DIE WELT - Die Onleihe

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DIENSTAG, 26. APRIL 2016
KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7
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ie Bahn hat bundesweit
über 300 Hooligans von
Fahrten mit ihren Zügen ausgeschlossen, über 1200
Randalierer erhielten Hausverbote und Abmahnungen. Das
ist die vollkommen falsche Strategie, glauben Experten. Auf
diese Weise verliert die Bahn
wichtige und treue Kunden.
Viele Hooligans setzen seit
Jahrzehnten auf die Bahn und
vertrauen darauf, dass man
ihnen einen frisch renovierten
Wagen zum Randalieren anbietet. Man muss sich nur einmal
vor Augen halten, dass die Bahn
im vergangenen Jahr über 1,5
Millionen Euro ausgegeben hat,
um die Waggons für Hooligans
und Chaoten einladend zu gestalten. Das Angebot trifft auf
breite Zustimmung, über 95
Prozent der verwüstungsbereiten Reisenden bevorzugen es,
einen Waggon der Bahn zu zerlegen, weniger als zwei Prozent
entscheiden sich für das eigene
Auto. Dieses verantwortungsvolle und umweltbewusste Verhalten sollte die Bahn nicht
bestrafen. Stattdessen müsste
jeder ICE mit Randaleabteilen
bestückt werden, die interessierte Kunden mit der VandalenBahncard zum Vorzugspreis
auseinandernehmen können.
THEMEN
ULF POSCHARDT
W
Die Ideale Europas
erleuchten die Welt
Die Europäer sind stärker,
wenn sie zusammenstehen,
als wenn sie alleine sind
Ihr seid die Erben eines
Kampfes um die Freiheit
Erst machte Barack Obama einen Rundgang über die Hannover Messe und hielt Small Talk, anschließend redete er den Europäern ins Gewissen
Obamas Appell an Europa
In Hannover hält der US-Präsident ein flammendes Plädoyer für Einigkeit, Zusammenhalt und
Toleranz. Die Welt sei so friedlich wie noch nie. Aber die Europäer müssten sich mehr anstrengen
FEUILLETON
Udo Lindenbergs neues
Album – ein Abschied?
Seite 21
POLITIK
Kenia-Koalition
braucht zwei Anläufe
Seite 5
WIRTSCHAFT
Freisprüche für
Manager der
Deutschen Bank
Kommentar Seite 3, Seite 9
PANORAMA
Wie unsere Autorin auf
Facebook Männer aus
aller Welt abwimmelt
E
Nr. 97
Der Präsident
hat einen Traum
Falsches Denken kann zu Unterdrückung
führen, zu Apartheid, zu Internierungslagern,
zum Holocaust und zu Srebrenica
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D 2,50 EURO B
KOMMENTAR
JIM WATSON/AFP/GETTY IMAGES/JIM, TINE ACKE/WARNER MUSIC
Zippert zappt
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s braucht wohl einen amerikanischen Präsidenten, um
die Europäer aufzurütteln
und zu mehr Einigkeit zu
mahnen. Nach seinem Rundgang auf der Hannover Messe hielt Barack Obama am Montag eine 50-minütige Grundsatzrede. „Ein vereintes Europa, früher ein Traum von wenigen, ist
jetzt eine Hoffnung der vielen und eine
Notwendigkeit für uns alle“, sagte Barack
Obama am zweiten Tag seines Deutschlandbesuchs. Die von einer möglichen
Abspaltung Großbritanniens und heftigem Streit in der Flüchtlingskrise bedrohte Europäische Union sei „eine der
größten politischen Errungenschaften
der Neuzeit“. Ein geeintes Europa sei
entscheidend für die Weltordnung. Obama hatte sich bereits bei seinem unmittelbar vorangegangenen Besuch in London gegen einen EU-Austritt Großbritanniens gestellt.
Obama verbreitete in seiner Rede viel
Optimismus. Unsere Welt durchlebe die
friedlichste Zeit ihrer Geschichte. Es gebe zwar nach wie vor viel Leid und Kummer, aber die Menschen hätten das
Glück, dass sie in nie da gewesenem
Wohlstand und Frieden leben könnten.
Wenn sich jemand einen Zeitpunkt aussuchen würde, um geboren zu werden, so
wäre dieser vermutlich jetzt. Zur Be-
gründung sagte Obama, dass die Menschen heute länger lebten und besser
ausgebildet seien. Seit Jahrzehnten habe
es keinen Krieg zwischen Großmächten
mehr gegeben und Milliarden Menschen
seien durch den Wirtschaftsaufschwung
der Armut entkommen, sagte Obama.
Die Menschheit sollte auch heute Vertrauen in ihre Fähigkeit haben, ihr eigenes Schicksal zu formen.
Der Kampf gegen den Islamischen
Staat (IS) in Syrien und im Irak sei derzeit „die größte Herausforderung“ in der
Welt. „Wir müssen alles tun, um die Terroristen daran zu hindern, unsere Städte
anzugreifen.“ Dabei würden sich Sicherheit und der Schutz der Privatsphäre
nicht ausschließen, ging Obama auf Be-
denken angesichts der Datensammelwut
vor allem der US-Geheimdienste ein. Er
kündigte an, bis zu 250 zusätzliche Soldaten im Kampf gegen den IS nach Syrien zu schicken. Bisher sind rund 50 Angehörige von US-Spezialeinheiten am
Boden in Syrien aktiv.
Der US-Präsident äußerte Verständnis dafür, dass angesichts der Anschläge
in Europa und den USA viele Menschen
Angst haben. Dies dürfe aber nicht zu
einer Abschottung und einer inhumanen Flüchtlingspolitik führen. „Unsere
Länder sind stärker, sicherer und erfolgreicher, wenn wir Menschen aus allen
Kulturen und Religionen integrieren
und wir eine Einheit werden“, sagte er.
„Und das gilt auch für unsere muslimi-
Mini-Gipfel in Schloss Herrenhausen
Die vier großen EU-Staaten wollen
sich eng mit den USA über außenpolitisch- und sicherheitspolitische
Fragen abstimmen. Man habe die
Themen Syrien, Libyen und Ukraine
besprochen, sagte Angela Merkel
nach einem gemeinsamen Treffen
im Schloss Herrenhausen in Hannover. Neben Merkel hatten daran
Barack Obama, Frankreichs Präsident François Hollande, der britische Premier David Cameron und
der italienische Ministerpräsident
Matteo Renzi teilgenommen. Konkrete Verabredungen etwa zu den
Forderungen Obamas nach mehr
militärischer Hilfe in Syrien habe es
nicht gegeben, sagte Merkel.
schen Mitbürger.“ Wenn die Zukunft
unsicher sei, scheine es ein menschlicher Instinkt zu sein, sich in den Komfort und die Sicherheit „des eigenen
Stammes, der eigenen Sekte, des eigenen Landes zurückzuziehen – also zu
Menschen, die so aussehen wie wir und
so klingen wie wir“, sagte Obama. Doch
das sei eine trügerische Sicherheit, denn
damit würden Menschen gegeneinander
aufgebracht.
Aber Obama nahm Europa auch in die
Pflicht. So mahnte er erneut höhere Rüstungsausgaben an: „Europa war manchmal etwas selbstgefällig hinsichtlich der
eigenen Verteidigung.“ Angesichts des
Konfliktes mit Russland um die Ukraine
beobachtet Washington es mit Kopfschütteln, dass die europäischen Partner
sich nicht daran halten, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung
auszugeben. Obama kündigte an, auf diese Abmachung auch auf dem kommenden Nato-Gipfel im Juli in Warschau zu
pochen. Dann ist er offenbar noch einmal
in Europa. Am Ende seiner Rede sicherte
der scheidende Präsident den Europäern
die Solidarität der USA zu: „Sie können
sich darauf verlassen, dass ihr größter
Verbündeter und Freund, die Vereinigten
Staaten von Amerika, an ihrer Seite stehen. Schulter an Schulter. Jetzt und für
immer.“ Siehe Kommentar und Seite 4
arum tut er sich das an?
Hannover, die Messe-Eröffnung, das Pilgern von
Stand zu Stand – er, der mächtigste
Mann der Welt in der Provinz, wo
sonst selbst größte Hauptstädte gerade
gut genug sind für präsidiale Inszenierungen? Obama bedankt sich bei Merkel und den Deutschen für ihre Loyalität (das war unter dem Vorgänger
schon mal anders) und für den Hauch
von Führung der Kanzlerin, die in Europa mehr sieht als eine Währungsgemeinschaft. Mit seiner Europa-Eloge
hat der US-Präsident in London die
buntscheckige Brexit-Koalition schockiert und provoziert. Der sonst eher
elegant argumentierende Boris Johnson bemühte gar die afrikanischen
Wurzeln Obamas, um ihn zu denunzieren. Stammtisch-König Nigel Farage
sprach von „komplettem Blödsinn“.
Was deutlich macht: Obamas Worte
haben gesessen. Vor dem Besuch war
man sich in Brüssel einig: Der Einzige,
der den britischen Hang zum Brexit
drehen könnte, wäre der US-Präsident. Obamas realistisches Szenario
frühestens in fünf, wohl eher in zehn
Jahren ein britisch-amerikanisches
Handelsabkommen aufzusetzen, ist
der GAU für die Brüssel-Gegner. Auf
seiner Abschiedstour hat sich der USPräsident entschieden, die sonst oft
kritisierte Außenpolitik des „Is mir
egal“ sausen zu lassen und den Europäern zu erklären, was sie an ihrem
Kontinent haben. Und das aktuelle
Elend zu benennen.
Obamas Kopfschütteln über die
Uneinigkeit der Europäer, den Drang
einiger, wieder Mauern aufzubauen,
war das eine, sein Lob für das Gelingen des Einheitsprozesses, den er
schon jetzt als einen der großen Triumphe der Moderne bezeichnet, das
andere. Er, der zurückhaltende Außenpolitiker, mahnte zu mehr außenpolitischer Eigenverantwortung, auch
wenn sie teuer und anstrengend sei.
Europas Tage als stets überforderte,
pazifizierende und zögerliche Gemeinschaft seien gezählt.
Obama, dem kluge Köpfe wie Josef
Joffe eine „illusionäre Außenpolitik“
vorwerfen, hat eine ebenso klare wie
kräftige „Illusion“ von Europa skizziert, die idealistisch und realpolitisch
zugleich ist. Sie steht und fällt mit Politikern, die mit der Wiege der Demokratie mehr vorhaben als das müde
Fortschreiben eines mageren Status
Quo. Wenn die USA nicht mehr jene
unbeliebte Mischung aus Gouvernante und Bodyguard spielen wollen,
muss Europa schneller erwachsen
werden. Sollte Obamas Intervention
in Großbritannien reüssieren, kann
Merkel wieder auf die Briten zählen,
wenn es darum geht, die träge EU
Richtung Wachstum und Wettbewerb
zu trimmen. Dann hätte Obama in wenigen Tagen einiges erreicht.
[email protected]
Seite 24
Im Minus
Laut wie eine Kettensäge, verlockend wie Barry White
Seite 15
Im Nordosten der USA schlüpft demnächst „Brut 5“: Milliarden von Zikaden, die 17 Jahre auf diesen Tag gewartet haben
Dax
Schluss
Euro
EZB-Kurs
Punkte
US-$
10.294,35
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Dow Jones
17.40 Uhr
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Die Techno Classica 2016
Heute um 18.25 Uhr
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B
ill Clinton ist Präsident der USA, die Arbeitslosenquote ist so
niedrig wie seit 29 Jahren nicht mehr, Bill Gates’ Privatvermögen übersteigt die 100-Milliarden-Dollar-Marke, und in
Kalifornien eröffnet das erste Legoland außerhalb Europas. Wir
schreiben das Jahr 1999. Seitdem schlummern die sogenannten 17Jahres-Zikaden tief in der Erde im Nordosten der USA und warten
darauf, eines Tages zu schlüpfen – wenn die Bodentemperatur etwa
17 Grad erreicht. Bald ist es so weit. Dann kommen sie hervor – Milliarden Tiere an einem Tag. Die Insekten, auch Zirpen genannt, beißen
oder stechen nicht. Aber sie bedecken Sträucher und Bäume, umschwirren Menschen und machen einen ohrenbetäubenden Lärm,
den niemand vergisst, der ihn gehört hat. „Es ist, als ob ein Ufo landen würde“, sagte ein Anwohner der „Washington Post“.
Es gibt unterschiedliche Brutzyklen, und in diesem Mai ist nun
„Brut 5“ am Start. Sie ist in Virginia, West Virginia und Pennsylvania
sowie Teilen Ohios, New Yorks und Marylands heimisch. Die harten,
glatten Panzer der etwa vier Zentimeter großen Insekten bleiben
nach dem Absterben der Zikaden zurück und bedecken Straßen und
Gärten. Von Kindern werden sie mit Vorliebe gesammelt. Die Insekten trinken Pflanzensäfte, aber futtern keine Blätter und richten bei
ausgewachsenen Bäumen meist keine Schäden an. Weiter im Süden
der USA gibt es auch Zikaden, die sich in 13Jahres-Zyklen entwickeln, andere brauchen nur
ein Jahr.
Das flirrende, metallische Sirren, das nach
dem Schlüpfen der Tiere (Foto) für vier bis
sechs Wochen die Luft erfüllt, macht eine Unterhaltung auf der Terrasse unmöglich: Das
lautstarke Liebeswerben der männlichen Zikaden ist mit bis zu 120 Dezibel so laut wie eine
Kettensäge. Auf Zikadenweibchen wirke es aber
wie die Stimme von Soulsänger Barry White,
DPA/ EPA TANNEN MAURY
DAX
schreibt die Nachrichtenseite „Vox.com“. Die befruchteten Eier legt
das Weibchen in Schlitzen ab, die es in kleine Äste geschnitten hat.
Binnen sechs Wochen wachsen dann die sogenannten Nymphen heran, die schließlich von den Bäumen fallen und sich tief in den Boden
bohren. Dort leben sie von Wurzelsäften – und buddeln sich schließlich frei. Ihre Lebenserwartung beträgt nur einige Monate, aber
Ameisen, Spinnen, Vögel, Wespen und Heuschrecken freuen sich in
dieser Zeit auf reichlich Nahrung.
Seit 1999 hat sich auch der Umgang mit diesem Naturphänomen
verändert, das viele mit einer Mischung aus Ekel und Faszination
betrachten. In Cleveland etwa sind Infoprogramme in Parks, Aktionen für Kinder und sogar ein Zikadenfestival geplant. Eines hat
sich allerdings nicht geändert: Wladimir Putin, der damals Ministerpräsident Russlands wurde, ist immer noch an der Macht. Und vielleicht geht das Weiße Haus in diesem Jahr wieder an jemanden mit
dpa/jay
dem Namen Clinton.
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GR 3,40 & / I 3,20 & / IRL 3,20 & / L 3,20 & / MLT 3,20 & / NL 3,20 & / P 3,20 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,20 €
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ISSN 0173-8437
97-17
ZKZ 7109