Manuskript

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SWR2 DIE BUCHKRITIK
Irmgard Keun: Kind aller Länder
Roman
Verlag Kiepenheuer & Witsch. Köln 2016
222 Seiten
17,99 Euro
Rezension von Ulrich Rüdenauer
Mittwoch, 04.05.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Irmgard Keun wurde 1905 in Berlin geboren – auch wenn sie das Geburtsjahr später ein
wenig frisierte: Als 1931 ihr erster Roman „Gilgi, eine von uns“ erschien, passte sie sich
dem Alter ihrer Heldin an und machte sich fünf Jahre jünger. Irmgard Keun wurde rasch zu
einem Star. Schon ein Jahr später folgte „Das kunstseidene Mädchen“, und die Autorin
war das literarische It-Girl der Saison. Lange auskosten konnte sie den Ruhm freilich nicht.
Die Nazis verboten ihre Bücher; an eine Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer war
nicht zu denken. In Deutschland gab es keine Verdienstmöglichkeiten mehr. Keun verließ
das Hitler-Reich, schrieb noch einige Romane. Zwischen 1940 und 1945 lebte sie illegal
wieder in Deutschland, und nach dem Krieg teilte sie das Schicksal vieler Emigranten: In
der Bundesrepublik hatte sie keinen Erfolg mehr, sie war eine der vertriebenen,
vergessenen Autoren. Dass es sich aber lohnt, das Werk Irmgard Keuns in der
Öffentlichkeit zu bewahren, zeigt nun eine Wiederveröffentlichung des 1938 erschienenen
Romans „Kind aller Länder“, dem ein Nachwort Volker Weidermanns beigegeben ist – der
erst vor kurzem Irmgard Keun und ihre Beziehung zu Joseph Roth in den Mittelpunkt
seines Doku-Romans „Ostende“ gerückt hat. „Kind aller Länder“ ist kein Hauptwerk von
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Irmgard Keun, aber doch eine reizvolle Lektüre, wie unser Mitarbeiter Ulrich Rüdenauer
findet.
1936 ging auch Irmgard Keun – wie so viele Schriftsteller vor und nach ihr – ins Exil. Sie
war Anfang der 1930er Jahre mit ihren Romanen „Gilgi, eine von uns“ und „Das
kunstseidene Mädchen“ zu einer Art literarischem Fräuleinwunder der späten Weimarer
Republik geworden. Ihre Bücher fügten sich gut in das ein, was man als Neue Sachlichkeit
charakterisierte; sie waren zudem unterhaltsam, und ihre Protagonistinnen waren junge,
selbstbewusste Frauen. In Alfred Döblin und Kurt Tucholsky fand Keun damals gewichtige
Fürsprecher. „Aber ich will schreiben wie Film“, sagt eine ihrer Figuren, „denn so ist mein
Leben und wird noch mehr so sein.“ Wie ein Film ist in diesen Jahren auch das Leben der
Autorin. Ihre Bücher werden von den Nazis auf den Scheiterhaufen geworfen; in Hitlers
Deutschland hat sie keine Zukunft mehr. Mitte der 30er Jahre landet sie in Ostende, wo zu
dieser Zeit die Crème de la Crème des deutschen Geisteslebens gestrandet ist. Sie lernt
Joseph Roth kennen, verliebt sich in ihn, und sie teilt auch seine Alkoholsucht. Zwei Jahre
reisen die beiden Vertriebenen, die auch Getriebene waren, zusammen durch halb
Europa; es muss wie ein Rausch gewesen sein, schmerzhaft und produktiv zugleich.
Irmgard Keun schreibt in dieser Zeit vier Romane: „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht
verkehren durften“, „Nach Mitternacht“, „D-Zug dritter Klasse“ und „Kind aller Länder“.
Letzterer, ursprünglich 1938 im Amsterdamer Exilverlag Querido erschienen, wird nun in
einer neuen Ausgabe präsentiert: Wer die inzwischen kaum noch gelesene Autorin nicht
kennt, wird sie mit diesem Buch schätzen lernen. Es erzählt die Emigrationsgeschichte
des zehnjährigen Mädchens Kully, und die vom Anfang bis Ende durchgehaltene
Kinderperspektive transportiert so viel Charme und Witz und Traurigkeit, dass man
zuweilen gar nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Kully ist mit ihren Eltern in
Hotels zu Hause. Der Vater ist Schriftsteller; Joseph Roths Züge zeichnen sich in dieser
Figur unverkennbar ab: ein trinkender, exzessiver, melancholischer Lebemann, der
Romane und Artikel schreibt, ständig in Geldnöten ist, durch verschiedene Länder reist,
um die Existenz der Familie zu sichern und an Aufträge zu kommen, aber auch um
anderen Frauen seine Aufwartung zu machen. Ostende, Amsterdam, Nizza, New York –
das sind nur einige Stationen der nomadischen Flucht vor dem langen Schatten Hitlers
und den ewigen Geldsorgen. „Nach Deutschland gehen wir nie mehr zurück“, weiß die
kleine Erzählerin. „Das brauchen wir auch nicht, denn die Welt ist sehr groß.“ Die Welt ist
nicht nur groß, sondern auch von einer schier unbegreiflichen Fülle: Dem Kinderblick ist
alles bemerkenswert und nicht selten in seiner Unverständlichkeit faszinierend. Die
leichten Verschiebungen zwischen drastischer Realität und unbedarfter Wahrnehmung
bringen eine eigene Wahrheit ans Licht, die immer wieder staunen macht: Es ist eine
Hellsicht in diesem Roman, eine zügellose Fantasie und eine betörende Offenheit. Keun
hat die vermeintlich naive Kinderperspektive in eine Kunstsprache gekleidet, die
unschuldig und schelmisch zugleich ist. Mit wenigen kurzen Beschreibungen werden die
Verhältnisse um sie herum und das Verhalten der Erwachsenen durchschaut; die vielen
Details, die das Kind über die politische Lage mitbekommt, baut es mit seinen Mitteln
spielerisch in den eigenen Kosmos ein. Das ist entlarvender als ein satirischer Aufsatz
oder ein radikales Manifest. Irmgard Keun hat den Ängsten, Zweifeln, Absurditäten, aber
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auch den heiteren Momenten des Exils eine Form und eine Stimme gegeben, die fast 80
Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches eindrücklich ist und Dinge ausspricht, die
seltsam gegenwärtig klingen: „Aber wir sind Emigranten“, denkt sich Kully, „und für
Emigranten sind alle Länder gefährlich, viele Minister halten Reden gegen uns und
niemand will uns haben, dabei tun wir gar nichts Böses und sind genau wie alle anderen
Menschen.“ Und ohne je altklug zu sein, ist die Keunsche Heldin alterslos weise – Zitat:
„Manchmal weiß ich nicht, ob ich Erwachsene nicht verstehe oder ob sie mir einfach zu
dumm sind.“ Irmgard Keun, schreibt Volker Weidermann in einer biografischen Notiz, die
dem Band angehängt ist, habe immer „ein dichterisches Verhältnis zur Wahrheit und zu
ihrem Leben“ gehabt. Sie hat sogar lange Zeit über ihr Alter geschwindelt und sich fünf
Jahre jünger gemacht, als sie war. Liest man „Kind aller Länder“, dann ahnt man, dass
Irmgard Keun sich sogar in eine Zehnjährige verwandeln konnte – mit dem, was ihr zur
Verfügung stand: der Sprache.
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