbar japanische Wissenschaftler entdeckt. Laut dem Wissenschaftsmagazin Science hat eine Forschergruppe des Kyoto Institute of Technology ein Bakterium entdeckt, das einen Kunststoff aus Erdöl zersetzen kann. Ideonella sakaiensis lagert sich an PET an und zerlegt es mittels zweier Enzyme in ungefährliche Bestandteile. Weltweit werden jährlich etwa 50 Millionen Tonnen Polyethylenterephthalat (PET) hergestellt und zu Flaschen, Kleidung oder Folien verarbeitet. Recycelt wird diese Menge nur zu einem geringen Teil, das meiste gelangt aufgrund fehlender Systeme zur Mülltrennung und -sammlung als Mikroplastik in Flüsse und Meere und schließlich in die Nahrungskette. ▶ Wirtschaft + Umwelt SEITE 8 TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.688 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. Infos unter [email protected] oder 030 | 25 90 22 13 Aboservice: 030 | 25 90 25 90 fax 030 | 25 90 26 80 [email protected] Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90 fax 030 | 251 06 94 [email protected] Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22 tazShop: 030 | 25 90 21 38 Redaktion: 030 | 259 02-0 fax 030 | 251 51 30, [email protected] taz.die tageszeitung Postfach 610229, 10923 Berlin taz im Internet: www.taz.de twitter.com/tazgezwitscher facebook.com/taz.kommune 50610 4 195915 702500 KOMMENTAR VON ANNE FROMM ÜBER DIE ENTSCHEIDUNG DES PRESSERATS D Kein Freibrief für Gedankenlosigkeit er Presserat hat sich entschieden: Die Nationalität oder Religion von Straftätern soll auch weiter nur dann genannt werden, wenn ein „begründeter Sachbezug“ besteht. Besteht er, ist es Abwägungssache, und abwägen ist nicht immer einfach. Aber der Zweck dahinter ist die Mühe wert: Mit der Regelung sollen Minderheiten geschützt und Vorurteile vermieden werden. Aufgenommen hatte der Presserat die Diskussion, weil Medienkritiker nach der Gewalt in der Kölner Silvesternacht behaupteten, Redaktionen hätten die Herkunft der mutmaßlichen Täter bewusst verschwiegen, um die Täter zu schützen und die Öffentlichkeit zu täuschen. Das ist natürlich Quatsch. Der Pressekodex soll nicht die Täter schützen, sondern alle, die aus der gleichen Gruppe stammen wie die Täter. Um im Silvesterbeispiel zu bleiben: Nicht alle Menschen „arabischer und nordafrikanischer“ Herkunft sind Sexualstraftäter. Dieser Verdacht entsteht aber, wenn bei ausländischen Straftätern – und nur bei ihnen – immer ihre Nationalität genannt wird. Wenn die Bild-Chefredakteurin nun behauptet, die Richtlinie des Pressekodexes würde Redaktionen „bevormunden“, ist das übertrieben. Der Paragraf ist kein Gesetz. Er ist eine Verpflichtung, die sich das Gremium aus Journalisten und Gewerkschaften selbst gegeben hat. Sie soll die Redaktionen dazu anhalten, sich vor der Veröffentlichung von Artikeln über die Folgen Gedanken zu machen. Die Chefredakteure, die nun fordern, die Richtlinie abzuschaffen, verlangen einen Freibrief dafür, sich diese Gedanken ersparen zu dürfen. Sie bemühen ein Scheinargument: In einer Zeit, in der Gerüchte schneller durch soziale Medien jagten, als dass sie offiziell bestä- Jede Redaktion trägt Verantwortung, gerade in einer Zeit, in der Häuser brennen tigt werden könnten, sei es die Pflicht von Journalisten, alles zu veröffentlichen, um dem Misstrauen gegenüber Medien vorzubeugen. Natürlich ist es die Pflicht von Journalisten, Gerüchten nachzugehen. Genauso ist es aber ihre Pflicht, in jedem Einzelfall zu entscheiden, ob die Nationalität von Straftätern von öffentlichem Interesse ist. Jede Redaktion, auch der Boulevard, trägt eine publizistische Verantwortung – gerade in einer Zeit, in der Asylbewerberunterkünfte brennen. Diese zu erfüllen gehört zum journalistischen Handwerk. Das unterscheidet sie schließlich von Twitter und Facebook. Flimmern + Rauschen SEITE 17 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN GROSSBRITAN N I EN/ISLAMISCH ER STAAT VOLKSWAGEN Sky News: Daten von 22.000 Dschihadisten Tausende Stellen in Gefahr? LONDON | Der britische Sen- Ehrenrettung für den Harem: Emine Erdoğan Foto: reuters Emine, Frau des neuen Sultans Emine Erdoğan, die First Lady der Türkei, fühlt sich offenbar als alleinige Ehefrau von Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr wohl. So wie ihr Mann mit allen Tricks die Machtfülle früherer Sultane anstrebt und sich nicht ungern als „Sultan“ bezeichnen lässt, hat nun Emine komplementär den Harem wiederentdeckt. Entschieden trat sie am Mittwoch den gängigen Vorteilen moderner Türken über den Harem entgegen. Der, so dozierte die Präsidentengattin, sei gar nichts sexuell Anrüchiges gewesen. Der Harem sei so etwas wie die Palastschule für Frauen gewesen. Hier hätten junge Frauen den Verhaltenskodex der osmanischen Oberschicht erlernt, dazu auch ganz praktische Tätigkeiten wie Nähen und Sticken. Etwas Gesangsunterricht soll wohl auch dabei gewesen sein. Von wegen Sündenpfuhl für sexuelle Spielereien des Sultans. Nichts als orientalische Sexualfantasien ahnungsloser Europäer; der Harem wurde völlig zu Unrecht in der säkularen Republik des Mustafa Kemal Atatürk verunglimpft. Wie ihr Mann versucht nun auch Emine Erdoğan, die mit Recep Tayyip seit Jahrzehnten verheiratet ist und soweit bekannt in monogamer Ehe lebt, aus der vier Kinder hervorgegangen sind, die Rückbesinnung auf das Osmanische Reich anzufeuern. Ihr Gatte scheint dazu auserkoren, das Erbe der Sultane anzutreten. Da er selbst schlecht für die Wiedereinführung des Harems werben kann, unternimmt das nun seine Frau. Mehrehen sind bei vielen AKPFunktionären schon heute Gang und Gäbe. Gesetzlich ist das zwar verboten, aber mit dem Segen eines Imams kann man sich in der Türkei noch eine oder auch zwei jüngere Frauen zulegen. Das ist dann zwar noch kein Harem, aber der ist ja auch dem Sultan vorbehalten. Es ist zwar nicht zu erwarten, das Emine Erdoğan noch zur führenden Sultansmutter in einem Harem wird, ihre Verteidigung der osmanischen Haremskultur zeigt aber, wie in der AKP über die Rolle der Frau gedacht wird. Und das ist gar nicht zum Lachen. Seit Erdoğan regiert, nimmt die Gewalt gegen Frauen kontinuierlich zu und die Anzahl arbeitender Frauen genauso ab. JÜRGEN GOTTSCHLICH Der Tag FREITAG, 1 1. MÄRZ 2016 der Sky News hat nach eigenen Angaben geheime Daten von 22.000 mutmaßlichen Mitgliedern des „Islamischen Staats“ (IS) zugespielt bekommen. Sie seien von einem enttäuschten ehemaligen Kämpfer gestohlen worden, erklärte der Sender. Internationale Experten hegen jedoch Zweifel an der Echtheit der Daten. Sky News zufolge handelt es sich bei den auf einem Speichermedium zugespielten Daten um Bögen mit 23 Fragen, die neue Kämpfer ausfüllen mussten, bevor sie vom IS aufgenommen wurden. Enthalten sind darin neben Namen, Adressen und Telefonnummern auch Angaben zur Kampferfahrung, zum Verständnis der Scharia und zur Blutgruppe. Es soll sich um Daten von Kämpfern aus 51 Ländern handeln. Die Behörden müssten nun genau schauen, inwiefern das Material im Kampf gegen den IS eingesetzt werden könne, sagte eine Sprecherin des britischen Premierministers David Cameron. Sollten die Dokumente echt sein, dürften sie Geheimdiensten dabei helfen, Kämpfern auf die Spur zu kommen, die nach Syrien und in den Irak ausgereist sind. (afp) Laut oder leise? | Der Abgasskandal bei Volkswagen bringt nun auch Tausende Stellen in Deutschland unmittelbar in Gefahr. In den USA, wo die Affäre um manipulierte Diesel emissionen ausgebrochen war, tritt zudem Landeschef Michael Horn überraschend ab. VW setzt nach Informationen aus Konzernkreisen den Rotstift bei einem Teil des Stammpersonals an. Unter den Mitarbeitern im Haustarif soll demnach in den Büroabteilungen außerhalb der Produktion bis Ende 2017 jeder zehnte Job wegfallen. (dpa) WOLFSBURG/HERNDON Etablierte Musiker, frische Jungbands, Pop-Diskurse sowie Interviews mit SängerInnen und Klang-Fricklern: Aufs nächste Konzert einstimmen auf taz.de/musik Laut oder leise? www.taz.de MEDIZI N Ärzte wurden für Studien bezahlt BERLIN | Die Pharmaindustrie zahlt nach einem Medienbericht jährlich etwa 100 Millionen Euro an Ärzte in Deutschland für die Mitarbeit an umstrittenen Studien. Das geht aus einer Datenauswertung von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung mit dem Recherchezentrum Correctiv.org hervor. Die Journalisten hatten alle in Deutschland gemeldeten sogenannten Anwendungsbeobachtungen von 2009 bis 2014 ausgewertet. Durch diese Studien solle der Umsatz bestimmter Mittel gefördert werden (dpa). 0,0000000000000000000000000 WÄHRUNG Verbraucher fürchten um ihre Ersparnisse: Europäische Zentralbank senkt Leitzins erstmals auf null Prozent. Damit will sie die Inflation anheizen und die Wirtschaft ankurbeln. Scharfe Kritik aus Deutschland Was sind Anleihenkäufe? EZB-Turm in Frankfurt am Main: Die Währungshüter wollen der Wirtschaft helfen, treiben aber die Immobilienpreise hoch Foto: Paul Langrock/Zenit VON RICHARD ROTHER BERLIN taz | Wenn die Medizin nicht mehr wirkt, muss die Dosis erhöht werden. Weil die Politik des billigen Geldes bislang weder die Inflation auf die angepeilte Marke von 2 Prozent gehoben noch die Wirtschaft in den Ländern der Eurozone angekurbelt hat, verschärft die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Kurs: Der Leitzins wird um 0,05 Punkte auf erstmals 0,0 Prozent gesenkt. Zugleich wurde der Strafzins für Bankeinlagen von 0,3 auf 0,4 Prozent verschärft. Ferner wird das Anleihenaufkaufprogramm von derzeit 60 Milliarden Euro monatlich auf 80 Milliarden Euro ausgeweitet. An den Börsen sorgte die EZBEntscheidung zunächst für steigende Aktienkurse. „Mit dem heutigen umfassenden Paket geldpolitischer Entscheidungen liefern wir erhebliche Anreize, um den erhöhten Risiken für das EZB-Preisstabilitätsziel entgegenzuwirken“, erklärte EZB-Chef Mario Draghi in Frankfurt am Main. „Die Zinsen werden für eine sehr lange Zeit niedrig bleiben.“ Im Februar lag die Inflation im Euro-Raum bei minus 0,2 Prozent. Fallende Preise – auch Deflation genannt – gelten als gefährlich, weil sich Konsumenten dann in der Hoffnung zurückhalten, Produkte bald noch günstiger zu bekommen. Die Firmen machen dann weniger Gewinn und schieben Investitionen auf. So entsteht eine Abwärtsspirale. Draghi erklärte, die jüngsten Schritte der EZB sollten verhindern, dass es zu sogenannten Zweitrundeneffekten komme, etwa bei den Leitzinsen Was sind Leitzinsen? 2 ■■Was: Leitzinsen sind die wichtigsten Instrumente von Zentralbanken: Dabei handelt es sich um die Zinssätze, zu denen Kreditinstitute mit der Zentralbank Geschäfte machen. Die Banken geben diese Zinsen an ihre Kunden weiter. Floriert die Wirtschaft, bremst die Zentralbank tendenziell die Konjunktur durch hohe Zinsen ab. Bei Flaute senkt sie die Zinsen, damit sich die Unternehmen günstiger Geld bei den Banken leihen können, um zu investieren. ■■Nebeneffekt: Wegen der im Euroraum derzeit extrem niedrigen Leitzinsen tendieren auch die Zinsen für Sparguthaben gegen null. Gleichzeitig steigen die Aktien- und Immobilienpreise, weil Anleger neue Renditeziele suchen. Die EZB hält den Leitzins, zu dem sich Banken bei ihr frisches Geld beschaffen können, bereits seit Jahren niedrig, um die Konjunktur anzukurbeln. Da dieses Instrument nicht wirkt, hat die Zentralbank andere Maßnahmen wie den Strafzins ergriffen. (ksc) 1 6 den letzten vier Wochen auch schon wieder um 40 Prozent gestiegen. „Wirtschaftsreformen sowie die Sanierung von Bankbilanzen werden verschleppt.“ Für die Verbraucher ändert sich durch die EZB-Entscheidung zunächst nicht viel: Ein in Prozent US-Notenbank 5 4 Europäische Zentralbank 3 10. März Leitzins: 0,0 % 0 0,25 - 0,5 % 2006 Quelle: EZB/FED 2011 2016 taz.Grafik: infotext-berlin.de Löhnen. Zugleich sollten sie der Konjunktur helfen. In der deutschen Wirtschaft stieß die EZB-Entscheidung auf Kritik. „Das ist eine gute Nachricht für die Börsianer und für die Schuldenländer im Süden“, sagte der Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, Anton Börner. „Für die deutsche Bevölkerung ist das katastrophal, die Sparer werden enteignet.“ Es handele sich um eine gigantische Umverteilung in Europa von Norden nach Süden. Die EZB-Entscheidung sei unnötig, sagte Michael Kemmer, Hauptgeschäftsführer des deutschen Bankenverbands. „Die Notenbank überzeichnet die Deflationsrisiken.“ Aktuell präge vor allem der Ölpreis die Teuerungsrate. Doch der Ölpreis sei im Jahr 2015 nicht nur um 60 Prozent gesunken, sondern in Was sind Strafzinsen? ■■Was: Die Währungshüter der EZB senkten den sogenannten Einlagensatz erneut von minus 0,3 auf minus 0,4 Prozent. Banken haben eine Art Girokonto bei der Zentralbank. Dort „parken“ sie ihre Geldvorräte. Nun müssen die Geldinstitute einen höheren „Strafzins“ zahlen, wenn sie überschüssiges Geld bei der EZB anlegen. ■■Wozu: Mit dem Schritt will die Notenbank die Institute noch stärker dazu drängen, überschüssige Liquidität in Form von Krediten an die Wirtschaft weiterzureichen, anstatt das Geld auf dem Konto zu bunkern. Damit soll die Konjunktur angefacht werden. Der Zinssatz klingt klein, tatsächlich hat die EZB dadurch zuletzt schon mehrere hundert Millionen Euro eingenommen. ■■Die Kehrseite: Banken holen sich das Geld über erhöhte Gebühren an anderer Stelle zurück vom Kunden. Auch in der Schweiz, Japan, Dänemark und Schweden nutzen Zentralbanken den Strafzins – mit unterschied lichen Erfahrungen. (taz) ■■Was: Seit einem Jahr steckt die EZB bereits 60 Milliarden Euro pro Monat in den Kauf von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren. Diese Summe soll ab April auf 80 Milliarden Euro aufgestockt werden. Nun sollen auch Firmenanleihen aus der Eurozone gekauft werden. ■■Wozu: Die Zentralbank will den Markt noch stärker mit Geld fluten. Mit dem Instrument – QE oder Quantitative Easing genannt – will die EZB erreichen, dass die Renditen für Anleihen der Euroländer fallen. Diese Bonds sollen so für Banken als Investment weniger attraktiv werden. Sie sollen lieber mehr Kredite an Unternehmen vergeben. Die nationalen Notenbanken führen QE durch. ■■Wie viel: Zunächst war es auf 1,14 Billionen Euro angelegt und sollte bis Ende September 2016 laufen. Im Dezember verlängerte es die EZB bis Ende März 2017, wodurch der Gesamtumfang auf 1,5 Billionen Euro anstieg. Nun sollen es sogar 1,74 Billionen Euro werden. (taz) Leitzins von 0,05 Prozent ist nur unwesentlich höher als 0,0 Prozent. Bei einer Sparbucheinlage von tausend Euro beträgt der Unterschied des jährlichen Zinsertrages gerade einmal 50 Cent – für die Katz. Bedeutsam wird die Entscheidung der Zentralbank aber durch ihre hohe Symbolkraft: Sparen lohnt nicht, und zwar auf Dauer! Viele Verbraucher in Deutschland fürchten nun um den Wert ihrer Ersparnisse und ihrer Altersvorsorge. Viele, die Aktien wegen ihrer Schwankungsanfälligkeit meiden, investieren lieber in Betongold – und kaufen sich Immobilien oder bauen diese aus, zumal die Hypothekenzinsen ebenfalls niedrig sind. Was aber oft verschwiegen wird: Weil die Nachfrage nach Immobilien und Bauleistungen in vielen Regionen Deutschlands wächst, steigen die Immobilien- und Baupreise. Entlastungen an der Zinsfront werden für den normalen Verbraucher dadurch aufgefressen. Noch schlimmer sieht es für Mieter in Ballungszentren aus: Weil Investoren nicht wissen, wo sie ihr Geld renditesicher anlegen können, kaufen sie sich in Wohnhäuser ein. Diese gestiegene Nachfrage – Experten warnen bereits vor einer Immobilienblase – treibt die Preise und letztlich die Mieten nach oben. Die Politik des lockeren Geldes fördert diese Entwicklung. Schwerpunkt FREITAG, 1 1. MÄRZ 2016 Flucht TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Während Europas Innenminister an der Abschottung werkeln, stecken Tausende Flüchtlinge im Schlamm von Idomeni fest Weiterbauen an der Festung Europa AUS BRÜSSEL ERIC BONSE Mit kaum verhohlener Freude reagierten die EU-Innenminister am Donnerstag auf die Schließung der Balkanroute. Nach Mazedonien müssten nun auch andere Staaten wie Albanien abgeschottet werden, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière in Brüssel. Streit gab es über den von Kanzlerin Angela Merkel geforderten Flüchtlingspakt mit der Türkei. Die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge betrage „weniger als ein Zehntel der hohen Zahlen im letzten Herbst“, freute sich de Maizière kurz vor den Landtagswahlen in Deutschland. Die „Zeit des Durchwinkens“ sei vorbei, nun werde daran gearbeitet, „dass das so bleibt“. WERTE Merkel- Türkei-Plan oder die Balkanroute dicht machen – Beim Treffen der EU-Innenminister wird deutlich: Hauptsache, die Flüchtlingszahlen gehen zurück De Maizière setzte sich damit von seiner Kanzlerin ab, die die Schließung der Balkanroute kritisiert hatte. Die „einseitige Entscheidung“ Österreichs senke zwar die Flüchtlingszahlen in Deutschland, bringe aber Griechenland in eine „schwierige Situation“, sagte Merkel. Auch Premier Alexis Tsipras protestierte gegen die Schließung und forderte sofortige EU-Hilfen. Doch die lassen auf sich warten. Vor allem am Grenzort Idomeni wird die Lage immer schlechter. Von dort kommen nun genau die schlimmen Bilder verzweifelter Menschen im Schlamm, die die EU bisher vermeiden wollte. Doch das scherte die Innenminister kaum. Sie arbeiten weiter am Ausbau der Festung Europa – nun auch in und um Italien. Der italienische Innenminister Angelino Alfano kündigte an, mit Albanien über mögliche Grenzbefestigungen sprechen zu wollen. Es gehe darum, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um illegale Migration zu verhindern, erklärte er in Brüssel. Albanien grenzt an den Nordwesten von Griechenland und gilt deswegen als alternatives Transitland. Von dort aus könnten Flüchtlinge versuchen, mit Schiffen über die Adria nach Italien zu gelangen. Neben der Schließung aller Fluchtwege bereiteten die Innenminister auch die Umsetzung des umstrittenen Deals mit der Türkei vor, den Merkel Anfang der Woche beim EU-Gipfel in Brüssel eingefädelt hatte. Hier war es mit der Harmonie allerdings schnell zu Ende. De Maizière verteidigte zwar den Plan, der Massenabschiebungen von den griechischen Inseln in die Türkei vorsieht. „Griechenland soll die Türkei jetzt schnell als sicheres Drittland anerkennen“, sagte der deutsche Innenminister. Zudem müsse die EU die Türkei zum sicheren Herkunftsland erklären. Beides sind wichtige Voraussetzungen, um Flüchtlinge wie geplant in die Türkei abzuschieben. Die „Zeit des Durchwinkens“ sei vorbei, freute sich Thomas de Maizière kurz vor den Landtagswahlen Doch ausgerechnet aus dem Abschottungsland Österreich kam massive Kritik. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nannte es äußerst fragwürdig, wenn die Türkei die EU mit einer Wunschliste konfrontiere und Visabefreiungen in Aussicht gestellt bekomme, nachdem kurz zuvor eine regierungskritische Zeitung unter Zwangsverwaltung gestellt worden sei. „Da stelle ich mir schon die Frage, ob wir unsere Werte letztendlich über Bord werfen.“ Auch der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid Raad al-Hussein, äußerte sich besorgt, besonders wegen der möglichen „kollektiven und willkürlichen Abschiebungen“ in die Türkei. Sie seien „illegal“, sagte er vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf. „Die einzige Lösung ist, menschlich zu bleiben“ KRITIK Der bekannte chinesische Künstler und Intellektuelle Ai Weiwei ist derzeit in Idomeni. Die Schließung der Balkanroute hält er für einen fatalen Fehler taz: Herr Ai, Sie haben gestern das Lager in Idomeni besucht. Schildern Sie uns Ihre Eindrücke. Ai Weiwei: Es sind Menschen, die vor einem Krieg geflohen sind. Sie sind ein Ergebnis des Krieges. Es sind die verwundbarsten Menschen, Frauen und Kinder, die den Krieg nicht wollten, und jetzt als Opfer vor den Toren Europas stehen. Was bedeutet die Schließung der Balkanroute? All das fordert unseren Glauben an die Humanität, an die Würde der Menschen, an die Werte Europas, auch die Werte der christlichen Religion, heraus. Die Menschen brauchen Hilfe. Die einzige Lösung der Situation ist, menschlich zu bleiben, die Humanität hochzuhalten. Wer diesen Beschluss (Schließung der Balkanroute, Anm. d. Red.) als Lösung erklärt, verlagert die Tragödie in sein eigenes Herz. Er führt also zu einer Blockade der eigenen Gefühle. Wer die Humanität verneint, schneidet sich selbst einen Arm ab, denn wir leben in einer gemeinsamen Welt, diese Menschen sind wir selbst, gehören zu uns, sie sind nicht andere. Wir müssen das, was ist, akzeptieren. Der deutsche Aktionskünstler Philipp Ruch hat vorgeschlagen, eine Brücke von Afrika nach Österreich zu bauen . . . Das ist eine sehr gute Idee . . . Was werden Sie tun? Ich bleibe noch einige Tage, ich werde meine Stimme erheben und vielleicht einige Ideen entwickeln. In einer solchen Situation brauchen die Menschen nicht nur Essen und Kleidung, sondern auch ein Lächeln. Die jungen Freiwilligen, die aus aller Welt hierhergekommen sind, machen deshalb etwas sehr Wertvolles. Dann werde ich die Lager in der Türkei besuchen und danach möchte ich nach Syrien gehen. INTERVIEW ERICH RATHFELDER Ai Weiwei ■■58, ist ein Konzeptkünstler und Kurator aus China. Dort setzt er sich für Menschenrechte ein. Seit Längerem beschäftigt er sich auch mit der Situation der Flüchtlinge in Europa. „Ich werde meine Stimme erheben“ – Aktionskünstler Ai Weiwei will die Flüchtlinge entlang der Balkanroute unterstützen. Anschließend fährt er nach Syrien Foto: Valdrin Xhemaj/dpa Nicht vor und nicht zurück KLEMME Die Flüchtlinge entlang der Balkanroute stecken fest, seit die Grenzen zu sind. Und der Bus raus aus Idomeni kostet Geld IDOMENI taz | Ireni Kakavoulia ist erleichtert. Die junge Griechin, die für die Hilfsorganisation International Rescue Committee arbeitet, hat eine Schicht von 8 Stunden hinter sich. „Wir mit unserer Gruppe von zehn Leuten sind dabei, den Müll im Lager aufzuräumen, und viele der Flüchtlinge helfen uns. Es sieht doch schon besser aus!“, ruft sie mit Blick auf die umliegenden Zelte. Der immer noch am Morgen strömende Regen hat sich gelegt. Wieder werden Feuer angezündet. Aber: „Die Leute haben gelernt, dass Plastikmüll nicht mehr verbrannt werden darf“, sagt sie triumphierend. So gute Laune wie Ireni verbreiten an diesem Donnerstagmittag nur wenige Leute. Immerhin wurden von den Hilfsorganisationen grüne Regenmäntel mit Kapuzen ausgegeben. Fast alle Flüchtlinge tragen die jetzt. Auch Abdul Me shed Bussi, 65, der vorhatte, nach Österreich zu fliehen. „Ich weiß auch nicht, warum Österreich, nach allem, was die jetzt durchgesetzt haben“, sagt er in fließendem Englisch. Der aus der Gegend um Homs stammende Mann ist allein unterwegs und völlig enttäuscht. Wegen eines falschen Eintrags in seinen Papiere hat er es nicht mehr geschafft, vor der Grenz- schließung weiterzukommen. Sein Geburtstag wurde mit 15. 5. 1951 eingetragen, international werde aber nur die englische Schreibweise akzeptiert, also May 15th. Vier Mal habe er angestanden, um die Schreibweise ändern zu lassen. „Und jetzt sitze ich da im Schlamm.“ Er möchte in ein anderes Lager transportiert werden. „Doch die Busfahrer verlangen für die Fahrt Geld, 25 Euro pro Person, um uns nach Athen zu bringen, 5 Euro nach Thessaloniki. Ich habe doch kein Geld mehr.“ Überall im Lager stecken die Leute die Köpfe zusammen. Wie soll es jetzt weitergehen? Eine Gruppe von Männern aus dem Irak, die sagen, sie seien Jessiden, und ihre Namen nicht nennen wollen, fragen den Reporter: Gibt es wirklich keine Chance mehr weiterzukommen? Sie warten die Antwort nicht ab. Sie wissen sie. Auch sie bestätigen, dass die Fahrt mit den Bussen Geld kostet. Noch hoffen sie darauf, dass die griechische Regierung sie in ein anderes Lager bringt. Vier Busse sind schon am Mittwoch vollbesetzt aus dem Lager weggefahren. Vier Busse oder mehr werden es heute wieder sein. „Doch das sind Privatunternehmer, die bringen die Leute nach Athen oder Thessaloniki und setzen sie dort in einer Lagerhalle ab“, sagt ein griechischer Kollege in dem Pulk von Journalisten, die über die Lage diskutieren. Der Staat habe keine Anstalten gemacht, den Transport zu übernehmen. „Denn dann müsste die griechische Regierung ja die Verantwortung dafür übernehmen, die Leute in ein neues und besseres Lager zu bringen.“ Die anderen Lager seien aber voll. „Die Griechen wollen Geld von Brüssel und sie lassen uns deshalb im Lager schmoren, und dieser türkische Präsident will noch mehr als 3 Milliarden Euro. Die machen doch alle ein Geschäft mit uns“, mutmaßt Abdul Bussi. ERICH RATHFELDER
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