Kniefall – diplomatisch verschleiert

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
3./4. September 2016, Nr. 206
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n XYZ
Teilerfolg für einen »Rädelsführer«.
Vor 50 Jahren: Anklage gegen den
Kommunisten Karl Weber
Hassschreiber. Jürgen Todenhöfer setzt gegen den Spiegel 14 Unterlassungserklärungen durch. Von Arnold Schölzel
Treffpunkt Sarkophag. Eine Reise in das
Gebiet des Super-GAUs von Tschernobyl.
Von Andre Wokittel
Wonder Woman entstammt dem »Golden
Age«, genauer: den frühen Vierzigern. Kriegerin im Friedenskampf. Von Dietmar Dath
»Lernfähige
Computer sind
nicht mehr
kontrollierbar«
Gespräch
Mit Jay Tuck. Über künstliche
Intelligenz, Pentagon-Pläne für
automatisierte Kriegführung und
bedrohte Grundrechte
@JAY TUCK/LOCKHEEDMARTIN
THOMAS FLASWINKEL
I
n Ihrem Buch »Evolution ohne
uns« stellen Sie die provokative
Frage, ob die künstliche Intelligenz uns eines Tages töten
wird. Haben Sie eine Antwort
gefunden?
Ja. Sie wird uns töten.
Wie begründen Sie diese Einschätzung?
Ich stimme in dieser Hinsicht mit einigen
der Topdenker unserer Zeit überein. Dazu
gehören der Tesla- und SpaceX-Gründer
Elon Musk, der Physiker Stephen Hawking, der Paypal-Gründer und Risikokapitalunternehmer Peter Thiel und viele
andere mehr. Die führenden Köpfe aus
dem Silicon Valley sagen, die Gefahr sei
größer als die, die von Kernwaffen ausgeht.
Momentan ist die künstliche Intelligenz
auf ganz vielen Ebenen nützlich. Das fängt
bei den Bequemlichkeiten an, die uns das
Smartphone bietet. Das Management eines
großen internationalen Konzerns ist heute
ohne sie gar nicht denkbar. Die Fortschritte, die auf dem Gebiet der Medizin in Aussicht stehen, sind atemberaubend. Aber wir
werden die Kontrolle über die künstliche
Intelligenz verlieren. Und unser Überleben
Jay Tuck
… geboren 1945 in New York City, ist
Journalist, Fernsehproduzent, Verteidigungsexperte und Buchautor. Seine Arbeit für deutsche Medien begann 1971.
Unter anderem war er Kriegsberichterstatter für die »Tagesschau« unterwegs. Zwölf Jahre lang leitete er als verantwortlicher Redakteur die »Tagesthemen«. Nach seinem Ausscheiden aus
der ARD 2002 leitete er fünf Jahre lang
das wöchentliche Technologie-Magazin
»Understanding Tomorrow« im arabischen Fernsehsender Al-Dschasira.
hat für sie möglicherweise nicht die höchste Priorität.
Von Anfang an war die Computertechnologie mit Warnungen von Wissenschaftlern verbunden, dass diese
Entwicklung aus dem Ruder laufen
könnte. Das reicht in die 50er und
60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Die Menschheit gibt es
immer noch. Warum sollte das künftig anders sein?
Damals gab es noch keine künstliche Intelligenz, und insofern sind die Warnungen
von damals nicht so relevant für heute.
Man hat sich immer schon Gedanken darüber gemacht, was passiert, wenn Wissenschaftler verrückt spielen. Es gab Spekulationen über Dinge, die nicht existierten
und auch nicht vorhersehbar waren. Denken Sie an »Frankenstein«. Das ist eine
klassische Geschichte über eine Wissenschaft, die Amok läuft. Heute ist es anders. Heute weiß man, was selbstlernende
Systeme können und hat Erfahrungen gesammelt, was passiert, wenn etwas schief
läuft. Man weiß, dass man nicht mehr
nachvollziehen kann, was eine Maschine
macht, die lernfähig ist oder in Eigenregie
Algorithmen entwickelt.
Haben Sie ein Beispiel dafür, dass
künstliche Intelligenz auf gefährliche
Weise aus dem Ruder gelaufen ist?
Das Chat-Programm »Tay« von Microsoft
sollte ein harmloser Personal Assistent
für den Nutzer werden. Es handelt sich
um ein Programm, das selbständig lernt
und eigene Erfahrungen macht. Das hat
es auch. Und zwar von den falschen Leuten. Die Folge war, dass »Tay« rassistische
Äußerungen im Internet gestreut hat. Zum
Entsetzen von Microsoft ist das Programm
Amok gelaufen. Wie ein Kind, das schlechten Umgang hatte.
Ein Kind mit schlechtem Umgang
klingt für mich noch nicht besonders
bedrohlich.
Lernfähige Computer sind nicht mehr kontrollierbar. Das gilt auch für Waffensysteme wie den »Talon SWORDS«. Das ist ein
bewaffnetes Kettenfahrzeug, das im Irak
zunächst eingesetzt wurde, um versteckte Sprengfallen zu finden. Dann wurde
es mit einem schweren Maschinengewehr
ausgerüstet. Dieser Kampfroboter kann
ferngesteuert werden. Er kann aber auch
selbständig fahren, sein Ziel finden und
Terminator ante portas?
Roboter vom Typ
»Atlas«, hergestellt
vom US-Unternehmen
Boston Dynamics. Es
wurde 2013 von Google
erworben
Intelligenzbestien
Lernfähige Computer sind nicht mehr
kontrollierbar. jW-Autor Thomas Wagner
im Gespräch mit dem Journalisten
Jay Tuck. Außerdem: Teilerfolg für Kommunisten 1966 in Karlsruhe. »Wonder
Woman« – Kriegerin im Friedenskampf.
Von Dietmar Dath
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 3./4. SEPTEMBER 2016 · NR. 206 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
WWW.JUNGEWELT.DE
Krieg im Gepäck
Selber schuld
Enttäuschte Opposition
Lahme Enten
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Trotz »Brexit« und Austeritätsdiktat
schreitet Militarisierung der EU
voran. Von Jörg Kronauer
Wie Bürger durch Hartz-IV-Verschärfung zu Sündenböcken gemacht
werden. Von Claudia Wrobel
Die Lage in Caracas bleibt trotz Hetze
der Präsidentengegner friedlich.
Von André Scheer
G-20-Gipfel in Hangzhou wird zur
Protokollveranstaltung angeschlagener Staatschefs
Welt am Draht
Die Datenschutzbeauftragte wirft dem BND schwere Grundrechtsverstöße vor.
Doch der Geheimdienst tut das, wozu er da ist: Er spioniert. Von Sebastian Carlens
MICHAEL DALDER /REUTERS
Spionagestation Bad Aibling, südlich von München: Früher spitzelte hier die NSA im Rahmen ihres »Echelon«-Programmes, heute hat der BND übernommen
(langjährig) genutzt und damit grundlegende Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen nicht beachtet« habe, deutet
dies auf politische Widersprüche innerhalb der Bundesregierung hin.
Der Standort Bad Aibling, den
Voßhoff für ihr auf den März 2016
datiertes geheimes Gutachten untersucht hatte, diente früher dem USAbhörsystem »Echelon« als Basis,
wurde 2004 geschlossen und dann
vom BND übernommen. Im Rahmen
einer Geheimdienstzusammenarbeit
nutzen US-Dienste wie die NSA die
Erkenntnisse der deutschen Spione
teilweise mit. Der Streit um die sogenannten Selektoren, also Suchkriterien wie beispielsweise Telefonnummern oder Mailadressen, mit denen
gezielt Datenbanken durchforstet
werden können, kreiste nicht zuletzt
um die Möglichkeit der US-Stellen,
mit eigenen Suchbegriffen auf die
deutsche Spionageausbeute zuzugreifen. Das Geheimdienstkontrollgremium des Bundestages (PKGr) hatte be-
mängelt, der BND habe eine Vielzahl
an Zielen in EU- und NATO-Staaten
ausgeforscht, diplomatische Vertretungen ins Visier genommen und
auch vor Staats- und Regierungschefs
nicht Halt gemacht.
Voßhoff wirft dem Auslandsgeheimdienst in ihrem Gutachten
schwerwiegende Rechtsverstöße vor.
Unter anderem beanstandet sie, der
BND habe ihre Kontrolle »rechtswidrig mehrfach massiv beschränkt«.
Insbesondere bei der Prüfung der sogenannten Selektorenlisten habe der
BND ihre Arbeit blockiert. Er habe
ohne Rechtsgrundlage personenbezogene Daten erhoben und weiterverwendet sowie ohne Erlaubnis Dateien
eingerichtet. »Eine umfassende, effiziente Kontrolle war mir daher nicht
möglich«, so Voßhoff.
Die Eingriffe verletzten das Grundrecht unbescholtener Bürger auf informationelle Selbstbestimmung, bilanzierte Voßhoff. Die Datenschutzbeauftragte wollte sich laut dpa am Freitag
nicht zu dem Gutachten äußern. Auch
der BND kommentierte den Bericht
nicht. Der Grünen-Obmann im NSAUntersuchungsausschuss, Konstantin
von Notz, sagte im Deutschlandfunk,
der BND habe eklatant gegen das
Grundgesetz verstoßen. Der deutsche
Auslandsgeheimdienst müsse sich von
der Massenüberwachung verabschieden und auf den Kreis der Verdächtigen konzentrieren. Die Linke-Geheimdienstexpertin Martina Renner nannte
Voßhoffs Befunde »erschreckend«.
Regierungssprecher Steffen Seibert
wollte sich am Freitag zu dem Vorgang nicht öffentlich äußern. Bei der
strategischen Fernmeldeaufklärung
habe es schon früher »unterschiedliche Rechtsauffassungen« gegeben,
gibt ihn die Nachrichtenagentur dpa
wieder. Derzeit befindet sich ein neues
BND-Gesetz im Parlament in Vorbereitung. netzpolitik.org hatte bereits
im Juni festgestellt, dass die geplante
Reform dem Geheimdienst deutlich
mehr Macht geben werde.
Kniefall – diplomatisch verschleiert
Die Bundesregierung ist wieder einmal vor Erdogan eingeknickt
D
ie Nachricht, die Bundesregierung wolle mit Rücksicht
auf die Türkei auf Distanz
zur Armenien-Resolution des Bundestag gehen, hat am Freitag Proteste
in fast allen politischen Lagern ausgelöst. Regierungssprecher Steffen Seibert versuchte prompt zu beschwichtigen: Die Nachricht sei falsch, sagte
er vor Journalisten – allerdings fühle
sich die Regierung juristisch nicht an
diese Entschließung gebunden.
Ähnlich hatte sich zuvor Außenminister Frank-Walter Steinmeier
(SPD) geäußert. Die Linke hielt Mer-
kel vor, mit einer »De-facto-Distanzierung« einen Kotau vor Erdogan zu
machen. Ihr Ex-Fraktionschef Gregor Gysi sprach von einem »ungeheuerlichen Skandal« und die GrünenVorsitzende Simone Peter hielt der
Regierung vor, das Parlament brüskiert zu haben. Der Nahost-Experte
Udo Steinbach wurde von Focus online mit den Worten zitiert: »Das ist
ein Kniefall, auf den man sich nicht
hätte einlassen sollen. Für Erdogan
ist es ein weiterer Triumph.« Dass
Deutschland nun zumindest in gewissem Maße vor ihm kusche, sei
eine Ermutigung für Erdogan, seinen
Kurs weiterzuverfolgen.
Die Resolution zum Völkermord
an bis zu 1,5 Millionen Armeniern im
osmanischen Reich hatte die türkische Regierung so aufgebracht, dass
sie keine Abgeordneten-Besuche auf
dem Flughafen Incirlik mehr zulässt,
auf dem ein deutsches »Tornado«Geschwader stationiert ist. Zudem ist
Ankara verstimmt, weil sich seit dem
Putschversuch Mitte Juli kein hochrangiges deutsches Regierungsmitglied in
der Türkei blicken ließ. Merkel und
Steinmeier hatten sich an der Abstim-
mung im Bundestag Anfang Juni zwar
nicht beteiligt, erklärten sich aber inhaltlich einverstanden.
Merkel selbst wird den türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdogan
beim G-20-Gipfel erstmals wiedersehen, der an diesem Wochenende in
China beginnt. Berlin hat insbesondere
wegen des Abkommens zur Lösung der
sogenannten Flüchtlingskrise großes
Interesse an einer Zusammenarbeit.
Die Türkei wiederum hofft auf eine
baldige Befreiung von der Visumpflicht für ihre Bürger.
Peter Wolter
Siehe Seite 2 und 8
Syrien: Einigung Russlands
mit USA möglich
SPUTNIK/KREMLIN/A. DRUZHININ/REUTERS
D
er Bundesnachrichtendienst
(BND), der Auslandsgeheimdienst der BRD, tut das, wozu
er geschaffen ist: Er spioniert die Welt
aus. Auch mit dem – gesetzlich verbrieften – Schutz der Bundesbürger
vor Ausspähung durch den Dienst ist
es nicht allzuweit her.
Das alles ist wenig überraschend.
Erstaunlicher ist, dass Andrea Voßhoff, Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, in einem am Freitag
von netzpolitik.org veröffentlichten
Gutachten dem BND deshalb schwere
Vorwürfe macht. Als CDU-Bundestagsabgeordnete hatte Voßhoff einst
für Vorratsdatenspeicherung, Internetsperren und sogenannte Onlinedurchsuchungen des BKA gestimmt. Die
informationelle Selbstbestimmung gehört also kaum zu den Herzensthemen
der Regierungsbeauftragten. Wenn sie
nun zu dem Schluss kommt, dass der
BND »entgegen seiner ausdrücklichen
gesetzlichen Verpflichtung (…) Dateien ohne Dateianordnungen errichtet,
Washington. Russlands Präsident
Wladimir Putin (Foto) hält eine Einigung seines Landes mit
den USA zu Syrien für möglich.
»Meiner Ansicht nach bewegen
wir uns schrittweise in die richtige
Richtung«, sagte Putin laut einer
am Freitag vom Präsidialamt
veröffentlichten Abschrift eines
Interviews mit der Nachrichtenagentur Bloomberg. Die Gespräche
seien schwierig, gingen aber weiter: »Ich will nicht ausschließen,
dass wir uns in naher Zukunft auf
etwas einigen können und unsere
Vereinbarung der internationalen Gemeinschaft präsentieren.«
Ausdrücklich lobte Putin US-Außenminister John Kerry für dessen
Geduld und Entschlossenheit im
Syrien-Konflikt. Putin sagte, auch
Russland und die Türkei richteten
ihre Interessen in Syrien mehr und
mehr gemeinsam aus. Ankara und
Moskau hätten ein beidseitiges
Interesse an einer Einigung angesichts der Probleme der Region.
(dpa/Reuters/jW)
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