Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Naomi Schenck: Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12
Hanser Berlin
335 Seiten
22,90 Euro
Rezension von Barbara Dobrick
Dienstag, 03.05.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Als Günther Schenck 2003 starb, hat er seiner Enkeltochter Naomi die Rechte an seiner
Biographie vermacht. Das war mehr ein Auftrag als ein Erbe, und sie wollte ihn erfüllen,
obwohl ihr Großvater Chemiker war und sie keine Ahnung von Chemie hat. Aus ihrer
Spurensuche ist ein Buch mit dem Titel „Mein Großvater stand vorm Fenster und trank
Tee Nr. 12“ geworden. Barbara Dobrick hat es nicht überzeugt.
Naomi Schenck befragt ehemalige Mitarbeiter, Freunde und Nachbarn ihres Großvaters
und Familienmitglieder. Vor allem steht sie in engem Kontakt mit ihrem Vater, der selbst
Chemiker ist und außerdem das Familienarchiv betreut. Die Schencks können ihre
Geschichte bis zu den Bauernkriegen zurückverfolgen und haben viele interessante Leute
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in ihren Reihen, Amtmänner, Politiker, Pastoren und eben auch Naturwissenschaftler. Seit
Generationen sind sie bildungsfreudig, karriere- und standesbewusst und zählen sich zur
geistigen Elite. So auch der 1913 geborene Chemiker Günther Schenck.
Warum trat er 1937 in die NSDAP ein, fragt sich Enkeltochter Naomi. Diese Mitgliedschaft
ist längst bekannt, dennoch heißt es in der Familie, ein Nazi sei der Großvater nicht
gewesen, und Naomi Schenck möchte es gern glauben, denn sie hat ihn geliebt. Sie
entdeckt, dass der Großvater aber auch SA-Mitglied war, seit 1933 schon. Sie schreibt:
„Ich will etwas über ihn herausfinden, doch zugleich will ich mein Bild von ihm bestätigt
finden.“
Auf Seite 45 bereits schreibt sie, ihr Großvater habe ein Kontaktgift für die Nazis
entwickelt, dem der bulgarische König Boris zum Opfer gefallen sein könnte. Mehr als
diesen Verdacht findet Naomi Schenck nicht dazu.
Der Pionier der Photochemie war ganz und gar von seinem Forschergeist durchdrungen.
Dem ordnete er alles unter, seinen Tagesablauf, seine Nahrungsaufnahme, seine Familie
und eben auch seine offizielle politische Ausrichtung.
Im Krieg war er nur kurz Soldat, dann wurde er unabkömmlich gestellt. Das verdankte er
seinem Lehrer und Mentor, Karl Ziegler. Einen Nobelpreis wie Ziegler bekam Günther
Schenck nicht, aber er war bis an sein Lebensende ein geradezu besessener und
verdienstvoller Wissenschaftler, zuletzt an der Uni Göttingen, am Max-Planck-Institut und
in seinem privaten Labor. Kriegsrelevant war seine Arbeit nicht, aber die Enkeltochter fragt
beharrlich nach Schuld und Verantwortung von Schenck und Männern in dessen Umfeld;
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Schenck sei unpolitisch gewesen, wird über ihn gesagt. Die Enkelin empfindet das als
Mangel.
Auf den Spuren ihres Großvaters und auf den Spuren auch des eigenen Lebens
unternimmt die 1970 geborene Autorin Reisen an viele Orte bis nach Amerika, macht
Abstecher in zahlreiche Lebensläufe in und außerhalb ihrer Familie, bis hinein in die von
Zufallsbekanntschaften. Schließlich blättert sie in einem Schnelldurchlauf ihre
Familiengeschichte bis zurück ins 16. Jahrhundert auf.
All dem fehlt Stringenz, und die Autorin verliert immer wieder ihr Ziel aus den Augen, dann
wird ihr Text ein Bericht über ihre Recherche, deren Ergebnisse sie selbst nicht
befriedigen. Vor allem wird die zu Beginn geschürte Erwartung enttäuscht, dass sie
schließlich doch etwas Aufregendes über das Wirken Günther Schencks in der Nazizeit in
Erfahrung bringen könnte.
Dass man Naomi Schenck auf ihren mäandernden Wegen nicht immer gern folgt, liegt
auch am Stil. Sie streut Dialoge ein, die manchmal arg banal klingen; es gibt etliche
Wiederholungen, und sprachliche Schnitzer gibt es auch.
Eine Biographie ihres Großvaters ist ihr Buch nicht geworden, das sagt sie selbst, und sie
nennt ihre Bemühungen beschwerlich, lang und aufreibend. Das spürt man leider auch
beim Lesen. Naomi Schencks Text ist ein Kaleidoskop von Fragen und Assoziationen,
Rechercheschnipseln, Reflektionen und Bruchstücken eines Psychogramms. Manches
davon ist durchaus interessant, aber vielleicht hätte all das noch reifen müssen, um
daraus ein packendes Buch zu machen.
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