A M WO C H E N E N D E WWW.SÜDDEUTSCHE.DE 1F1 MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 9./10. JULI 2016 FOTO: REGINA SCHMEKEN, FRANK HOERMANN/SVEN SIMON, ACTION PRESS3 Im Labyrinth der Justiz Ist dem Rechtsstaat noch zu trauen? Eine Spurensuche am Kriminalgericht Moabit BITTE EINWANDERN WOHL GEBOREN Durch Migration werden die Menschen seit Jahrtausenden klüger Elisabeth von Thurn und Taxis und andere erzählen von Last und Lust des Erbens Wissen, Seite 38 Gesellschaft, ab Seite 49 MIT FUSS UND HAND Deutschland ist bei einer ungewöhnlichen EM auf seltsame Weise ausgeschieden. Warum? Sport, Seite 41 Buch Zwei, Seite 13 (SZ) In der kalifornischen Stadt Hayward ist soeben ein Bürgersteig repariert worden. Man hielt das für geboten, weil ein Randstein so weit zur Seite gerückt war, dass von einer ordentlichen Bordsteinkante keine Rede mehr sein konnte. So richtig sensationell klingt das erst einmal nicht, bitte, das ist Kalifornien, da kommt es schon vor, dass die Bauarbeiter bekifft sind und beim Wegebau eigene, beschwingt kreative Lösungen anstreben. Und überhaupt: Was zählt schon ein versetzter Randstein in Anbetracht der globalen Krisen, die sich nach Schweinsteigers Handspiel im Strafraum noch verschärft haben? Aber so einfach ist die Sache nicht. Die missgestaltete Bordsteinkante war nämlich von höchstem Wert für die Wissenschaft. Die Betonsteine haben rund fünfzig Jahre auf dem schrundigen Buckel, und seit dieser Zeit beobachten Erdbebenforscher, wie die einst bündig verlegten Bauteile in verschiedene Richtungen driften. Schuld daran sind tektonische Kräfte, die in der Stadt Hayward, unter der ein 70 Kilometer langer Graben verläuft, jederzeit ein Erdbeben auslösen können. Wie sich die Dinge im Untergrund entwickeln, konnten die Seismologen am Eigenleben der Randsteine prima studieren. Natürlich verfügen sie auch über hochsensible Messinstrumente, die jedes Räuspern der Erdkruste registrieren, aber wirklich gesicherte Erkenntnisse liefert nur die Bordsteinkante. Nicht ohne Grund lautet das wichtigste Axiom der Erdbebenkunde: Randsteine lügen nicht. Dass die Hayward’sche Stadtverwaltung keine Ahnung von der wissenschaftlichen Bedeutung ihrer Bürgersteige hat, wirft ein bedenkliches Licht auf die Behörde. Und obendrein ist es ziemlich spießig, über Jahrzehnte gewachsene Deformationen einfach mal so zu begradigen. Bislang war es meistens die Kunst, die Werke hervorgebracht hat, welche der gewöhnliche Mensch nicht als Geniestreiche erkennt. Zahllos die Berichte über im Mülleimer gelandete Fettecken oder verpflasterte Badewannen, die in dramatischer Verkennung ihrer ästhetischen Wucht blank geschrubbt wurden. Es ist kein gutes Zeichen für die Wissenschaft, wenn nun auch ihre Installationen dem Ordnungstrieb profaner Dienstleister zum Opfer fallen. Aber selber schuld: Man versteht halt nicht, was Forscher so alles treiben, sobald sie im Labor verschwunden sind. Gut, bei der Quantenmechanik oder der Relativitätstheorie kann noch jeder mitreden, wenn aber alltägliches Zeugs wie Randsteine zu seismologischen Feinmessgeräten werden, ist der Laie überfordert. Früher war die Welt bevölkert mit Geistern, Nymphen und Satyrn, heute, so sieht es aus, lauert hinter jedem Ding ein Wissenschaftler. Wer also seine Dachrinne reparieren will, sollte sich zuvor umhören, ob sie nicht als Teilchenbeschleuniger der Erforschung der Antimaterie dient – oder gar der Kunst. Medien, TV-/Radioprogramm Forum & Leserbriefe München · Bayern Rätsel & Schach Traueranzeigen 46-48 16 40 63 34-35 61027 4 190655 803203 72. JAHRGANG / 27. WOCHE / NR. 157 / 3,20 EURO Obamas Ohnmacht Botschaft an Russland Amerikas erstem schwarzen Präsidenten ist es nicht gelungen, das Land zu versöhnen. Die Schüsse von Dallas zeigen: Der Rassen-Konflikt kann jederzeit außer Kontrolle geraten Die Nato schickt vier Bataillone nach Polen und ins Baltikum von hubert wetzel Washington – Vielleicht klingt so ein Präsident, der eingesteht, dass er gescheitert ist: „Wenn solche Vorfälle passieren, dann haben viele unserer Mitbürger das Gefühl, wegen ihrer Hautfarbe anders behandelt zu werden. Und das tut weh. Und das sollte uns allen Sorgen bereiten.“ Barack Obama war gerade in Warschau zum NatoGipfel gelandet, da musste er sich wieder einmal zu zwei Fällen äußern, in denen weiße Polizisten ohne ersichtliche Gründe schwarze Männer erschossen hatten, dieses Mal in Minnesota und Louisiana. Das hässliche Wort „Rassismus“ scheute Obama zwar. Doch dass es auch nach acht Jahren, in denen ein Schwarzer die USA regiert hat, immer noch ganz wesentlich von der Hautfarbe abhängt, wie hart Polizei und Justiz einen Menschen behandeln, daran ließ der Präsident keinen Zweifel. Nur wenige Stunden später musste Obama wieder von Europa aus Stellung zu einer Bluttat nehmen, in der die Hautfarbe (oder zumindest die dunkelblaue Farbe der Uniform) eine entscheidende Rolle gespielt hatte: In Dallas feuerten Heckenschützen bei einer friedlichen Demonstration für die Opfer von Minnesota und Louisiana auf Polizisten, mindestens fünf Beamte starben, sieben weitere Polizisten wurden verwundet – eine in der US-Geschichte beispiellose Attacke, „ein niederträchtiger, geplanter, abscheulicher Angriff auf die Polizei“, wie Obama sagte. Weiße Polizisten, die wehrlose Schwarze erschießen; selbsternannte militante Rächer, die zur Vergeltung weiße Polizeibeamte aus dem Hinterhalt niederstrecken – das ist noch kein „Bürgerkrieg“, wie ihn das Boulevardblatt New York Post am Freitag ausrief, doch die Gewalt zwischen Polizei und Schwarzen in Amerika Natürlich war es ungerecht. Mit Frankreich ist nicht die bessere Mannschaft ins Finale der Fußball-Europameisterschaft eingezogen, sondern die glücklichere. Ein Aussetzer von Bastian Schweinsteiger brachte die Vorentscheidung. Ein ähnliches Missgeschick von Jérôme Boateng hatte bereits den Sieg gegen Italien in Gefahr gebracht. Wie kommt es, dass sich Sportler gerade in wichtigen Spielen zu irritierenden Handlungen hinreißen lassen? Boatengs Handspiel war eines Dunkings im Basketball würdig, das Schweinsteigers der Reaktion eines Handballtorwarts. Und auch Oliver Kahn ließ im WMFinale 2002 einen Schuss so ungeschickt vor die Füße von Brasiliens Ronaldo abtropfen, dass dieser die Führung erzielte. Erklärungen bieten Hirnphysiologie und Psychologie: Gerade wenn sich jemand vornimmt, etwas auf gar keinen Fall zu tun, werden neben hemmenden Impulsen jene Nervenschleifen aktiviert, die das unerwünschte Bewegungsmuster wahrscheinlicher machen. „Das ist nicht DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche gerät offenbar außer Kontrolle. Und das ausgerechnet zum Ende der Amtszeit des ersten schwarzen Präsidenten des Landes, der versprochen hatte, einige der Gräben zuzuschütten, die Amerikas Gesellschaft zerteilen. Dieses Versprechen blieb unerfüllt: Zwei Mal haben die Amerikaner Barack Obama mit deutlicher Mehrheit ins Weiße Haus gewählt. Zugleich ist Amerikas Gesellschaft zerrissener denn je, und von einer Aufwertung der schwarzen Bevölkerung ist wenig zu spüren. Nach acht Jahren Obama, in denen mehrere Fälle von tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze die USA erschüttert haben, sind die Meinungsumfragen ernüchternd. Dem Institut Gallup zufolge ist die Zahl der Amerikaner, die sich „große Sor- gen“ um das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen machen, in diesem Jahr auf den Rekordwert von 35 Prozent gestiegen. 2010 lag er noch bei 13 Prozent. Zugleich sank die Zahl der Bürger, die „zufrieden“ damit sind, wie schwarze Amerikaner im Alltag behandelt werden, von 62 Prozent im Jahr 2013 auf 49 Prozent zwei Jahre später; unter Schwarzen sind es sogar nur 33 Prozent. Aus diesen Zahlen spricht vor allem enttäuschte Hoffnung. Im November 2008, am Tag nach Obamas historischem ersten Wahlsieg, hatten noch sieben von zehn Amerikanern gesagt, sie verbänden mit Obamas Amtszeit die Erwartung auf ein besseres Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen. Nachdem in Dallas die ersten Schüsse auf Polizisten gefallen sind, verschanzen sich diese Beamten hinter ihrem Einsatzwagen. FOTO: MARIA R. OLIVAS / DPA Ballaballa Auch Fußball-Profis neigen unter extremem Stress dazu, genau das zu tun, was sie unbedingt vermeiden wollen krankhaft, sondern auch der Grund, warum man sich zu jenem Abgrund hingezogen fühlt, den man unter gar keinen Umständen hinabspringen möchte, und näher herangeht“, sagt Peter Henningsen, Chef der Psychosomatik an der TU München. Der unbedingte Wunsch nach Vermeidung liefert also das Risiko mit, genau jenes unterdrückte Verhalten anzubahnen. Unser Gehirn hält es mit Bewegungen offenbar ähnlich wie mit der Imagination: Der Aufforderung, sich keinen roten Elefanten vorzustellen, ist nicht nachzukommen, ohne sich das bunte Rüsseltier dick durchgestrichen vorzustellen. Zudem sind solche Spiele extreme Herausforderungen, die unbewusst ablaufende Übersprungshandlungen provozieren: Kommt ein Überraschungselement hinzu – Schweinsteiger berichtet, dass der Eckball eine unerwartete Flugbahn nahm –, verliert man leichter die Kontrolle. „Unter normalem Stress weiß man, was erlaubt ist und was nicht“, sagt Dieter Frey, Sozialpsychologe an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, „aber unter extremer Anspannung kommt es zu Handlungen, bei denen plötzlich nicht mehr jede Bewegung unter Kontrolle ist. Der Wunsch, die Gefahr abzuwehren, dass Obama selbst hat seine Hautfarbe und die Probleme der Afroamerikaner stets nur zurückhaltend thematisiert. Amerikas erster schwarzer Präsident wollte nie zu sehr als Präsident der Schwarzen auftreten. Dabei kennt er natürlich die Statistiken, nach denen für schwarze Männer die Wahrscheinlichkeit, getötet oder inhaftiert zu werden, deutlich höher ist als für weiße. Allerdings werden die meisten Schwarzen nach wie vor von anderen Afroamerikaner erschossen, viele werden Opfer von Bandenschießereien und Drogenkriminalität. Das mag ein Grund sein, warum Obama – zumindest öffentlich – für die schlechte Lage vieler Schwarzer weniger Rassismus bei Polizisten oder Richtern verantwortlich macht, sondern vielmehr die laxen Waffengesetze und die harschen Regeln für Mindesthaftzeiten, die vor allem schwarze Ersttäter treffen. Obama hat versucht, die Waffenflut und das wahllose Einsperren von Schwarzen einzudämmen – ohne Erfolg. Über Herkunft und Motive der Täter von Dallas war am Freitag zunächst wenig bekannt. Ein Angreifer, der später getötet wurde, soll gesagt haben, er wolle aus Wut über die Polizeigewalt vor allem weiße Polizisten umbringen. Die öffentliche Debatte wird das weiter vergiften. Dass Obama immer wieder ausdrücklich seine Unterstützung für die Polizei äußert, wird von seinen Kritikern zumeist unterschlagen. Sie werfen dem Präsidenten vor, zu Attentaten wie dem von Dallas geradezu einzuladen, wenn er Übergriffe auf Schwarze durch Beamte rügt. Auch die Black-Lives-Matter-Bewegung, die friedlich gegen Polizeigewalt protestiert, dürfte nun von der politischen Rechten als eine Art rassistische Terrorgruppe diffamiert werden. Im Internet hat die Hetze schon begonnen. Seiten 2 und 4 der Stürmer den Ball erreicht, dominiert unbewusst alles.“ Immenser Stress ruft zudem gesteigerte Emotionen hervor, die wiederum extreme Handlungen erleichtern: Erst kommt der Affekt, dann der Verstand. „Stark emotionsgesteuertes Handeln begünstigt Regelverletzungen – meist geschieht dies unterschwellig“, sagt Frey: „Das erlernte Wertesystem kann bei starkem Stress auch im motorischen Bereich zusammenbrechen: Der Spieler ‚greift zum Äußersten‘, begeht ein böses Foul oder benutzt die Hand.“ Auch bei Profis bricht dann die Balance aus Gefühl und Verstand zusammen, die sonst unser Handeln reguliert. Ein Übermaß an Anspannung mag Aussetzer begünstigen. Zwar gelingen große Auftritte nur mit einer gehörigen Portion Aufregung. Ist die Erwartungshaltung jedoch zu groß, drohen Krampf oder schwer zu erklärende Fehler. Selbst für Profis ist der Druck manchmal zu viel. Sie müssen sich dann Luft machen. Und sei es mit der Hand. werner bartens Warschau – Die Nato will im Baltikum und Polen vier Bataillone mit jeweils bis zu 1000 Soldaten stationieren und damit auf die wachsende Bedrohung aus Russland reagieren. Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte zu Beginn des Nato-Gipfeltreffens in Warschau, Russlands Vorgehen in der Ukraine habe dem Bündnis keine andere Wahl gelassen als seine östliche Flanke zu verstärken. Die Allianz „beschützt und verteidigt alle Verbündeten“, betonte der Generalsekretär. Dennoch sei die Nato bemüht, den Dialog mit Russland fortzusetzen. „Der Kalte Krieg ist Geschichte und er sollte Geschichte bleiben“, sagte Stoltenberg. Moskau erklärte, es sei „absurd“, Russland als eine Bedrohung zu bezeichnen. Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin äußerte sich aber zufrieden über das Dialogangebot der Nato. sz Seiten 4 und 9 VW droht hohe Geldbuße München – VW droht wegen der AbgasAffäre eine hohe Strafe in Deutschland. Die Staatsanwaltschaft in Braunschweig hat ein Bußgeldverfahren gegen Volkswagen eingeleitet. Das bestätigte die Ermittlungsbehörde auf Anfrage von SZ, NDR und WDR. Im Rahmen des Verfahrens könnte die Behörde die Gewinne abschöpfen, die VW durch den weltweiten Verkauf von elf Millionen Fahrzeugen mit manipulierten Schadstoffwerten erzielte. In anderen Fällen mussten Konzerne wie Siemens bis zu knapp 600 Millionen Euro zahlen. sz Wirtschaft MIT STELLENMARKT Dax ▲ Dow ▲ Euro ▼ Xetra 16:30 h 9634 Punkte N.Y. 16:30 h 18061 Punkte 16:30 h 1,1043 US-$ + 2,29% + 0,94% - 0,0015 DAS WETTER ▲ TAGS 30°/ 11° ▼ NACHTS Sonne und Wolken im Wechsel. Im Norden und über den Mittelgebirgen sowie an den Alpen kann es zu Regenschauern kommen. Auch vereinzelte Wärmegewitter sind möglich. Temperaturen 20 bis 30 Grad. Seite 16 Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0, Telefax -9777; [email protected] Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt), 089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte). Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, www.sz.de/abo A, B, F, GR, I, L, NL, SLO, SK: € 3,90; dkr. 31; £ 3,60; kn 35; SFr. 5,00; czk 115; Ft 1050 Die SZ gibt es als App für Tablet und Smartphone: sz.de/plus
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