taz.die tageszeitung

10 Seiten zur Wahl in Baden-Württemberg
Das ist schon jetzt die Abstimmung des Jahres: Eine Sonderausgabe
der Berliner taz zusammen mit der Kontext: Wochenzeitung aus Stuttgart
AUSGABE BERLIN | NR. 10961 | 9. WOCHE | 38. JAHRGANG
SONNABEND/SONNTAG, 5./6. MÄRZ 2016 | WWW.TAZ.DE
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Schwerpu
Heft 4/1.20nktthema
16
Crescendo
in Kretschland
D a s Fr e m d
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mit Texten
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Altvater, A on
uchter, Hirs
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Musfeld, Ro
Weigand u. hr, Volk,
a.
DIGITALES LEBEN
Kann der Computer
Ethik lernen?
BADEN-WÜRTTEMBERG
Algorithmen machen das
Leben bequemer, beim
Einkauf im Netz wie beim
Dating. Die besseren
Entscheidungen treffen sie
nicht, fair sind sie kaum.
Es gibt Menschen, die das
ändern wollen SEITE 21–24
Noch eine Woche: Dann
entscheidet sich, ob der
Grüne Ultrarealo
Regierungschef bleibt, ob
die alte CDU-Bastion
explodiert und ob die SPD
zum Winzling wird.
Alles über das SpätzleSpektakel SEITE 3–11
HEIMKEHR Fünf Jahre
nach Fukushima. Eine
Fotoreportage SEITE 26, 27
taz.berlin
TEMPELHOF Leiten Sie
ein Lager? Doch, sagt
der Chef der Flüchtlingsunterkunft SEITE 50, 51
Illustration: Drushba Pankow
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Leselust: 2016
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Leipziger
Buchmesse
02
TAZ.AM WOCH EN EN DE
Kompass
SON NABEN D/SON NTAG, 5./6. MÄRZ 2016
Aus dem Inhalt
Wahl-Spezial
Herausforderer Was
steckt hinter der Brille
von CDU-Herausforderer
Guido Wolf? Ein Porträt Seite 4
S 21 Wo machen die Galionsfiguren des Protests
ihr Kreuz? Eine Wahl­
umfrage Seite 7
Psychogramm Kretschland! Der Ministerpräsident ist so populär,
weil er das Land mit sich
versöhnt hat Seite 8, 9
Zukunft Der Machthunger ist groß: Nach der
Wahl könnte sich die CDU
zerfleischen. Ein Bild der
Fresskette Seite 11
Argumente
Ökonomie Die Kulturindustrie galt lange als
neoliberale Vorzeigebranche. Endlich arbeitet
sie an dem Image Seite 15
Comic Der zweite Teil von
Rias Sattoufs „Der Araber
von morgen“ erscheint.
Ein Treffen mit dem
Zeichner Seite 17
Kino „Son of Soul“ zeigt
gerade nicht die Hölle
von Auschwitz. Trotzdem
gab’s einen Oscar Seite 19
Pop Auch in China ist
Punk tot. Was machen
seine Erben? Seite 20
Gesellschaft
Ethik Algorithmen entscheiden immer mehr –
oft ungerecht. Kann man
Software Moral antrainieren? Seite 21–24
Geisterort Vor fünf Jahren explodierte Fukushima. Eine Fotografin
kehrt mit Menschen in ihr
Zuhause zurück
Seite 26, 27
Genuss Um Geschmack
dreht sich hier nicht alles.
Das Restaurant als politischer Ort Seite 28
Sachkunde
Bildung Deutschland ist
ein Einwanderungsland,
die Schulbücher sind
aber immer noch voller
Stereotype Seite 33–35
Medien
Krimi Drei Engel für Dresden. Im neuen „Tatort“
regieren fast nur Frauen
das Kommissariat Seite 38
Reise
Südkorea Auf der Insel
Jeju hatten einst Frauen
das Sagen. Jetzt nur noch
Taucherinnen Seite 40, 41
AUS DER TAZ SEITE 29
TAZ.LAB SEITE 30, 31
LESERBRIEFE SEITE 37
TV-PROGRAMM SEITE 38
DIE WAHRHEIT SEITE 44
Jugendschwarm mit
weißem Haarkranz
LEKTIONEN
5 Dinge, die wir
diese Woche
gelernt haben
1. Berlin hat zu viel Bienen
Der Bundestag legt sich ein
neues Volk zu. Im Innenhof eines Parlamentsgebäudes sollen
im Mai 50.000 Bienen Heimat
finden. Was aus demokratietheoretischer Sicht einen netten Wortwitz abgibt, ruft allerdings die Bienenhalter auf den
Plan. Berlin, schon seit einigen
Jahren Hauptstadt des Urban
Gardening, habe inzwischen
eine Bienendichte von sechs
Völkern pro Quadratkilometer,
sagte Petra Friedrich vom Deutschen Imkerbund der Süddeutschen Zeitung: Das sei absurd
zu viel.
D
ie Grünen brauchen Moralisten. Das sagt nicht
nur der SZ-Leitartikler
Kurt Kister, das glauben auch wirklich realitätsorientierte Spitzengrüne. Ohne
Moralisten, so geht der Gedanke,
wären sie nicht mehr singulär,
denn gegen Atomkraft und für
Schwulenehe seien ja andere
längst auch.
Ein fataler Irrtum. Kein
Mensch braucht Moralisten.
Die Politik schon gar nicht. Moralismus ist die schlimmste
Droge überhaupt, ist antigesellschaftlich und macht politikunfähig, weil er davon ausgeht, in
der Politik gehe es um die absolute Unterscheidung zwischen
dem Guten und dem Bösen. In
einer Demokratie geht es aber
um das Gewinnen von Mehrheiten für eine politische Lösung.
Das ist der große Schritt, den die
Menschheit mit der Aufklärung
getan hat. Das ist der Schritt, den
manche Grüne bis heute nicht
nachvollzogen haben. Wenn ein
grüner Moralist seinem handlungsverantwortlichen Partei-
Nach der Niederlage bei den Vorwahlen am Super Tuesday hofft Bernie Sanders auf die Demokraten von
Nebraska, Kansas und Maine. Der Anteil von Afroamerikanern ist in diesen Staaten geringer. Seine
Ankunft in Kansas City am Donnerstag behandelten seine Unterstützer wie den Auftritt eines Popstars.
Der Herausforderer von Hillary Clinton kam frisch vom Friseur. Selbst dort waren Kameras und Fans.
Foto: Dave Kaup/reuters
2. Paris gilt nicht mehr
Irgendwas läuft schief mit der
Energiewende in Europa. Im
Dezember wurde der Klimagipfel von Paris noch allseits bejubelt. Und nun? In Frankreich
hat Energieministerin Ségolène
Roy­al eben eine Verlängerung
der Laufzeiten für die Atomkraftwerke auf 50 Jahre vorgeschlagen. Der Markt mit Erneuerbaren kommt dort nicht in
Schwung. Und in Brüssel glaubt
die EU-Kommission, es sei schon
alles getan, um das 1,5-Grad-Ziel
von Paris zu erreichen. Das kritisierten in dieser Woche Klimaschützer scharf. Europa drohe
den Anschluss zu verlieren.
3. Der deutsche Pass ist am
nützlichsten
Reisefreiheit ist hierzulande ein
hohes Gut, das weiß man seit
dem Mauerfall. Und tatsächlich,
nichts ist leichter, als mit einem
deutschen Pass zu reisen. Nach
dem neuen Index für visafreies
Reisen der Beratungsfirma Henley & Partners kommt man mit
der bordeauxroten Pappe ohne
weitere Formalitäten in 177 Staaten. Das ist Platz eins, vor Schweden und Finnland. Und wessen
Papiere gelten bei Grenzkontrollen gar nichts? Libyen, Syrien und Afghanistan sind die
Schlusslichter auf dem Index.
4. Podemos koaliert
Im spanischen Parlament kam
es in dieser Woche zu einer unheimlichen Allianz. Die linke
Bürgerbewegung
Podemos
stimmte gemeinsam mit den
Konservativen – gegen die Wahl
von Sozialisten-Chef Pedro Sánchez zum neuen Ministerpräsidenten. Seit zweieinhalb Monaten wartet das Land nun schon
auf eine neue Regierung. Die
Wahl vom 20. Dezember 2015
hatte die Parteienlandschaft
ziemlich aufgemischt. Neben
Podemos sitzen auch die liberalen Ciudadanos im Parlament.
Drohen Spanien nun belgische
Verhältnisse? Nach der Wahl
2010 war das Land 541 Tage
ohne Regierung. Wenn bis zum
2. Mai kein Premier feststeht,
sind Ende Juni Neuwahlen fällig.
5. Ein neues Wort: Tortung
So heißt ein politisch motivierter Tortenwurf, wie Wikipedia
elegant schreibt. Und es ist seit
Ende der 60er Jahre ein beliebtes Mittel der Bloßstellung oder
besser: Adelung. Die Liste der
Persönlichkeiten, die sich Sahnecreme abwischen mussten, ist
eine illustre: Darauf finden sich
Christoph Blocher, Daniel CohnBendit, Bill Gates, Karl-Theodor
zu Guttenberg, Bernard-Henri
Lévy, Günther Oettinger, Nicolas Sarkozy, Jürgen Trittin. Und
seit dieser Woche auch AfDRechtsaußen Beatrix von Storch.
JÖRN KABISCH
Das Zitat
„Sie gehen da weiter als die NSDAP in
ihrem Programm“
VERFASSUNGSRICHTER PETER MÜLLER ZUM
NPD-VORSITZENDEN FRANK FRANZ
Foto:dpa
Kultur
DI E EI N E FRAGE
Moralismus ist die schlimmste Droge
BRAUCH EN DI E GRÜN EN MORALISTEN?
GRUN DSÄTZLICH ES ZUM „FALL“ VOLKER BECK
freund vorwirft, er habe moralische „Ideale“ für „einen Appel
und ein Ei verkauft“, dann ignoriert er schlicht die Realität: Ideale können nicht demokratisch
umgesetzt werden.
Selbstverständlich braucht
eine sozialökologische Politik
eine moralische Basis und Orientierung. Aber die hat eine
christ- oder sozialdemokratische auch. Die Grundsünde der
Grünen war es, sich von anderen aufschwatzen zu lassen oder
gar selbst zu denken, sie müssten bessere Menschen sein. Das
kann nur falsch sein.
Sie müssen das bessere sozialökologische Politikangebot
machen. Und dafür Mehrheiten gewinnen und bewahren.
Der Grundirrtum mancher
linksgrünen Begeisterung über
die CDU-Kanzlerin Merkel liegt
darin, ihr zu unterstellen, sie sei
PETER UNFRIED
IST TAZ-CHEFREPORTER
auf ihre alten Tage endlich auch
moralisch geworden. Das wäre
furchtbar, denn dann wäre auch
sie politikunfähig. Merkel hat
offenbar eine Überzeugung, wie
man als Teil der EU und der Welt
mit der globalen Flüchtlingsbewegung umgehen muss. Verglichen mit den meisten europäischen Staaten hat sie einen hohen moralischen Standard. Aber
was zählt, ist, was sie durch politische Kompromisse und Deals
politisch umsetzen kann. Man
muss sich für eine gemeinsame
planetarische Zukunft mit Leuten einlassen, mit denen man
lieber nichts zu tun hätte. Für
uns sind andere der Teufel, für
andere sind wir der Teufel. Das
ist die moralische Realität.
Was nun den grünen Spitzenpolitiker und Obermoralisten
Volker Beck betrifft, den die Polizei mit der harten Droge Crystal
Meth erwischt hat. Es hat etwas
Unsouveränes, wie die Grünen
sich dazu verhalten. „Ein tragischer Einzelfall“? Solche Kommentierungen wünscht man
wirklich niemand.
Es ist letztlich reaktionär,
dem CSU-Vorsitzenden Horst
Seehofer eine polyamore ZweiFamilien-Realität als Verpassen seiner Ideale vorzuwerfen.
Stattdessen soll er seine Politik
der Realität anpassen. Und genauso hat es etwas Unaufgeklärtes, Beck jetzt vorzuhalten, gerade ihm als Moralisten hätte
das nicht passieren dürfen.
Falsch. Moralisten passiert so
etwas auch. Das ist nicht das Problem, das ist die Wirklichkeit, in
der wir alle unsere moralischen
Ansprüche und unser Handeln
ausbalancieren müssen.
Wir brauchen keine Robes­
pierres, für deren Moral die
Köpfe rollen. Aber wir brauchen
auch keine rollenden Köpfe von
Moralisten. Und schon gar nicht
brauchen wir scheinheilige Moralansprüche an Politiker.
Ein Mensch, der ein juristisches Problem hat, soll seine
Strafe zahlen oder abbüßen. Ein
Mensch, der ein persönliches
oder gesundheitliches Problem
hat, soll sich Zeit nehmen, um
zu regenerieren. Und dann soll
er wiederkommen und weitermachen. Da Politiker Menschen
sind, gilt das selbstverständlich
auch für sie. Das ist gelebte, aufgeklärte Moral.
Spätzle-Spektakel
EI N E KOOPERATION ZWISCH EN DER KONTEXT:WOCH ENZEITU NG U N D DER
VON TAZ-CHEFREDAKTEUR
GEORG LÖWISCH
F
rühmorgens stehen die Kreuzberger bei Sporys in der Katzbachstraße um badisches Brot an, mittags schmausen Start-upper in
den Schwarzwaldstuben in Mitte Maultaschen oder Käsespätzle, und abends
am Schlesischen Tor decken sich Hipster beim Späti mit Rothausbier ein. In
der Berliner Politik ist es schon so, dass
Özdemirs Schwäbisch niemandem
mehr auffällt, Schäuble für so ziemlich alles kritisiert wird, aber nicht wegen seiner badischen Ironie, und dass
sogar die Linke in Bernd Riexinger als
Chef einen Schwaben hat, der einst bei
der Leon­berger Bausparkasse anfing.
Integration gelungen, vergessen sind
die Zeiten, da sich Berlin über den Einmarsch des schwäbisch-spießigen
Pietkongs aufregte und über die CDUDauer­herrschaft dort unten lieber peinlich berührt schwieg. Nun steht auch
noch die Wahl in Baden-Württemberg
am 13. März an. Und Deutschland interessiert sich, weil es die spannendste
Wahl seit vielen Jahren ist.
Das neu gewachsene Bild von Baden-­
Württemberg muss nur noch bei einer
Gruppe ankommen: bei den BadenWürttembergern.
Das wird schwer. Denn sie tragen einen Provinzkomplex mit sich ­herum,
gegen den sie jahrzehntelang vergeblich angekämpft haben. Sie taten dies,
Selbstbild und Fremdbild, Stuttgarter Brille und Berliner Blick – wie
kommt man zu einem angemessenen
Bild?
Eine Woche vor der Landtagswahl
­haben die Redaktionen von Kontext
und taz ihre Kräfte zusammengeschmissen. Die Kontext:Wochenzeitung
liegt seit nunmehr fünf Jahren der taz.
am wochenende bei. Aber die taz hat
auch einen eigenen Südwestkorrespondenten, und die Kontextseiten
sind unabhängig und selbstverständlich kein Beilaufböppele
der taz. Aber in dieser Ausgabe
haben wir einmalig und mit
vereinten Kräften ein extradickes Paket zu Baden-Württemberg und dieser Wahl
gepackt.
Es steht ja auch eine
Menge auf dem Spiel am
13. März. Zieht die AfD tatsächlich zweistellig ins
Parlament des drittbevölkerungsreichsten Bundeslandes ein? Drücken die
Wähler_in­nen die SPD wirklich Richtung 13 Prozent herunter? Macht der Ultra­realo Kretschmann noch mal das Rennen? Kommen die Grünen erstmals vor der
CDU ins Ziel? Oder war’s das?
Hat sich der Ministerpräsident in der Mitte verirrt?
Und was geschieht, wenn
die CDU mit Guido Wolf –
Ihr habt doch
einen Komplex
Wir essen hier schon lange
Maultaschen. Trotzdem reduzieren
sich die Baden-Württemberger zum
Länderfinanzausgleichkrösus.
Zeit für ein Ende der schwäbischen
Minderwertigkeitsgefühle, egal wie
die Wahl am 13. März ausgeht
BERLINBLICK
indem sie sich aufplusterten, zum
Länderfinanzausgleichkrösus,
zum
Weltmarktführerweltmeister und was
weiß ich nicht alles. Sie haben eine
Lan­desvertretung neben den Berliner
­Tiergarten betoniert, der die benachbarten Botschaften von Indien und
Südafrika durchaus bescheiden aussehen lässt und die in ihrem Bombast
wirkt wie die überirdische Variante
von Stuttgart 21. Es ist ein Monument
schwäbisch-­badischen Minderwertigkeitsgefühls.
Zwischendurch gab es einmal den
Versuch, dem Komplex, also sich selbst,
ein Schnippchen zu schlagen, indem
man mit dem Slogan „Wir können a
­ lles.
Außer Hochdeutsch.“ in die Offensive
ging. Darin schwang aber ­immer noch
mit, dass sich ein wenig entschuldigen
muss, wer aus Baden-Württemberg ist
und dies – anders als der Autor dieses
Textes – nicht zu verheimlichen vermag.
in der Flüchtlings­politik
„zwischen Merkel und
Seehofer“ – zerbröselt?
Schließlich: Welche Auswirkungen hat das auf
Merkel?
Guckt man heute von
Berlin auf Baden-Württemberg, dann schaut
es größer aus als früher.
Und vielleicht ist das ein
Ergebnis der Wahl – egal,
wie sie ausgeht. Dass Baden-Württemberg der
Welt seine Wichtigkeit
gar nicht mehr mitteilen muss, dass es sich
nicht mehr so arg aufplustern muss. Wenn
der Südwesten seinen
Komplex überwindet –
das wäre historisch.
Illustration: Juliane Pieper
03
SAMSCH DAG/ SON N DAG, 5. /6. MÄRZ 2016
TAZ.AM WOCH EN EN DE
Wir sind
Schwabenpunk
Im Südwesten sind wir
längst das Musterland der ordentlichen
Empörung. Der Albtraum aus Kittel­
schürze und Kehrwoche ist vorbei.
Hier wird sogar gekifft. Wenn’s keiner
mitbekommt – auch wurschd
STUTTGARTBLICK
VON KONTEXT-REDAKTEUR
JOSEF-OTTO FREUDENREICH
N
eulich
auf
Arte: „Stuttgart – das
neue Seattle“.
Hoppla, denken sich
die Schwäbin und
der Schwabe, was
ist da passiert?
Wird doch nix
schiefgegangen
sein. Nein, ist es
nicht. Die Punkband „Die Nerven“ wurde vom
bilingualen Kulturkanal geadelt, mit
einem langen Beitrag.
Das sei der Ritterschlag,
sagt Kontext-Volontärin
Elena Wolf, die nebenbei
noch die Frontfrau von „Ursus“
macht, ebenfalls einer Punkband.
Und danach streift die Kamera durch
verkiffte WGs, durch die ebenso ungekehrten Wagenhallen, das Eldorado für
alle Kreativen am Neckar, um schließlich mit der O-Ton-Frage zu enden: Was
geht eigentlich gerade in Stuttgart ab?
Tja, liebe Berliner, Exilschwaben und
sonstigen Nicht-Baden-Württemberger, da ist einfach Musik drin, im südwestlichen Zipfel der Republik. Die taz
hat das früh erkannt, und aus der Erkenntnis erwuchs die Kooperation mit
Kontext, mit der beide Partner, in aller
Unabhängigkeit, sehr zufrieden sind.
Das Wahl-Special bringt das richtig gut
zum Ausdruck.
Erinnert sei an dieser Stelle auch
an Stuttgart 21, an den beharrlichen
Wider­stand gegen ein blödsinniges Immobilienprojekt. Und genauso nachdrücklich sei betont, dass dessen Bau
nur in Berlin als gesichert gilt beziehungsweise dessen Gegner zu Toten erklärt werden. Das ist nicht so, denn in
den Köpfen lebt das Aufständische weiter. Da fragt mal den linken Theatermann Volker Lösch, dessen Furor ungebrochen ist. Er will den S-21-Protest
gar zum Prinzip erheben. Gegen alles,
was finster ist. Pegida, AfD, Fremdenhass. Das Rebellische in diesem Landstrich kommt langsam, hält dafür aber
auch länger.
Immerhin war Kretschmann auch
mal beim KBW, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland. Nun
verteilt der Ministerpräsident längst
keine Kommunistische Volkszeitung
mehr vor den Werkstoren, was seinen
Landeskindern womöglich unheimlich
erschienen wäre. Aber a bissle erweckt
er noch den Eindruck, als sei er ganz
bei ihnen. Jedenfalls näher als Guido
Wolf (CDU), das politische Phantom, das
bundesweit erst aufgefallen ist, als es
der Kanzlerin ein Plüschtier überreicht
hat. Jener Wolf, so heißt es, durfte den
Herausforderer nur deshalb geben,
weil sein Mitbewerber, der SchäubleSchwiegersohn Thomas Strobl, einen
kapitalen Fehler gemacht hat: eine
Homestory in der Bunten. Ein Häusle
baut man, zeigt es aber nicht. Zumindest nicht bei den Schwarzen.
Die Grünen sind da offener. Kretschmann bekennt sich zu seinem dicken
Dienst-Daimler, weil er in MercedesCity keinen Fiat fahren kann, sein
Bündnis freut sich über einen dicken
Scheck des Arbeitgeberverbandes Südwestmetall und verkündet, es sei die
„neue Wirtschaftspartei“ im Südwesten. Missgünstige Menschen sprechen
auch von einer grünen FDP. Von der
SPD spricht eigentlich niemand mehr.
Es sei denn mit einem Schulterzucken.
Nun ist die Frage, wie hoch das Empörungspotenzial ist, links von der
Mitte, in der sich CDU, SPD, FDP und
Grüne gegenseitig auf den Füßen stehen. Es ist ja nicht so, dass alle Kretschmann umschwärmen wie die Motten
das Licht. Die leidenschaftlichen S-21-­
Gegner gewiss nicht. Jene, die sich viel
mehr vom „Gehörtwerden“ versprachen, nicht. Jene, die mehr soziale Gerechtigkeit fordern, nicht. Jene, die eine
solidarische Flüchtlingspolitik wollen,
nicht. Jene, die einfach mehr Punk und
Power wollten, nicht.
Wie groß diese schwäbisch-badische
APO ist, weiß niemand. Aber Obacht:
Stuttgart ist nicht nur die Hauptstadt
des Feinstaubs und der Staus, Stuttgart ist auch eine Metropole der Demos.
Rein rechnerisch finden hier 3,39 Protestaktionen am Tag statt, summa summarum 1.239 im Jahr 2015. Ja, es kann
ganz schön bunt sein in dieser Stadt, in
der es eben nicht nur Daimler, Porsche
und Weindörfer gibt. Wohin das Bunte
wandert, so es denn in einer Urne landet, kann niemand vorhersehen.
Klar ist nur, dass ein „Weiter so“, eine
Kroße Koalition der geschmeidigen
Mitte, stinklangweilig wäre. Ein Zurück
zu Kittelschürze und Kehr­woche – ein
Albtraum. Die „Lümmel im Landtag“,
wie unsere Volontärin Elena schrieb,
brauchen dringend Feuer unterm Hintern. Wir wollen doch, dass das Muster­
land, ganz selbstbewusst, ein Muster wird für Menschen, die sich noch
richtig empören können. Und gehört
werden.