faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 2./3. April 2016, Nr. 77 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen Verstümmelte Demokratie. Lenin 1916 über Imperialismus und Kampf gegen nationale Unterdrückung. Klassiker Deutschalarm. Richard Herzinger beschwert sich in der NZZ über neue weltpolitische Realitäten. Von Arnold Schölzel Unter Verschluss. In einer Erstaufnahme in Frankfurt am Main leben bis zu 2.000 Menschen. Von Gitta Düperthal Sie hausten in einem der finsteren Hinterhöfe am Sunset Boulevard. Von Katzen und Ratten. Von Karl Farr STEPHANE MAHE/REUTERS »Die Schlacht gegen den Kapitalismus ist notwendig« Gespräch Mit David Cormand. Über den politischen Kurs der französischen Grünen, die Ursachen des Terrors und gesellschaftliche Alternativen XAVIER CANTAT D ie Ereignisse von Brüssel liegen wenige Tage zurück. Wir hätten gerne eine kurze Analyse aus Sicht einer Partei, die bisher nicht in das Kriegsgeschrei der Regierung Hollande-Valls eingestimmt, sondern sich vorlauter Kommentare lieber enthalten hat. Ich war in Brüssel und saß im Zug, als das passiert ist. Die Attentäter sind Leute, die in Belgien und in Frankreich zu Hause und dort aufgewachsen sind. Die von der französischen Regierung gepflegte Kriegsrhetorik verlagert den sogenannten Feind nach draußen. Das ist ein Irrtum. Das Abrutschen dieser Leute in den Fanatismus ist Ergebnis einer Indoktrination, einer Methode, die aus jungen Menschen David Cormand … … ist Generalsektretär der französischen Grünen, EELV Mörder zu machen versteht. Sie ist allerdings erst im Rahmen einer seit langem bestehenden geopolitischen Situation erfolgreich geworden, im Zuge der Destabilisierung einer Region, an deren Beginn die Intervention der USA steht. Das mit mörderischer Gewalt verbundene Aufbegehren eines Teils der Jungen gab es schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. In Deutschland sind diese »bleiernen Jahre« mit dem Namen Rote Armee Fraktion verbunden, in Italien mit dem der Brigate Rosse, in Frankreich nannte die Bewegung sich Action directe. Ist ein Vergleich der »Terroristen« von damals mit den als »Dschihadisten« auftretenden Attentätern von heute möglich, wie das verschiedentlich in bizarren Analysen zu lesen war? In den siebziger Jahren ging es um eine Emanzipation von der Vergangenheit, von der Nazigeneration in Deutschland. Es ging, einfach gesagt, um die Zukunft. Die Attentäter von heute phantasieren nostalgisch eine Vergangenheit, in der das Leben schöner und alles besser war. Und in der es, das vor allem aus rechter Sicht, keine »Fremden« gab. Wir beobachten eine Interpretation des Islam, die mittelalterlich-morbide ist, in der die Gesellschaft sich nicht zukunftsgerichtet verändern soll und in der Nihilismus prägend ist. Sind wir »im Krieg«, wie François Hollande und Manuel Valls immer Studentenprotest gegen die von der sozialdemokratischen französischen Regierung geplante Novelle des Arbeitsrechts in Nantes (31.3.2016) Böser Irrtum Ein Gespräch mit dem Generalsekretär der französischen Grünen, David Cormand, über Kriegsrhetorik der Pariser Regierung und Ursachen des Terrors. Außerdem: Deutschalarm. In der Neuen Zürcher Zeitung beschwert sich ein deutscher Autor, dass sich die Welt ändert n Fortsetzung auf Seite zwei ACHT SEITEN EXTRA GEGRÜNDET 1947 · SONNABEND/SONNTAG, 2./3. APRIL 2016 · NR. 77 · 1,90 EURO · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Kriegskapitalismus Terrorverdacht Demokratieverteidigung Gemäldedeutung 3 4 6 12 Fluchtbewegungen sind Resultat der Weltwirtschaftsordnung. Interview mit Katja Kipping Bundesanwaltschaft ermittelt gegen »Bürgerwehr« Freital. Angriffe auf geflüchtete Kinder in Sebnitz Hunderttausende demonstrieren bei Am 1. April wurde eine Ausstellung des Aktionstag in Brasilien für StaatsMalers Ronald Paris eröffnet. präsidentin Dilma Rousseff Von Peter Michel Augen zu und durch Irak: Mitarbeiterin von BRD-Politiker inhaftiert Hamburg. Der Hamburger Bürgerschaftsabgeordnete Martin Dolzer (Linke) fordert von den Behörden im Nordirak die Freilassung seiner Mitarbeiterin Beriwan Al-Zin. Wie er am Freitag mitteilte, wurde die deutsche Staatsbürgerin bereits am 22. März in der Kurdischen Autonomieregion (KRG) festgenommen. Der Vorwurf laute auf illegalen Grenzübertritt. Nach der Verhaftung wurden Al-Zin demnach sechs Tage lang Telefonate verweigert. Zudem wurden weder die deutsche Botschaft in Bagdad noch das Generalkonsulat in Erbil rechtzeitig über die Festnahme informiert. »Beriwan Al-Zin hatte sich seit Januar in meinem Auftrag zu Recherchezwecken im Nordirak und in Rojava/Nordsyrien aufgehalten und wollte nach Deutschland zurückkehren. Die Bundesregierung sehe ich nun in der Verantwortung, sich auf Grundlage der guten Beziehungen zur kurdischen Regierung für die sofortige Freilassung meiner Mitarbeiterin einzusetzen.« (jW) Trotz Menschenrechtsverletzungen und Schüssen auf Flüchtlinge: EU beharrt auf Massenabschiebung in die Türkei. Von André Scheer BJOERN KIETZMANN D BND bot Asyl gegen Informationen Afghanische Flüchtlinge protestieren am Mittwoch in Athen gegen die Abschottungspolitik der Europäischen Union sche Männer, Frauen und Kinder in Gruppen von bis zu 100 Menschen nach Syrien abgeschoben, berichtete am Freitag die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Dieser Verstoß gegen internationales Recht sei ein weiterer Beleg dafür, dass die Türkei »kein sicherer Drittstaat für Flüchtlinge ist, in den die EU bedenkenlos Schutzbedürftige zurückschicken kann«. Marie Lucas, Türkei-Expertin von Amnesty in Deutschland, informierte, dass in einem Fall drei kleine Kinder ohne ihre Eltern nach Syrien abgeschoben wurden, in einem anderen Fall sei eine hochschwangere Frau zur Rückkehr in das Bürgerkriegsland gezwungen worden. Am Donnerstag hatten britische Medien berichtet, dass türkische Soldaten an der Grenze zu Syrien gezielt auf Flüchtlinge schießen. Dabei sollen allein in den vergangenen vier Monaten mindestens 16 Menschen getötet worden sein, unter ihnen drei Kinder. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) appellierte an Brüssel und Ankara, vor der Umsetzung des Pakts alle erforderlichen Schutzmaßnahmen für die betroffenen Menschen zu garantieren. Dies sei längst noch nicht der Fall, kritisierte UNHCR-Sprecherin Melissa Fleming am Freitag in Genf. Auf der griechischen Insel Chios brachen am Freitag mindestens 500 Menschen aus dem dortigen Internierungslager aus. Wie die Zeitung Ta Nea auf ihrer Internetseite berichtete, schnitten sie den Maschendrahtzaun auf, der das Lager umgibt, und machten sich auf den Weg zum Hafen der Insel. Ihr Leben sei dort nicht mehr sicher, sagten sie Journalisten. In dem »Hotspot« war es in der Nacht zuvor offenbar als Folge der Überbelegung zu Ausschreitungen zwischen Afghanen und Syrern gekommen. Das Lager ist für 1.200 Menschen ausgelegt, inzwischen werden dort nach Angaben des Internetportals 902.gr jedoch bereits 1.650 Personen festgehalten. Siehe Seiten 2 und 8 Entscheidung über BND-Ausschuss steht an Ströbele: Deutsche Auslandsspionage hat ähnlich wie US-Geheimdienst NSA gehandelt D em BND droht im Jubiläumsjahr zum 60jährigen Bestehen des Geheimdienstes ein neuer Untersuchungsausschuss im Bundestag. Die Entscheidung darüber falle noch vor der Sommerpause, sagte der Grünen-Geheimdienstexperte Hans-Christian Ströbele gegenüber der Nachrichtenagentur dpa. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Ströbele ist Mitglied im Bundestagsuntersuchungsausschuss zur Spähaffäre um den US-Geheimdienst NSA. Die Opposition hat dort eine Erweiterung des Untersuchungsauftrages beantragt und schlägt andernfalls die Einsetzung eines neuen Aufklärungsgremiums vor, das zu Spähaktionen des BND in befreundeten EU- und NATO-Staaten arbeiten soll. Auch der Linke-Geheimdienstexperte André Hahn sagte gegenüber dpa, er rechne in der Frage mit einer Entscheidung in den nächsten Wochen. Der Vizevorsitzende des Geheimdienstkontrollgremiums im Bundestag beklagte, die Vorgänge um die problematischen BND-Suchbegriffe seien dem Kanzleramt seit 2013 bekannt gewesen. »Aber man hat das gegenüber dem Parlamentarischen Kontrollgremium zwei Jahre lang verschwiegen, obwohl das eine hochbrisante Angelegenheit ist.« Der Bundesnachrichtendienst wurde am 1. April 1956 gegründet. Durch die Enthüllungen rund um den amerikanischen Geheimdienst NSA geriet die deutsche Auslandsspionage zuletzt in Erklärungsnot. Unter anderem kam ans Licht, dass der BND unrechtmäßig und nicht auftragskonform eine Vielzahl an Zielen in EU- und NATO-Staaten ausforschte – darunter ausländische Regierungsstellen und EU-Institutionen. Die NSA-Affäre sei längst auch eine BND-Affäre, sagte Ströbele. »Denn wir wissen inzwischen, dass der BND ähnliches getrieben hat wie der US-Geheimdienst.« Er machte dem deutschen Geheimdienst schwere Vorhaltungen: »Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass der BND in dem Ausmaß verheimlicht, irreführt, täuscht und lügt gegenüber dem Geheimdienstkontrollgremium.« (dpa/jW) MICHAEL KAPPELER/DPA-BILDFUNK ie EU und die griechische Regierung halten trotz wachsender Kritik daran fest, ab Montag Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die Türkei abzuschieben. Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sollte das Parlament in Athen am Freitag im Eilverfahren verabschieden. Dazu gehörte vor allem die Anerkennung der Türkei als »sicherer Drittstaat«. Nach dem zwischen der EU und Ankara vereinbarten Abkommen sollen alle Flüchtlinge, die nach dem 20. März »illegal« Griechenland erreicht haben, zwangsweise in die Türkei zurückgebracht werden. Einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP zufolge sollen allein am Montag 500 Menschen abgeschoben werden. »Noch ist völlig ungewiss, was am kommenden Montag geschehen wird«, sagte ein Offizier der griechischen Küstenwache der Deutschen Presseagentur. »Werden sich die Menschen freiwillig aus den Lagern abtransportieren lassen? Werden wir sie in Handschellen legen müssen? Wird es zu Aufständen kommen? Und was tun wir dann?« Seit Inkrafttreten das Pakts zwischen Brüssel und Ankara sind 5.000 Menschen auf den griechischen Inseln eingetroffen, die in Auffanglagern unter teilweise unzumutbaren Bedingungen interniert wurden. Ihnen wurde zwar eine »Einzelfallprüfung« zugesagt, doch Aussicht darauf, in Griechenland bleiben zu dürfen, haben nach Angaben der dpa nur diejenigen, die überzeugend darstellen können, »dass ihr Leben und ihre Rechte in der Türkei in Gefahr sind«. Die Forderung nach einem solchen Nachweis ist zynisch. Seit Januar habe Ankara fast täglich syri- Berlin. Deutsche Behörden sollen in den Jahren 2000 bis 2013 verstärkt geflüchtete Menschen ausgehorcht haben, die in Deutschland Asyl beantragt hatten. Das berichtete Zeit online unter Berufung auf eine Antwort der Bundesregierung auf zwei kleine Anfragen der Linkspartei. Daraus geht hervor, dass in den Jahren 2000 bis 2013 dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 850 Fälle gemeldet wurden, in denen es »nachrichtlichen Kontakt« mit dem Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gegeben hat. Von 2000 bis 2015 sollen mindestens 1.000 Menschen in Deutschland Asyl erhalten haben, weil sie dem BND, dem BfV oder anderen deutschen Behörden wie dem Bundeskriminalamt (BKA) Erkenntnisse geliefert hätten. (jW) wird herausgegeben von 1.817 Genossinnen und Genossen (Stand 11.3.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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