taz.die tageszeitung

Internet der Dinge: Und es wird Licht
Total vernetzt – und total überwacht? Wie wir in Zukunft leben ▶ Seite 3, 12
AUSGABE BERLIN | NR. 10965 | 10. WOCHE | 38. JAHRGANG
DONNERSTAG, 10. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
Der Anfang vom Ende
FUKUSHIMA Eine erfreuliche Bilanz fünf Jahre nach der Katastrophe:
Atomkraft lohnt sich nicht mehr. Die Welt steigt aus. Langsam, aber sicher
PAPST Kleine Schritte
für die Menschheit, aber
große für die Katholiken: Wie Franziskus für
„Unruhe“ sorgt ▶ SEITE 13
FLUCHT Nichts geht
mehr über den Balkan –
und über die Ägäis?
▶ SEITE 2, 12, 14
BERLIN Wer‘s glaubt,
wird selig: die Flughafen-Eröffnung. Wird der
BER noch zum Wahlkampfthema? ▶ SEITE 21
Fotos: dpa; getty (o.)
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
verboten kriegt die Krise. Kaum
ist unsere Einzelspitze ein
paar Tage weg irgendwo im
Süddeutschen, geht hier alles
drunter und drüber, die Stimmung ist schlecht, das Wetter
auch, die Konflikte sind kaum
noch zu schlichten, die Ideen
gehen aus, während in anderen Zeitungen sensationell kritisch recherchierte Investigativberichte über uns erscheinen,
ach, irgendwie schmeckt sogar
das Essen nicht mehr. Erstmals
herrenlos seit September, taumeln wir orientierungslos dahin. Also, bitte, bitte, komm
schnell zurück – und:
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KOMMENTAR VON BERNHARD PÖTTER
D
Die Rechnung bitte!
as waren Bilanzen gleich im doppelten Sinn: wächst in den Industrieländern kaum noch, und
In dieser Woche präsentierten die Strom- die Erneuerbaren sind viel schneller als erwarkonzerne RWE und Eon fast gleichzeitig ihre tet marktfähig geworden – zu fantastisch niedschlechten Jahresergebnisse. Von Rekordverlusten rigen Preisen.
und tiefroten Zahlen war da viel die Rede, von StelDeshalb war Fukushima der Anfang vom Ende
lenabbau und der Not der Kommunen, die als Mit- der Atomkraft. Heute rechnen sich die Reaktoren
eigentümer auf die Dividenden angewiesen sind. nur noch in autokratischen oder halbdemokratiUnd zur gleichen Zeit erinnert der fünfte Jahrestag schen Regimen. Diese müssen sich nicht um die
des Atomunfalls im japanischen Fukushima an Ängste der Bevölkerung kümmern. Den Regierundie wirklichen Rekordverluste in der Welt jenseits gen kommt es auf Staatsausgaben weniger an als
von Börsenkursen und Dividenden: an verstrahlte auf Prestigeobjekte oder den Griff nach der AtomArbeiter, eine entvölkerte Region und 100 Milliar- bombe. In einem freien Markt, in dem viele Beden Dollar Schäden, für die zum großen Teil der werber ihren Strom anbieten, können Atomkraftwerke schon aufgrund der wahnsinnigen Finanjapanische Steuerzahler aufkommen muss.
Den deutschen Stromkonzernen kommen die zierungskosten inzwischen nicht mehr bestehen.
Das aber führt zu einer neuen Debatte über anMeldungen über ihre wirtschaftliche Schieflage
nicht ungelegen. Denn im Poker mit Regierung geblich oder tatsächlich subventionierte Strompreise. Während der
und Parlament über die
Ökostrom immer gegen
Kosten von Atomausstieg
das Vorurteil verteidigt
und Endlagerung stützen
Vor allem wirtschaftlich
werden musste, er sei
schlechte
Bilanzergebnisse die Argumente der
nur mithilfe von Staatsist der Atomstrom grandios
knete möglich, ist es
Konzerne, man müsse sie
gescheitert
nun andersherum: Steumöglichst ungeschoren
ergeld werden die Erlassen. Es stimmt ja: Wenn
man sicherstellen will, dass die Strom­konzerne neuerbaren immer weniger brauchen, die Atommöglichst lange viel Geld für den Abbau ihrer energie aber wird immer mehr benötigen, wie
Atomkraftwerke und die Endlagerung beitragen, der Irrsinn der britischen Atomenergieplanung
dann muss man dafür sorgen, dass sie überleben zeigt.
und schwarze Zahlen schreiben. Eine Kuh, die man
Endlich kann die Debatte über „subventioniermelken will, darf man nicht schlachten.
ten“ Strom ehrlicher geführt werden. Letztlich ist
Doch dass die Konzerne überhaupt in diesen jedes Energiesystem von politischen EntscheidunSchwierigkeiten sind, hat viel mit ihrer eigenen gen abhängig. Der Markt kann nur in diesem RahIgnoranz zu tun. Jahrelang haben sie die Ener- men funktionieren. Und dann bleibt eine politigiewende bekämpft und wurden dann von ihr sche und gesellschaftliche Entscheidung: Welche
kalt erwischt. Aber nicht nur. Zum Teil leiden die Energieversorgung wollen wir? Eine ökologisch
Konzerne auch unter ganz anderen Entwicklun- und ökonomisch höchst riskante wie die Atomgen, die seit der Katastrophe in Fukushima 2011 kraft? Oder eine umweltverträgliche und kostendie Energiewirtschaft weltweit durcheinander­ günstige? Die Stromkonzerne und die Politik hawirbeln: Gas und Öl sind vor allem durch das ben darauf lange die falsche Antwort gegeben. Wer
umstrittene Fracking auf dem Weltmarkt un­ heute noch auf Atomkraft setzt, hat sich verrechschlagbar billig geworden, der Stromverbrauch net und wird bitter dafür bezahlen.
FUKUSH IMA – UN D WAS SEITDEM GESCHAH
WENDE Atomkonzerne machen Rekordverluste,
immer mehr Länder setzen auf Erneuerbare: Wie
sich die globale Energiepolitik verändert ▶ SEITE 4
RÜCKKEHR Leben in der Geisterstadt: Ehemals
Evakuierte wohnen wieder im Sperrbezirk ▶ SEITE 5
KAMPF Atom-Comeback oder grüne Zukunft?
Wie Japan über den Energiemix streitet ▶ SEITE 5
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Eröffnung
Freitag,11.3.
20:00 Uhr
time to gather
Marino Formenti
Berliner Festspiele
We <3 U 2!
Aus Schaden klug geworden? Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima im März 2011 Foto: ABC/via dpa
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
DISKUSSION ÜBER PRESSEKODEX NACH KÖLN ER SI LVESTERNACHT
GRÜN EN-POLITI KER BECK
Schutz vor Diskriminierung bleibt
Staatsanwaltschaft
will ermitteln
BERLIN | Der Presserat hat ent-
Barış İnce, Chef der türkischen
Zeitung Birgün Foto: Birgün
Der ErdoğanKritiker
B
ERLIN taz | Barış İnce ist ein
bemerkenswerter junger
Mann. Mit knapp 30 Jahren fungiert er bereits als Chefredakteur der linken türkischen
Tageszeitung Birgün, was bedeutet, die presserechtliche Verantwortung für sein Blatt zu übernehmen. Deshalb wurde er nun
angeklagt und wegen Beleidigung des Staatsoberhaupts Recep Tayyip Erdoğan zu 21 Monaten Haft verurteilt. Anlass war
ein Artikel über die Korruption
der Erdoğan-Familie.
Barış İnce ist bei weitem nicht
der einzige Journalist oder Autor, dem das in den letzten zwei
Jahren passiert ist. Rund 2.000mal haben Anwälte Erdoğans
seit dessen Wahl zum Präsidenten im August 2004 wegen Beleidigung des Staatsoberhauptes geklagt – aber İnce ist einer
der mutigsten.
Seine frech formulierte Verteidigungsrede, die die Zeitung
Cumhuriyet gestern abdruckte,
ist so formuliert, dass sich aus
den jeweiligen Anfangsbuchstaben jeden Absatzes zwei Wörter
ergeben: „Hırsız Erdoğan“, übersetzt „Dieb Erdogan“. Auf dieses
Formulierungskunststück antwortete der Staatsanwalt mit
einer neuerlichen Anklage wegen Beleidigung.
Noch muss İnce nicht ins Gefängnis, weil er gegen das Urteil Berufung eingelegt hat.
Am Ende wird aber mindestens
eine heftige Geldstrafe herauskommen, die dann den sowieso
schon schmalen Etat von Birgün
belastet. Dahinter steckt durchaus System: Die kleine Oppositionszeitung soll durch eine
Häufung von Beleidigungsklagen in den Ruin getrieben werden. Doch İnce und seine Kollegen lassen sich nicht einschüchtern. Mit einer groß angelegten
Rettungskampagne sammeln
sie Spenden bei ihren Lesern.
Barış İnce ist seit einigen Jahren bei Birgün. Er hätte auch
keine Angst, ins Gefängnis zu
gehen, sag er: Jeder Journalist
in der Türkei müsse damit rechnen. Birgün gehört zu den wenigen Zeitungen in der Türkei,
die sich noch trauen, Erdoğan
öffentlich zu kritisieren. Die
oppositionellen Medien der Zaman-Gruppe sind gerade unter
staatliche Zwangsverwaltung
gestellt worden, und die Chefredakteure der linksliberalen
Cumhuriyet sind mit einer Anklage konfrontiert, die sie wegen
angeblicher Spionage lebenslang ins Gefängnis bringen will.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
Der Tag
DON N ERSTAG, 10. MÄRZ 2016
schieden, dass die Richtlinie
12.1 des Pressekodex unverändert bleibt. Der Passus besagt,
dass Medien bei der Berichterstattung über Täter oder Verdächtige nur dann auf deren
Religion oder Ethnie hinweisen
sollen, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein
begründbarer Sachbezug“ bestehe. „Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten
schüren könnte“, heißt es. Der
Presserat debattierte am Mittwoch über die Richtlinie, weil
nach den Übergriffen in der
Silvesternacht in Köln verschiedene Medien dafür plädiert hatten, die Richtlinie 12.1 zu ändern.
Die Chefin der Bild-Zeitung Tanit Koch hatte beispielsweise gegenüber dem Medium Magazin
gesagt, dass sie die Richtlinie für
eine „ungerechtfertigte Selbstzensur“ halte: „Menschen merken, wenn ihnen relevante Informationen vorenthalten werden“ (taz vom 8. 3.). Der Presserat
entschied anders: Die Vollversammlung sei übereingekommen, dass die Richtlinie kein
Sprachverbot für Medien darstelle, sagte Geschäftsführer
Lutz Tillmanns. (taz, epd)
BERLIN | Nach dem Drogenfund
bei dem Grünen-Politiker Volker Beck will die Staatsanwaltschaft gegen den Abgeordneten
ermitteln. Darüber habe die Behörde den Bundestag in einem
Schreiben informiert, teilte ein
Sprecher gestern mit. In der Regel können Ermittlungen gegen
einen Abgeordneten zwei Tage
nach dem Eingang eines solchen
Schreibens beim Bundestag beginnen, außer das Parlament widerspricht. Laut den Immunitätsregeln haben Abgeordnete
keinen grundsätzlichen Schutz
vor Ermittlungen. (dpa)
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Verbraucherschützer
bekommen recht
DÜSSELDORF | Die Einbindung
des „Like“-Buttons von Facebook auf Webseiten von Unternehmen verstößt gegen deutsches Recht, wenn Nutzer nicht
über die damit verbundene Datenweitergabe an Facebook informiert werden. Unternehmen müssten den Seitenbesucher über die Weitergabe von
Daten aufklären, erklärte das
Landgericht Düsseldorf und
unterstützte damit die Ansicht
der Verbraucherschützer. Die
Integration des „Like“-Buttons
verletze sonst Datenschutz- und
Wettbewerbsvorschriften. (dpa)
Südosteuropa igelt sich ein
BALKANROUTE Slowenien lässt seit Mittwoch nur noch Flüchtlinge mit gültigem Visum einreisen.
Serbien, Kroatien und Mazedonien ziehen nach. Ungarn verhängt Ausnahmezustand über das ganze Land
BERLIN taz | Ungarn hat den Aus-
nahmezustand von dem Grenzgebiet, wo er wegen der Flüchtlingskrise seit vergangenem
Jahr gilt, auf das gesamte Land
ausgedehnt. Innenminister Sándor Pintér sagte am Mittwoch,
man sei unsicher, welchen Weg
die Flüchtlinge nun, nach der
Schließung der Balkanroute,
einschlagen würden. Zusätzliche ungarische Polizei- und Militäreinheiten könnten etwa an
der Grenze zu Rumänien eingesetzt werden. Am Dienstag
fasste die Polizei 127 Flüchtlinge,
von denen die meisten von Serbien aus nach Ungarn gekommen waren – trotz Genzzaun.
Auch Bulgarien will verhindern,
dass der Flüchtlingstreck in Zukunft durch sein Staatsgebiet
zieht. Man ergreife „alle Maßnahmen dagegen“, hieß es aus
der Hauptstadt Sofia.
Seit Mittwoch ist die Flüchtlingsroute über den Balkan verbarrikadiert. Slowenien lässt
Flüchtlinge nur noch ins Land
kommen, wenn sie dort Asyl beantragen wollen, oder in Einzelfällen aus humanitären Grün-
den, erklärte das Innenministerium in Ljubljana.
Weitere Länder der Region
folgten. Die serbische Regierung
in Belgrad teilte mit, sie werde
an den Grenzen zu Mazedonien
und Bulgarien ebenso verfahren. Serbien könne nicht „akzeptieren, ein Aufnahmezen­trum
für Flüchtlinge“ zu werden.
Auch der kroatische Innenminister Vlaho Orepić sagte dem
Fernsehsender RTL, sein Land
werde nur noch ­
Flüchtlinge
mit EU-Visum einlassen. Mazedonien schloss sich dem an.
Giftwolken über Idomeni
Erst am vergangenen SamsSlowenien will in Zukunft pro
Monat 40 bis 50 Menschen Asyl tag hat das slowenische Parlagewähren, zitierte das nationale ment das Asylrecht verschärft.
slowenische Radio Regierungs- Abgelehnte Asylbewerber hachef Miro Cerar. Seine Härte ist ben nach dem neuen Gesetz nur
nicht zuletzt innenpolitischem noch drei Tage, um ihr VerfahDruck geschuldet: In Meinungs- ren gerichtlich überprüfen zu
umfragen liegen die oppositio- lassen. Amnesty International
nellen Konservativen vorn, Bür- kritisiert, das Gesetz verstoße
ger protestieren gegen die Un- gegen die internationalen Verterbringung von Flüchtlingen. pflichtungen Sloweniens. Über
Seit September 2015 haben gut die Balkanroute waren im ver500 Menschen in Slowenien gangenen Jahr mehr als eine
Million Menschen nach
Asyl beantragt – nur 8 Anträge wurden positiv beWesteuropa gelangt. schieden, 101 negativ.
SIMON RIBNITZKY
THEMA
DES
TAGES
Circa 13.000 Flüchtlinge sitzen an der Grenze zu Mazedonien fest. Der Regen hat das Lager in eine Sumpflandschaft
verwandelt, über der der Rauch aus hunderten Feuern steht, in denen alles verbrannt wird, was brennt – auch viele Plastiktüten
GRIECHENLAND
Das Lager bei Idomeni im Morgengrauen: Flüchtlinge versuchen ihre nassen Kleider über einem Feuer zu trocknen Foto: Visar Kryeziu/ap
IDOMENI taz | Über dem Lager
hat sich in den letzten Tagen
eine Dunstglocke gebildet. Der
Nebel des Morgens vermischt
sich mit dem Sprühregen, der
die Ansammlung von Zelten
immer mehr in eine Sumpflandschaft verwandelt.
Die Luft darüber stinkt unerträglich nach dem Rauch vieler qualmender Feuer. Trotz der
Hinweise der freiwilligen Helfer sitzen immer noch viele der
circa 13.000 Zeltbewohner um
schmorenden Einkaufstüten.
Gerade die Kinder werden von
dem Giftgemisch geschädigt,
das aus den Flammen aufsteigt.
Rund 4.000 Kinder befänden
sich in dem Lager, sagt UNHCRSprecher Barbar Baloch, „die genaue Zahl kennt niemand, wahrscheinlich sind es aber mehr“.
Die Mischung aus Kälte, Regen
und verpesteter Luft verschlechtere die Situation immer weiter.
„Natürlich sind die Kinder davon am meisten betroffen.“
Am Auto eines schwedischen
Ärzteteams bilden sich Schlangen, die Zelte der ambulanten
Dienste sind überfüllt. Der Belgier Christian Reynders ist Stellvertretender Koordinator der
Hilfsorganisation „Médecins
Sans Frontières“ (Ärzte ohne
„Gestern mussten wir
ein Kind mit Sauerstoff behandeln“
CHRISTIAN REYNDERS, ÄRZTE OHNE GRENZEN
Grenzen) die täglich Hunderte
von Kranken versorgen. „Gestern mussten wir ein zweijähriges Kind mit Sauerstoff behandeln. Komplexe Atembeschwerden treten wegen des giftigen
Rauchs immer häufiger auf.“
Eine Verbesserung ist nicht in
Sicht, mindestens bis Donnerstagabend wird das Wetter so blei-
ben. Weiterhin marschiert eine,
wenn auch kürzere Menschenschlange als noch vor wenigen
Tagen von der Autobahn kommend entlang der Straße, die
nach Idomeni führt. „Die Neuankömmlinge haben meist gar
keine Zelte“, sagt Reynders, „sie
sitzen buchstäblich im Regen.“
Plötzlich tauchen drei Clowns
auf, mit roten Nasen, weiß geschminkten Gesichtern und
mit roten Sternen benähten,
gelb und grau gestreiften Hosen. Sie sind gerade aus Spanien angekommen. Sofort sind
sie von Kindern aller Altersgruppen umringt. Das helle Lachen
der Schar um Ivan Prado, dem
Clown aus Galizien, ringt sogar einer Gruppe von ernst blickenden Männern ein Lächeln
ab, als er mit einer riesigen gelben Plastikschere dem Reporter aus „Deitschland“ die Haarmähne schneiden will.
Einer der Männern ist Shawkat Alsalti, ein 1962 in Damaskus geborener Palästinenser –
sein Vater war 1948 aus Israel
geflohen –, der verzweifelt darüber nachdenkt, wie er der misslichen Lage an der Grenze entkommen kann. Sein Sohn lebe
mit Frau und Kind in Berlin, er
habe jedoch den Kontakt zu ihm
verloren, da sein Telefon nicht
mehr funktioniere, erzählt er.
Alsalti ist voll des Lobes für
Deutschland – doch die Nachricht, die Balkanroute sei jetzt
wirklich geschlossen, macht
ihn ratlos. „Ich war Schmied,
hatte ein schönes Haus, eine
Werkstatt, ein gutes Auskommen. Ich war glücklich – bis der
Krieg kam. Assad ist ein schlechter Mensch, die Granaten haben
alles zerstört, Krieg ist schlecht.“
Das Angebot der griechischen
Regierung, die Flüchtlinge mit
Bussen zurück nach Athen zu
fahren, will Alsalti nicht annehmen. „Vielleicht überlegen sich
die Europäer es doch noch“, erklärt er, warum er weiter im Lager bei Idomeni bleiben will.
Eben das wollen die Frauen
und Kinder nicht mehr, die in
den beiden voll besetzen Bussen
sitzen, deren Fahrer nur auf das
Zeichen der Polizei warten, um
endlich loszufahren. „Es gibt
doch viele, die jetzt müde geworden sind“, sagt ein Übersetzer, der von Umstehenden nach
Informationen über die Rückfahrt bestürmt wird.
ERICH RATHFELDER
Schwerpunkt
Digitalisierung
DON N ERSTAG, 10. MÄRZ 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Industrie und Handel freuen sich über die zunehmende Vernetzung
von Haushaltsgeräten. Was aber bedeutet sie für die Bewohner?
Ganz schön durchschaubar
KONTROLLE Die vernetzte Wohnung soll nicht nur Energie sparen, sondern das Leben auch komfortabler
und sicherer machen. Doch das Wohnen mit smarten Geräten macht den Nutzer so gläsern wie noch nie
VON SVENJA BERGT
Marco Maas spricht neuerdings
mit einer schwarzen Säule, die
auf seinem Wohnzimmerregal steht. „Alexa“, sagt er dann
zum Beispiel „livingroom light
50“. Ein paar Sekunden später
dimmen die Lampen im Wohnzimmer ihre Helligkeit um die
Hälfte. Magie? Eher das Internet
der Dinge in Gestalt einer fast
komplett vernetzten Wohnung.
Die Vernetzung von Alltagsgegenständen wie Heizungsanlagen, elektrischen Zahnbürsten oder eben Lampen, ist
eines der großen Zukunftsthemen der Digitalisierung. „Wir
rechnen mit 1,5 bis 2 Millionen
vernetzten Haushalten für das
Jahr 2020“, sagt Gunther Wagner
vom Wirtschaftsprüfer Deloitte.
Die Telekom, die selbst SmartHome-Produkte anbietet, geht
davon aus, dass im Jahr 2022
in einem durchschnittlichen
Haushalt über 500 vernetzte Geräte stehen werden. Ein Wachstumsmarkt, auf den sich Indus-
Der CO2-Gehalt in der
Luft lässt Rückschlüsse zu, wie viele Personen sich in einem
Raum aufhalten
Jemand zu Hause? Für Passanten nicht zu erkennen, für den Hersteller der Lichtanlage vielleicht schon Foto: Oliver Heissner/ plainpicture
trie und Handel gleichermaßen
freuen. Nur: Was wird die Vernetzung des Wohnens für die
Menschen heißen?
Die Zukunft ist heute schon
in Hamburg-Altona zu besichtigen. Im fünften Stock, mit Blick
über das Viertel, hat Maas, Geschäftsführer einer Agentur für
Datenjournalismus und Datenvisualisierungen, auf 60 Quadratmetern alles vernetzt, was
sich nicht schnell genug in der
Abstellkammer versteckt hat.
Von der Lampe bis zur Heizung,
von der Waage bis zur Stereoanlage. 118 Geräte sind es derzeit.
Tendenz steigend.
Begonnen hatte es 2014, als
Maas aus einer Insolvenzmasse
günstig an ein per Smartphone
steuerbares Lichtsystem herankam. Zu den Lampen kamen
schnell Bewegungsmelder, damit das Licht tatsächlich nur
dann an ist, wenn sich auch jemand in dem Raum aufhält.
Dazu Helligkeitssensoren, damit nicht tagsüber die Festbeleuchtung brennt. Mittlerweile
hat er sein System so detailliert
eingestellt, dass im Flur nur eine
Minimalbeleuchtung angeht,
wenn jemand nachts aufsteht.
Ganz ohne ­Lichtschalter. „Wenn
das smarte Haus gut funktio­
niert“, sagt Maas, „dann vergisst du, dass du es hast.“ Weil
vieles von alleine funktioniert,
und wenn nicht, reicht ein kurzer Sprachbefehl.
Doch die Vernetzung hat Nebenwirkungen. Wer in seiner
Wohnung den Lichtschalter betätigt, erzeugt normalerweise
keine Datenspuren. Gehen dagegen bei Maas die Lampen anund aus, dann weiß das nicht
nur der Hersteller des Lichtsystems. Auch Maas’ Internetprovider sieht, dass ein Befehl für
das Gerät ausgeführt wurde,
schließlich werden die Daten
übers Internet verschickt.
Das Gleiche gilt für andere
Geräte, ob sie nun die Bewegung in der Wohnung messen oder den CO2-Gehalt in der
Luft, der Rückschlüsse darüber
zulässt, wie viele Personen sich
in einem Raum aufhalten. Rund
600 Megabyte an Daten schickt
seine smarte Technik täglich
übers Netz. Das entspricht etwa
einem Spielfilm in mittlerer
Qualität.
Dass Maas diese Zahl überhaupt nennen kann, liegt daran, dass er eigens ein Gerät
eingebaut hat, das alle Daten
aufzeichnet, die seine Technik
hinausschickt. Wenn also der
kleine silberne Zylinder, der eigentlich die Lautstärke messen
soll, Gespräche mitschneidet,
würde Maas das anhand der Datenmenge merken.
Im Gegensatz zum Normalnutzer, der – wenn er nicht seine
Freizeit damit verbringt, Nutzungsbedingungen zu studieren
– gar nicht weiß, was der Hersteller des smarten Lichtsystems alles speichert und was er damit
macht. Ganz zu schweigen von
dem Problem, dass Unbefugte
aufgrund von Sicherheitslücken an die Daten gelangen können – oder sich vielleicht gleich
ins Heimnetzwerk hacken. Und
diese Daten sagen viel.
„Man wird aus den Bewegungsmustern in einer Woh-
Die Cebit
■■Messe: Am Montag startet
in Hannover die weltgrößte
Computermesse „Cebit“. Vom
14. bis zum 18. März sind dort
rund 3.300 Unternehmen aus 70
Ländern vertreten. Schwerpunktthemen sind unter anderem
Datensicherheit und die digitale
Transformation.
■■Fokus: Partnerland der diesjährigen Cebit ist die Schweiz,
die mit gut 80 Unternehmen in
Hannover vertreten sein wird.
■■Wohnen: Beim Smart Home
sind unter anderen die unterschiedlichen Standards Thema.
Denn momentan scheitert eine
Vernetzung häufig daran, dass
die verschiedenen Geräte der
unterschiedlichen Hersteller
nicht kompatibel sind. (sve)
nung eines Tages Krankheitsbilder lesen können“, ist Maas
überzeugt. Den ganzen Tag im
Schlafzimmer geblieben, mit
ungewöhnlich häufigen Abstechern ins Bad? Klar, oder? Ganz
neue Möglichkeiten, die sich
hier für Strafverfolger oder Geheimdienste ergeben. Und für
die Werbetreibenden. „Es ist nur
eine Frage der Zeit, bis es dafür
Verwertungswege geben wird“,
sagt Maas. Das Display der vernetzten Waage etwa, das gleich
ein Diätprodukt anpreist.
Dass wir eines Tages dennoch – sehr stark oder nur etwas – vernetzt wohnen werden,
davon sind nicht nur Maas und
Wagner überzeugt. Denn neben
einem Gewinn an Komfort und
Kontrolle und einer Gefahr von
Überwachung und Kontrollverlust bietet die Vernetzung noch
etwas anderes: Sicherheit, gerade für ältere, allein lebende
Menschen. Sensoren, mit Hilfe
derer bei einem Sturz automatisch ein Notruf abgesetzt wird.
Armbänder, die Vitalparameter
wie den Puls überwachen und
gegebenenfalls Alarm schlagen.
Bewegungssensoren durch die
sich feststellen lässt, wenn jemand zwei Tage lang das Schlafzimmer nicht verlassen hat.
Durch erhöhte Pulswerte, die
ihr Fitness-Armband maß, kam
eine Frau aus New York kürzlich
darauf, dass sie schwanger ist.
Werte, die auch dem Anbieter
des Armbands vorliegen – eines
Tages könnte also passende Werbung auftauchen, noch bevor die
werdende Mutter selbst von ihrer Schwangerschaft weiß.
Was passiert, wenn das mit
den Sensoren und Alarmen
mal schiefgeht, hat Maas an anderer Stelle erfahren. Nachdem
ihm seine Tasche samt Schlüsselbund geklaut wurde, stand er
bereits auf der Polizeiwache, als
sein Smartphone meldete: Da
bewegt sich etwas in der Wohnung. Mit dem Schlüsseldienst
standen daher auch gleich Beamte vor der Tür – deren Waffen allerdings nicht zum Einsatz
kamen. Bewegt hatte sich lediglich der Staubsaugerroboter.
Meinung + Diskussion SEITE 12
Programmierte Lebensdauer
SCHROTT
Elektrogeräte sind immer kürzer in Benutzung. Ihre zunehmende Vernetzung, das „Internet der Dinge“, wird diese Entwicklung noch beschleunigen
BERLIN taz | Hersteller, die ge-
zielt Schwachstellen in ihre Geräte einbauen, um die Lebensdauer zu verkürzen? Für das Umweltbundesamt ist klar: Zwar
würden Geräte immer kürzer
genutzt. Aber eine geplante
Obsoleszenz, der gezielte Einbau von Mängeln, „kann nicht
nachgewiesen werden“.
So lautet das Fazit einer Studie, die im Februar vorgestellt
wurde. Geklärt ist damit allerdings noch lange nichts, auch
wenn der Nachweis einer Nicht­
existenz immer schwer zu führen ist. Doch selbst wenn keine
Planung hinter einer immer
kürzeren Lebensdauer stecken
sollte – was ist mit in Kauf genommenen Schwachstellen?
Mit dem Internet der Dinge,
der Vernetzung von Alltagsgeräten, wird sich diese Frage noch
häufiger stellen. Wenn nicht nur
Telefone, Uhren und Fernseher
mit Software und Internetanbindung ausgerüstet werden,
sondern auch elektrische Zahnbürsten, Waschmaschinen und
Waagen, steigt die Zahl der Geräte, die unbrauchbar bis gefährlich werden können – nämlich bei einer Sicherheitslücke.
Beim Smartphone-Betriebssystem Android zeigt sich schon
heute, wie das in Zukunft aussehen könnte. Denn so richtig
verantwortlich dafür, dass die
Geräte Updates erhalten, fühlt
sich hier niemand. Google als
Hersteller des Betriebssystems
nicht, weil alle Gerätehersteller
das System immer individuell
anpassen wollen. Die Gerätehersteller haben dagegen kein Interesse, die Kunden mit Updates
zu versorgen. Schließlich wollen sie den Nutzern möglichst
schnell wieder ein neues Gerät
verkaufen.
Das Computermagazin c’t
kam in einer Untersuchung
im vergangen Jahr zu dem Ergebnis: Von zehn Herstellern
brachten vier nicht einmal für
jedes zweite Gerät Updates heraus. Für Nutzer, die ihr Smartphone nicht nur zum Telefonieren verwenden, sondern damit
auch Videos schauen oder sogar
Onlinebanking machen wollen,
kann das zum Problem werden.
Und selbst wenn die vernetzte
Waschmaschine nicht onlinebankingfähig sein muss – eine
Sicherheitslücke in der Software
kann hier von Angreifern beispielsweise dazu genutzt werden, Zugriff auf das Heimnetz-
werk zu bekommen. Und etwa
dem heimischen PC einen Trojaner verpassen.
Um die Lebensdauer von Geräten nicht weiter sinken zu
lassen, schlägt Umweltbundesamtspräsidentin Maria Krautzberger eine Mindesthaltbarkeit
vor. Wenn dann auf dem Fernseher steht „Bei durchschnittlicher Nutzung ausgelegt auf ein
eLebensdauer von einem Jahr“,
könnte vielleicht die Nachfrage
die Sache regeln. SVENJA BERGT