Internet der Dinge: Und es wird Licht Total vernetzt – und total überwacht? Wie wir in Zukunft leben ▶ Seite 3, 12 AUSGABE BERLIN | NR. 10965 | 10. WOCHE | 38. JAHRGANG DONNERSTAG, 10. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND H EUTE I N DER TAZ Der Anfang vom Ende FUKUSHIMA Eine erfreuliche Bilanz fünf Jahre nach der Katastrophe: Atomkraft lohnt sich nicht mehr. Die Welt steigt aus. Langsam, aber sicher PAPST Kleine Schritte für die Menschheit, aber große für die Katholiken: Wie Franziskus für „Unruhe“ sorgt ▶ SEITE 13 FLUCHT Nichts geht mehr über den Balkan – und über die Ägäis? ▶ SEITE 2, 12, 14 BERLIN Wer‘s glaubt, wird selig: die Flughafen-Eröffnung. Wird der BER noch zum Wahlkampfthema? ▶ SEITE 21 Fotos: dpa; getty (o.) VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! verboten kriegt die Krise. Kaum ist unsere Einzelspitze ein paar Tage weg irgendwo im Süddeutschen, geht hier alles drunter und drüber, die Stimmung ist schlecht, das Wetter auch, die Konflikte sind kaum noch zu schlichten, die Ideen gehen aus, während in anderen Zeitungen sensationell kritisch recherchierte Investigativberichte über uns erscheinen, ach, irgendwie schmeckt sogar das Essen nicht mehr. Erstmals herrenlos seit September, taumeln wir orientierungslos dahin. Also, bitte, bitte, komm schnell zurück – und: TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 15.688 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Von Rekordverlusten rigen Preisen. und tiefroten Zahlen war da viel die Rede, von StelDeshalb war Fukushima der Anfang vom Ende lenabbau und der Not der Kommunen, die als Mit- der Atomkraft. Heute rechnen sich die Reaktoren eigentümer auf die Dividenden angewiesen sind. nur noch in autokratischen oder halbdemokratiUnd zur gleichen Zeit erinnert der fünfte Jahrestag schen Regimen. Diese müssen sich nicht um die des Atomunfalls im japanischen Fukushima an Ängste der Bevölkerung kümmern. Den Regierundie wirklichen Rekordverluste in der Welt jenseits gen kommt es auf Staatsausgaben weniger an als von Börsenkursen und Dividenden: an verstrahlte auf Prestigeobjekte oder den Griff nach der AtomArbeiter, eine entvölkerte Region und 100 Milliar- bombe. In einem freien Markt, in dem viele Beden Dollar Schäden, für die zum großen Teil der werber ihren Strom anbieten, können Atomkraftwerke schon aufgrund der wahnsinnigen Finanjapanische Steuerzahler aufkommen muss. Den deutschen Stromkonzernen kommen die zierungskosten inzwischen nicht mehr bestehen. Das aber führt zu einer neuen Debatte über anMeldungen über ihre wirtschaftliche Schieflage nicht ungelegen. Denn im Poker mit Regierung geblich oder tatsächlich subventionierte Strompreise. Während der und Parlament über die Ökostrom immer gegen Kosten von Atomausstieg das Vorurteil verteidigt und Endlagerung stützen Vor allem wirtschaftlich werden musste, er sei schlechte Bilanzergebnisse die Argumente der nur mithilfe von Staatsist der Atomstrom grandios knete möglich, ist es Konzerne, man müsse sie gescheitert nun andersherum: Steumöglichst ungeschoren ergeld werden die Erlassen. Es stimmt ja: Wenn man sicherstellen will, dass die Stromkonzerne neuerbaren immer weniger brauchen, die Atommöglichst lange viel Geld für den Abbau ihrer energie aber wird immer mehr benötigen, wie Atomkraftwerke und die Endlagerung beitragen, der Irrsinn der britischen Atomenergieplanung dann muss man dafür sorgen, dass sie überleben zeigt. und schwarze Zahlen schreiben. Eine Kuh, die man Endlich kann die Debatte über „subventioniermelken will, darf man nicht schlachten. ten“ Strom ehrlicher geführt werden. Letztlich ist Doch dass die Konzerne überhaupt in diesen jedes Energiesystem von politischen EntscheidunSchwierigkeiten sind, hat viel mit ihrer eigenen gen abhängig. Der Markt kann nur in diesem RahIgnoranz zu tun. Jahrelang haben sie die Ener- men funktionieren. Und dann bleibt eine politigiewende bekämpft und wurden dann von ihr sche und gesellschaftliche Entscheidung: Welche kalt erwischt. Aber nicht nur. Zum Teil leiden die Energieversorgung wollen wir? Eine ökologisch Konzerne auch unter ganz anderen Entwicklun- und ökonomisch höchst riskante wie die Atomgen, die seit der Katastrophe in Fukushima 2011 kraft? Oder eine umweltverträgliche und kostendie Energiewirtschaft weltweit durcheinander günstige? Die Stromkonzerne und die Politik hawirbeln: Gas und Öl sind vor allem durch das ben darauf lange die falsche Antwort gegeben. Wer umstrittene Fracking auf dem Weltmarkt un heute noch auf Atomkraft setzt, hat sich verrechschlagbar billig geworden, der Stromverbrauch net und wird bitter dafür bezahlen. FUKUSH IMA – UN D WAS SEITDEM GESCHAH WENDE Atomkonzerne machen Rekordverluste, immer mehr Länder setzen auf Erneuerbare: Wie sich die globale Energiepolitik verändert ▶ SEITE 4 RÜCKKEHR Leben in der Geisterstadt: Ehemals Evakuierte wohnen wieder im Sperrbezirk ▶ SEITE 5 KAMPF Atom-Comeback oder grüne Zukunft? Wie Japan über den Energiemix streitet ▶ SEITE 5 ANZEIGE Eröffnung Freitag,11.3. 20:00 Uhr time to gather Marino Formenti Berliner Festspiele We <3 U 2! Aus Schaden klug geworden? Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im März 2011 Foto: ABC/via dpa 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN DISKUSSION ÜBER PRESSEKODEX NACH KÖLN ER SI LVESTERNACHT GRÜN EN-POLITI KER BECK Schutz vor Diskriminierung bleibt Staatsanwaltschaft will ermitteln BERLIN | Der Presserat hat ent- Barış İnce, Chef der türkischen Zeitung Birgün Foto: Birgün Der ErdoğanKritiker B ERLIN taz | Barış İnce ist ein bemerkenswerter junger Mann. Mit knapp 30 Jahren fungiert er bereits als Chefredakteur der linken türkischen Tageszeitung Birgün, was bedeutet, die presserechtliche Verantwortung für sein Blatt zu übernehmen. Deshalb wurde er nun angeklagt und wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts Recep Tayyip Erdoğan zu 21 Monaten Haft verurteilt. Anlass war ein Artikel über die Korruption der Erdoğan-Familie. Barış İnce ist bei weitem nicht der einzige Journalist oder Autor, dem das in den letzten zwei Jahren passiert ist. Rund 2.000mal haben Anwälte Erdoğans seit dessen Wahl zum Präsidenten im August 2004 wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes geklagt – aber İnce ist einer der mutigsten. Seine frech formulierte Verteidigungsrede, die die Zeitung Cumhuriyet gestern abdruckte, ist so formuliert, dass sich aus den jeweiligen Anfangsbuchstaben jeden Absatzes zwei Wörter ergeben: „Hırsız Erdoğan“, übersetzt „Dieb Erdogan“. Auf dieses Formulierungskunststück antwortete der Staatsanwalt mit einer neuerlichen Anklage wegen Beleidigung. Noch muss İnce nicht ins Gefängnis, weil er gegen das Urteil Berufung eingelegt hat. Am Ende wird aber mindestens eine heftige Geldstrafe herauskommen, die dann den sowieso schon schmalen Etat von Birgün belastet. Dahinter steckt durchaus System: Die kleine Oppositionszeitung soll durch eine Häufung von Beleidigungsklagen in den Ruin getrieben werden. Doch İnce und seine Kollegen lassen sich nicht einschüchtern. Mit einer groß angelegten Rettungskampagne sammeln sie Spenden bei ihren Lesern. Barış İnce ist seit einigen Jahren bei Birgün. Er hätte auch keine Angst, ins Gefängnis zu gehen, sag er: Jeder Journalist in der Türkei müsse damit rechnen. Birgün gehört zu den wenigen Zeitungen in der Türkei, die sich noch trauen, Erdoğan öffentlich zu kritisieren. Die oppositionellen Medien der Zaman-Gruppe sind gerade unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden, und die Chefredakteure der linksliberalen Cumhuriyet sind mit einer Anklage konfrontiert, die sie wegen angeblicher Spionage lebenslang ins Gefängnis bringen will. JÜRGEN GOTTSCHLICH Der Tag DON N ERSTAG, 10. MÄRZ 2016 schieden, dass die Richtlinie 12.1 des Pressekodex unverändert bleibt. Der Passus besagt, dass Medien bei der Berichterstattung über Täter oder Verdächtige nur dann auf deren Religion oder Ethnie hinweisen sollen, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug“ bestehe. „Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte“, heißt es. Der Presserat debattierte am Mittwoch über die Richtlinie, weil nach den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln verschiedene Medien dafür plädiert hatten, die Richtlinie 12.1 zu ändern. Die Chefin der Bild-Zeitung Tanit Koch hatte beispielsweise gegenüber dem Medium Magazin gesagt, dass sie die Richtlinie für eine „ungerechtfertigte Selbstzensur“ halte: „Menschen merken, wenn ihnen relevante Informationen vorenthalten werden“ (taz vom 8. 3.). Der Presserat entschied anders: Die Vollversammlung sei übereingekommen, dass die Richtlinie kein Sprachverbot für Medien darstelle, sagte Geschäftsführer Lutz Tillmanns. (taz, epd) BERLIN | Nach dem Drogenfund bei dem Grünen-Politiker Volker Beck will die Staatsanwaltschaft gegen den Abgeordneten ermitteln. Darüber habe die Behörde den Bundestag in einem Schreiben informiert, teilte ein Sprecher gestern mit. In der Regel können Ermittlungen gegen einen Abgeordneten zwei Tage nach dem Eingang eines solchen Schreibens beim Bundestag beginnen, außer das Parlament widerspricht. Laut den Immunitätsregeln haben Abgeordnete keinen grundsätzlichen Schutz vor Ermittlungen. (dpa) GROSSES KI NO Große Kinostreifen, kleine Perlen, Flops und Oscar-Kandidaten sowie Interviews mit Regisseuren und Schauspielern: Alles nachzulesen auf taz.de/film Rezensionen Filmtipps Interviews www.taz.de FACEBOOKS „LI KE“-BUTTON Verbraucherschützer bekommen recht DÜSSELDORF | Die Einbindung des „Like“-Buttons von Facebook auf Webseiten von Unternehmen verstößt gegen deutsches Recht, wenn Nutzer nicht über die damit verbundene Datenweitergabe an Facebook informiert werden. Unternehmen müssten den Seitenbesucher über die Weitergabe von Daten aufklären, erklärte das Landgericht Düsseldorf und unterstützte damit die Ansicht der Verbraucherschützer. Die Integration des „Like“-Buttons verletze sonst Datenschutz- und Wettbewerbsvorschriften. (dpa) Südosteuropa igelt sich ein BALKANROUTE Slowenien lässt seit Mittwoch nur noch Flüchtlinge mit gültigem Visum einreisen. Serbien, Kroatien und Mazedonien ziehen nach. Ungarn verhängt Ausnahmezustand über das ganze Land BERLIN taz | Ungarn hat den Aus- nahmezustand von dem Grenzgebiet, wo er wegen der Flüchtlingskrise seit vergangenem Jahr gilt, auf das gesamte Land ausgedehnt. Innenminister Sándor Pintér sagte am Mittwoch, man sei unsicher, welchen Weg die Flüchtlinge nun, nach der Schließung der Balkanroute, einschlagen würden. Zusätzliche ungarische Polizei- und Militäreinheiten könnten etwa an der Grenze zu Rumänien eingesetzt werden. Am Dienstag fasste die Polizei 127 Flüchtlinge, von denen die meisten von Serbien aus nach Ungarn gekommen waren – trotz Genzzaun. Auch Bulgarien will verhindern, dass der Flüchtlingstreck in Zukunft durch sein Staatsgebiet zieht. Man ergreife „alle Maßnahmen dagegen“, hieß es aus der Hauptstadt Sofia. Seit Mittwoch ist die Flüchtlingsroute über den Balkan verbarrikadiert. Slowenien lässt Flüchtlinge nur noch ins Land kommen, wenn sie dort Asyl beantragen wollen, oder in Einzelfällen aus humanitären Grün- den, erklärte das Innenministerium in Ljubljana. Weitere Länder der Region folgten. Die serbische Regierung in Belgrad teilte mit, sie werde an den Grenzen zu Mazedonien und Bulgarien ebenso verfahren. Serbien könne nicht „akzeptieren, ein Aufnahmezentrum für Flüchtlinge“ zu werden. Auch der kroatische Innenminister Vlaho Orepić sagte dem Fernsehsender RTL, sein Land werde nur noch Flüchtlinge mit EU-Visum einlassen. Mazedonien schloss sich dem an. Giftwolken über Idomeni Erst am vergangenen SamsSlowenien will in Zukunft pro Monat 40 bis 50 Menschen Asyl tag hat das slowenische Parlagewähren, zitierte das nationale ment das Asylrecht verschärft. slowenische Radio Regierungs- Abgelehnte Asylbewerber hachef Miro Cerar. Seine Härte ist ben nach dem neuen Gesetz nur nicht zuletzt innenpolitischem noch drei Tage, um ihr VerfahDruck geschuldet: In Meinungs- ren gerichtlich überprüfen zu umfragen liegen die oppositio- lassen. Amnesty International nellen Konservativen vorn, Bür- kritisiert, das Gesetz verstoße ger protestieren gegen die Un- gegen die internationalen Verterbringung von Flüchtlingen. pflichtungen Sloweniens. Über Seit September 2015 haben gut die Balkanroute waren im ver500 Menschen in Slowenien gangenen Jahr mehr als eine Million Menschen nach Asyl beantragt – nur 8 Anträge wurden positiv beWesteuropa gelangt. schieden, 101 negativ. SIMON RIBNITZKY THEMA DES TAGES Circa 13.000 Flüchtlinge sitzen an der Grenze zu Mazedonien fest. Der Regen hat das Lager in eine Sumpflandschaft verwandelt, über der der Rauch aus hunderten Feuern steht, in denen alles verbrannt wird, was brennt – auch viele Plastiktüten GRIECHENLAND Das Lager bei Idomeni im Morgengrauen: Flüchtlinge versuchen ihre nassen Kleider über einem Feuer zu trocknen Foto: Visar Kryeziu/ap IDOMENI taz | Über dem Lager hat sich in den letzten Tagen eine Dunstglocke gebildet. Der Nebel des Morgens vermischt sich mit dem Sprühregen, der die Ansammlung von Zelten immer mehr in eine Sumpflandschaft verwandelt. Die Luft darüber stinkt unerträglich nach dem Rauch vieler qualmender Feuer. Trotz der Hinweise der freiwilligen Helfer sitzen immer noch viele der circa 13.000 Zeltbewohner um schmorenden Einkaufstüten. Gerade die Kinder werden von dem Giftgemisch geschädigt, das aus den Flammen aufsteigt. Rund 4.000 Kinder befänden sich in dem Lager, sagt UNHCRSprecher Barbar Baloch, „die genaue Zahl kennt niemand, wahrscheinlich sind es aber mehr“. Die Mischung aus Kälte, Regen und verpesteter Luft verschlechtere die Situation immer weiter. „Natürlich sind die Kinder davon am meisten betroffen.“ Am Auto eines schwedischen Ärzteteams bilden sich Schlangen, die Zelte der ambulanten Dienste sind überfüllt. Der Belgier Christian Reynders ist Stellvertretender Koordinator der Hilfsorganisation „Médecins Sans Frontières“ (Ärzte ohne „Gestern mussten wir ein Kind mit Sauerstoff behandeln“ CHRISTIAN REYNDERS, ÄRZTE OHNE GRENZEN Grenzen) die täglich Hunderte von Kranken versorgen. „Gestern mussten wir ein zweijähriges Kind mit Sauerstoff behandeln. Komplexe Atembeschwerden treten wegen des giftigen Rauchs immer häufiger auf.“ Eine Verbesserung ist nicht in Sicht, mindestens bis Donnerstagabend wird das Wetter so blei- ben. Weiterhin marschiert eine, wenn auch kürzere Menschenschlange als noch vor wenigen Tagen von der Autobahn kommend entlang der Straße, die nach Idomeni führt. „Die Neuankömmlinge haben meist gar keine Zelte“, sagt Reynders, „sie sitzen buchstäblich im Regen.“ Plötzlich tauchen drei Clowns auf, mit roten Nasen, weiß geschminkten Gesichtern und mit roten Sternen benähten, gelb und grau gestreiften Hosen. Sie sind gerade aus Spanien angekommen. Sofort sind sie von Kindern aller Altersgruppen umringt. Das helle Lachen der Schar um Ivan Prado, dem Clown aus Galizien, ringt sogar einer Gruppe von ernst blickenden Männern ein Lächeln ab, als er mit einer riesigen gelben Plastikschere dem Reporter aus „Deitschland“ die Haarmähne schneiden will. Einer der Männern ist Shawkat Alsalti, ein 1962 in Damaskus geborener Palästinenser – sein Vater war 1948 aus Israel geflohen –, der verzweifelt darüber nachdenkt, wie er der misslichen Lage an der Grenze entkommen kann. Sein Sohn lebe mit Frau und Kind in Berlin, er habe jedoch den Kontakt zu ihm verloren, da sein Telefon nicht mehr funktioniere, erzählt er. Alsalti ist voll des Lobes für Deutschland – doch die Nachricht, die Balkanroute sei jetzt wirklich geschlossen, macht ihn ratlos. „Ich war Schmied, hatte ein schönes Haus, eine Werkstatt, ein gutes Auskommen. Ich war glücklich – bis der Krieg kam. Assad ist ein schlechter Mensch, die Granaten haben alles zerstört, Krieg ist schlecht.“ Das Angebot der griechischen Regierung, die Flüchtlinge mit Bussen zurück nach Athen zu fahren, will Alsalti nicht annehmen. „Vielleicht überlegen sich die Europäer es doch noch“, erklärt er, warum er weiter im Lager bei Idomeni bleiben will. Eben das wollen die Frauen und Kinder nicht mehr, die in den beiden voll besetzen Bussen sitzen, deren Fahrer nur auf das Zeichen der Polizei warten, um endlich loszufahren. „Es gibt doch viele, die jetzt müde geworden sind“, sagt ein Übersetzer, der von Umstehenden nach Informationen über die Rückfahrt bestürmt wird. ERICH RATHFELDER Schwerpunkt Digitalisierung DON N ERSTAG, 10. MÄRZ 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Industrie und Handel freuen sich über die zunehmende Vernetzung von Haushaltsgeräten. Was aber bedeutet sie für die Bewohner? Ganz schön durchschaubar KONTROLLE Die vernetzte Wohnung soll nicht nur Energie sparen, sondern das Leben auch komfortabler und sicherer machen. Doch das Wohnen mit smarten Geräten macht den Nutzer so gläsern wie noch nie VON SVENJA BERGT Marco Maas spricht neuerdings mit einer schwarzen Säule, die auf seinem Wohnzimmerregal steht. „Alexa“, sagt er dann zum Beispiel „livingroom light 50“. Ein paar Sekunden später dimmen die Lampen im Wohnzimmer ihre Helligkeit um die Hälfte. Magie? Eher das Internet der Dinge in Gestalt einer fast komplett vernetzten Wohnung. Die Vernetzung von Alltagsgegenständen wie Heizungsanlagen, elektrischen Zahnbürsten oder eben Lampen, ist eines der großen Zukunftsthemen der Digitalisierung. „Wir rechnen mit 1,5 bis 2 Millionen vernetzten Haushalten für das Jahr 2020“, sagt Gunther Wagner vom Wirtschaftsprüfer Deloitte. Die Telekom, die selbst SmartHome-Produkte anbietet, geht davon aus, dass im Jahr 2022 in einem durchschnittlichen Haushalt über 500 vernetzte Geräte stehen werden. Ein Wachstumsmarkt, auf den sich Indus- Der CO2-Gehalt in der Luft lässt Rückschlüsse zu, wie viele Personen sich in einem Raum aufhalten Jemand zu Hause? Für Passanten nicht zu erkennen, für den Hersteller der Lichtanlage vielleicht schon Foto: Oliver Heissner/ plainpicture trie und Handel gleichermaßen freuen. Nur: Was wird die Vernetzung des Wohnens für die Menschen heißen? Die Zukunft ist heute schon in Hamburg-Altona zu besichtigen. Im fünften Stock, mit Blick über das Viertel, hat Maas, Geschäftsführer einer Agentur für Datenjournalismus und Datenvisualisierungen, auf 60 Quadratmetern alles vernetzt, was sich nicht schnell genug in der Abstellkammer versteckt hat. Von der Lampe bis zur Heizung, von der Waage bis zur Stereoanlage. 118 Geräte sind es derzeit. Tendenz steigend. Begonnen hatte es 2014, als Maas aus einer Insolvenzmasse günstig an ein per Smartphone steuerbares Lichtsystem herankam. Zu den Lampen kamen schnell Bewegungsmelder, damit das Licht tatsächlich nur dann an ist, wenn sich auch jemand in dem Raum aufhält. Dazu Helligkeitssensoren, damit nicht tagsüber die Festbeleuchtung brennt. Mittlerweile hat er sein System so detailliert eingestellt, dass im Flur nur eine Minimalbeleuchtung angeht, wenn jemand nachts aufsteht. Ganz ohne Lichtschalter. „Wenn das smarte Haus gut funktio niert“, sagt Maas, „dann vergisst du, dass du es hast.“ Weil vieles von alleine funktioniert, und wenn nicht, reicht ein kurzer Sprachbefehl. Doch die Vernetzung hat Nebenwirkungen. Wer in seiner Wohnung den Lichtschalter betätigt, erzeugt normalerweise keine Datenspuren. Gehen dagegen bei Maas die Lampen anund aus, dann weiß das nicht nur der Hersteller des Lichtsystems. Auch Maas’ Internetprovider sieht, dass ein Befehl für das Gerät ausgeführt wurde, schließlich werden die Daten übers Internet verschickt. Das Gleiche gilt für andere Geräte, ob sie nun die Bewegung in der Wohnung messen oder den CO2-Gehalt in der Luft, der Rückschlüsse darüber zulässt, wie viele Personen sich in einem Raum aufhalten. Rund 600 Megabyte an Daten schickt seine smarte Technik täglich übers Netz. Das entspricht etwa einem Spielfilm in mittlerer Qualität. Dass Maas diese Zahl überhaupt nennen kann, liegt daran, dass er eigens ein Gerät eingebaut hat, das alle Daten aufzeichnet, die seine Technik hinausschickt. Wenn also der kleine silberne Zylinder, der eigentlich die Lautstärke messen soll, Gespräche mitschneidet, würde Maas das anhand der Datenmenge merken. Im Gegensatz zum Normalnutzer, der – wenn er nicht seine Freizeit damit verbringt, Nutzungsbedingungen zu studieren – gar nicht weiß, was der Hersteller des smarten Lichtsystems alles speichert und was er damit macht. Ganz zu schweigen von dem Problem, dass Unbefugte aufgrund von Sicherheitslücken an die Daten gelangen können – oder sich vielleicht gleich ins Heimnetzwerk hacken. Und diese Daten sagen viel. „Man wird aus den Bewegungsmustern in einer Woh- Die Cebit ■■Messe: Am Montag startet in Hannover die weltgrößte Computermesse „Cebit“. Vom 14. bis zum 18. März sind dort rund 3.300 Unternehmen aus 70 Ländern vertreten. Schwerpunktthemen sind unter anderem Datensicherheit und die digitale Transformation. ■■Fokus: Partnerland der diesjährigen Cebit ist die Schweiz, die mit gut 80 Unternehmen in Hannover vertreten sein wird. ■■Wohnen: Beim Smart Home sind unter anderen die unterschiedlichen Standards Thema. Denn momentan scheitert eine Vernetzung häufig daran, dass die verschiedenen Geräte der unterschiedlichen Hersteller nicht kompatibel sind. (sve) nung eines Tages Krankheitsbilder lesen können“, ist Maas überzeugt. Den ganzen Tag im Schlafzimmer geblieben, mit ungewöhnlich häufigen Abstechern ins Bad? Klar, oder? Ganz neue Möglichkeiten, die sich hier für Strafverfolger oder Geheimdienste ergeben. Und für die Werbetreibenden. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es dafür Verwertungswege geben wird“, sagt Maas. Das Display der vernetzten Waage etwa, das gleich ein Diätprodukt anpreist. Dass wir eines Tages dennoch – sehr stark oder nur etwas – vernetzt wohnen werden, davon sind nicht nur Maas und Wagner überzeugt. Denn neben einem Gewinn an Komfort und Kontrolle und einer Gefahr von Überwachung und Kontrollverlust bietet die Vernetzung noch etwas anderes: Sicherheit, gerade für ältere, allein lebende Menschen. Sensoren, mit Hilfe derer bei einem Sturz automatisch ein Notruf abgesetzt wird. Armbänder, die Vitalparameter wie den Puls überwachen und gegebenenfalls Alarm schlagen. Bewegungssensoren durch die sich feststellen lässt, wenn jemand zwei Tage lang das Schlafzimmer nicht verlassen hat. Durch erhöhte Pulswerte, die ihr Fitness-Armband maß, kam eine Frau aus New York kürzlich darauf, dass sie schwanger ist. Werte, die auch dem Anbieter des Armbands vorliegen – eines Tages könnte also passende Werbung auftauchen, noch bevor die werdende Mutter selbst von ihrer Schwangerschaft weiß. Was passiert, wenn das mit den Sensoren und Alarmen mal schiefgeht, hat Maas an anderer Stelle erfahren. Nachdem ihm seine Tasche samt Schlüsselbund geklaut wurde, stand er bereits auf der Polizeiwache, als sein Smartphone meldete: Da bewegt sich etwas in der Wohnung. Mit dem Schlüsseldienst standen daher auch gleich Beamte vor der Tür – deren Waffen allerdings nicht zum Einsatz kamen. Bewegt hatte sich lediglich der Staubsaugerroboter. Meinung + Diskussion SEITE 12 Programmierte Lebensdauer SCHROTT Elektrogeräte sind immer kürzer in Benutzung. Ihre zunehmende Vernetzung, das „Internet der Dinge“, wird diese Entwicklung noch beschleunigen BERLIN taz | Hersteller, die ge- zielt Schwachstellen in ihre Geräte einbauen, um die Lebensdauer zu verkürzen? Für das Umweltbundesamt ist klar: Zwar würden Geräte immer kürzer genutzt. Aber eine geplante Obsoleszenz, der gezielte Einbau von Mängeln, „kann nicht nachgewiesen werden“. So lautet das Fazit einer Studie, die im Februar vorgestellt wurde. Geklärt ist damit allerdings noch lange nichts, auch wenn der Nachweis einer Nicht existenz immer schwer zu führen ist. Doch selbst wenn keine Planung hinter einer immer kürzeren Lebensdauer stecken sollte – was ist mit in Kauf genommenen Schwachstellen? Mit dem Internet der Dinge, der Vernetzung von Alltagsgeräten, wird sich diese Frage noch häufiger stellen. Wenn nicht nur Telefone, Uhren und Fernseher mit Software und Internetanbindung ausgerüstet werden, sondern auch elektrische Zahnbürsten, Waschmaschinen und Waagen, steigt die Zahl der Geräte, die unbrauchbar bis gefährlich werden können – nämlich bei einer Sicherheitslücke. Beim Smartphone-Betriebssystem Android zeigt sich schon heute, wie das in Zukunft aussehen könnte. Denn so richtig verantwortlich dafür, dass die Geräte Updates erhalten, fühlt sich hier niemand. Google als Hersteller des Betriebssystems nicht, weil alle Gerätehersteller das System immer individuell anpassen wollen. Die Gerätehersteller haben dagegen kein Interesse, die Kunden mit Updates zu versorgen. Schließlich wollen sie den Nutzern möglichst schnell wieder ein neues Gerät verkaufen. Das Computermagazin c’t kam in einer Untersuchung im vergangen Jahr zu dem Ergebnis: Von zehn Herstellern brachten vier nicht einmal für jedes zweite Gerät Updates heraus. Für Nutzer, die ihr Smartphone nicht nur zum Telefonieren verwenden, sondern damit auch Videos schauen oder sogar Onlinebanking machen wollen, kann das zum Problem werden. Und selbst wenn die vernetzte Waschmaschine nicht onlinebankingfähig sein muss – eine Sicherheitslücke in der Software kann hier von Angreifern beispielsweise dazu genutzt werden, Zugriff auf das Heimnetz- werk zu bekommen. Und etwa dem heimischen PC einen Trojaner verpassen. Um die Lebensdauer von Geräten nicht weiter sinken zu lassen, schlägt Umweltbundesamtspräsidentin Maria Krautzberger eine Mindesthaltbarkeit vor. Wenn dann auf dem Fernseher steht „Bei durchschnittlicher Nutzung ausgelegt auf ein eLebensdauer von einem Jahr“, könnte vielleicht die Nachfrage die Sache regeln. SVENJA BERGT
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