Was bedeutet der gegenwärtige «Zinswahnsinn - Migros

LEBEN | MM53, 28.12.2015 | 67
Migros-Bank-Ratgeber
Was bedeutet der gegenwärtige «Zinswahnsinn» für die Sparer?
Am deutlichsten zeigen sich die Folgen bei der Altersvorsorge.
Was passiert, wenn es keinen
Zins mehr gibt? Noch vor Kurzem
hätte man eine solche Frage als
«wahnsinnig» abgetan. Inzwischen
ist es Realität: Die Zinsen sind
weltweit entweder extrem niedrig
oder gar negativ. Was das effektiv
bedeutet, ist vielen Leuten zu
wenig bewusst.
Erstens kommt es zur paradoxen
Situation, dass der Staat mit dem
Schuldenmachen Geld verdienen
kann. Neben der Schweiz gilt das
bereits für zahlreiche andere Länder
in Europa. Zweitens verliert der Zins
seine Steuerungsfunktion. Diese
sorgt nämlich dafür, dass das Kapital
in Investitionen fliesst, welche zu­
künftig einen Mehrwert schaffen
können. Ohne eine solche Lenkung
dagegen versickert das Geld in nutzlosen Projekten. Und drittens hat der
Wegfall der Zinsen zur Folge, dass
sich das Sparen nicht mehr lohnt.
Albert Steck
ist verantwortlich
für Markt- und
Produktanalyse
bei der
Migros Bank.
Was das konkret heisst, möchte ich
anhand der Mindestverzinsung in
der beruflichen Vorsorge aufzeigen.
In der 2. Säule haben Herr und Frau
Schweizer ein Vermögen von 800 Mil­
liarden Franken angespart – es geht
also um enorme Summen. Während
Jahren, von 1985 bis 2002, wurde
dieses Geld mit 4 Prozent verzinst.
Dank dem Zinseszinseffekt konnte
man sein Vorsorgekapital somit in­
nerhalb von 18 Jahren verdoppeln,
K
Sparen lohnt sich immer weniger
Mit dem neuen Mindestzins der 2. Säule von 1,25 Prozent dauert es 56 Jahre, bis sich
Ihr Kapital verdoppelt. Bei 4 Prozent Zins bräuchte man nur 18 Jahre.
200000
175000
Zinssätze
in %
n 4,00 %
n 3,50 %
n 1,75 %
n 1,25 %
150000
125000
100000
10
20
wie auch die Grafik verdeutlicht.
Über das gesamte Berufsleben hin­
weg konnte man sein Erspartes sogar
vervierfachen. Sank der Zins von
4 auf 3,5 Prozent, dann erhöhte sich
die Verdoppelungsdauer nur gering­
fügig von 18 auf 20 Jahre – eine Diffe­
renz von zwei Jahren.
Welche Folge hat nun die aktuelle
Senkung der Mindestverzinsung
von 1,75 auf 1,25 Prozent per Anfang
2016? Die Zeitdauer, bis sich Ihr
Kapital verdoppelt, erhöht sich damit
von 40 auf 56 Jahre! Obwohl der Zins
ebenfalls um 0,5 Prozent reduziert
wird, beträgt der zeitliche Unter­
30
40
50
56
schied nicht mehr 2 Jahre wie im
obigen Beispiel, sondern 16 Jahre.
Das zeigt: Je tiefer der Zins bereits
liegt, desto brutaler wird die Auswirkung einer weiteren Zinssenkung.
Der Grund ist der fehlende Zinses­
zinseffekt. Albert Einstein wurde
einst gefragt, welches die stärkste
Kraft im Universum sei. Seine spon­
tane Antwort lautete: «der Zinses­
zins». Auch die Zentralbanken, ins­
besondere die Europäische Zentral­
bank, sollten sich wieder einmal an
diese Kraft erinnern. MM
Aktuell auf Blog.migrosbank.ch: «4 Milliarden
Franken Ertragseinbusse in der 2. Säule».
Mamma mia
Schreihälse
Kinder brüllen oft, ausdauernd und gerne. Mal ist ihnen
langweilig, mal sind sie hässig,
mal wollen sie etwas Uner­
reichbares. Plärren geht bei
meinen beiden immer. Klar,
dass das Crescendo Nicht­
eltern verstört. Wer mit Hin­
gebung brüllt, muss leiden,
oder? Liegt der Nachwuchs
gerade unter der Playmobil­
Guillotine oder wird von Bar­
bie­Pferden niedergetrampelt?
Die Zeiten, in denen ich beim
ersten Aufjaulen kopflos ins
Kinderzimmer gerauscht bin,
sind jedoch vorbei. Mittler­
weile höre ich nur noch kurz
hin, um den Brüllton ein­
sortieren zu können. Frust?
Wut? Oder zeugt er doch von
Angst und Schmerz? In neun
von zehn Fällen ignoriere ich
das Gezeter anschliessend und
mache die Kinderzimmertür
zu. Von aussen.
Mein Gefahrendetektor funktioniert dennoch. Neulich
hörte ich durch das geschlos­
sene Fenster ein Heulen –
von weit her und merkwürdig
vertraut. In Finken stürmte
ich in den Regen, in Richtung
Spielplatz. Dort hing meine
Kleine hoch oben am Kletter­
gerüst. Ihre Arme zitterten vor
Anstrengung. Es ist eben gut,
dass Kinder oft, ausdauernd
und gerne brüllen. MM
Bettina
Leinenbach (39)
ist Journalistin und
zweifache Mutter.