BND hatte »Freunde« im Visier

Wutprofiteure
EPA/YOAN VALAT/DPA-BILDFUNK
Mit Kritik an EU und den sogenannten Eliten wurde die radikale Rechte
zu einem Gewinner der Europawahlen im Mai 2014. Seither setzt sich ihr
Aufstieg fort, das britische Referendum gab ihr weiteren Auftrieb.
Von Gerd Wiegel
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Politische Konfusion
Potemkinsche Dörfer
Brennender Stadtteil
Gefährliche Ungleichheit
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Erneut schwere Auseinandersetzungen Gewerkschaftsinstitut fordert Lohnmit Polizei im Athener Alterna­
steigerungen in der Bundesreputivenviertel Exarchia
blik. Von Simon Zeise
TTIP vs. Klimaschutz
Neue Veröffentlichung von Verhandlungsdokumenten zeigt: Abkommen mit USA
­gefährdet Energiewende. Nächste Gesprächsrunde zum Vertrag gestartet. Von Jana Frielinghaus
REUTERS/JAVIER BARBANCHO
D
as Timing stimmte: Am Montag begann in Brüssel die 14.
Verhandlungsrunde zwischen
den Vertretern der Europäischen Union
und denen der USA zur »Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft« (TTIP). Auf der Agenda stehen
bis zum Freitag unter anderem die Energieversorgung und der Handel mit
Rohstoffen. Passend dazu veröffentlichte die Umweltorganisation Greenpeace
erneut geheime Dokumente. Es handelt
sich um die aktuellen Positionen der
EU-Kommission, die als Grundlage für
die aktuellen Gespräche dienen.
Daraus geht hervor, dass Brüssel den
Abbau von Regelungen beim Verkauf
von Strom vorschlägt, die Kernelemente der deutschen Energiewende zum
»Handelshemmnis« machen könnten. So sollen den Unterlagen zufolge
Stromkonzerne beim Netzzugang nicht
mehr zwischen verschiedenen Energiearten unterscheiden. Dies bedeutet,
dass etwa gegen den in Deutschland
gesetzlich geregelten Einspeisevorrang
für Strom aus erneuerbaren Quellen
oder gegen Vergütungssätze für Energie aus Solar- und Windkraftanlagen
geklagt werden könnte. Außerdem
schlägt die Kommission vor, dass höhere Energieeffizienz künftig nur noch
durch freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie erreicht werden soll.
Zuletzt hatte Greenpeace Anfang Mai
TTIP-Verhandlungsunterlagen publik
gemacht (siehe jW vom 3.5.).
Christoph von Lieven, Sprecher
von Greenpeace, forderte die Bundesregierung auf, die Verhandlungen zu
stoppen. In Berlin demonstrierten Aktivisten der Organisation vor der Vertretung der EU-Kommission am Brandenburger Tor, wo erneut auch der Glascontainer aufgestellt wurde, in dem Bürger
Widerstand europaweit: Am Sonntag hängten Aktivisten in Madrid ein Anti-TTIPPlakat auf. Anlass war der Spanien-Besuch von US-Präsident Barack Obama
bereits Anfang Mai geleakte Dokumente einsehen konnten. Die Kommission
müsse für »Europas Errungenschaften«
kämpfen, verlangte Lieven. Statt dessen
aber habe sie »ihr Rückgrat schon zu
Beginn der Verhandlungsrunde an der
Garderobe abgegeben«.
Bundesregierung und Unternehmerlobby plädierten am Montag unverdrossen für einen zügigen Abschluss der
Verhandlungen. »Der Zeitrahmen für
einen Abschluss der Verhandlungen
mit der jetzigen US-Administration ist
sehr ehrgeizig und verengt sich zunehmend«, hieß es aus dem Wirtschaftsministerium von Sigmar Gabriel (SPD)
lapidar. Notwendig seien »erhebliche
Fortschritte«. Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur Reuters erklärte eine
Ministeriumssprecherin, es sei ausgeschlossen, dass TTIP die deutsche Ökostromförderung gefährde. Die Frage
des Energiemixes bleibe weiterhin Sache der einzelnen EU-Länder, und das
sehe auch die Kommission so, sagte die
Sprecherin in Berlin.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sprach sich für
schnelle Verhandlungsfortschritte aus
und appellierte an die EU-Staats- und
Regierungschefs, mehr Werbung für
TTIP und das Abkommen mit Kanada, ­CETA, zu machen. Gerade nach
dem britischen Referendum über den
EU-Austritt müsse es darum gehen, die
Europäische Union zu stärken und »für
neue Wachstumsimpulse zu sorgen«,
sagte BDI-Präsident Ulrich Grillo gestern.
Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums macht die Kommission in der aktuellen Runde auch
zu Rohstoffen und digitalem Handel
Textvorschläge. Zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse werde
Brüssel erstmals Ideen für eine engere
Zusammenarbeit in Branchen wie Autoindustrie, Maschinenbau und Chemikalien einbringen. Weiter soll erneut
über einen transparenteren Investitionsschutz in Form eines internationalen
Handelsgerichtshofes gesprochen werden. Bislang bestehen die USA auch für
TTIP auf privaten Schiedsgerichten.
Siehe Seite 8
BND hatte »Freunde« im Visier
Bericht bestätigt: Deutsche Auslandspionage bespitzelt EU- und NATO-Verbündete
I
n der Affäre um die Spionage
des
Bundesnachrichtendienstes (BND) unter befreundeten
Mächten sind neue Details über den
Umfang der Überwachungsaktionen
bekanntgeworden. Aus einer Bewertung des Bundestagsgremiums zur
Kontrolle der Geheimdienste (PKGr),
aus der die Nachrichtenagentur dpa
zitiert, wurde »eine niedrige zweistellige Zahl von Teilnehmern« abgehört,
die Regierungen von EU- oder NATOLändern zuzuordnen sind. Darunter
sind Staats- oder Regierungschefs und
Minister, deren Umfeld – also der
Amtssitz, der Stab oder das Büro –
sowie militärische Einrichtungen. Es
gehe um »mehrere Dutzend« solcher
Fälle, so die dpa.
Besonders intensiv hat der BND
diplomatische Vertretungen von EUoder NATO-Verbündeten weltweit
ausspioniert. In diese Kategorie fallen
mehr als zwei Drittel der insgesamt
3.300 Ziele mit EU- und NATO-Bezug, die der BND bis etwa Ende 2013
im Visier hatte. Hinzu kommt eine
»mittlere zweistellige« Zahl von Organisationen und Einrichtungen von
Nichtregierungsorganisationen oder
der Wirtschaft, berichtete dpa. Als
Beispiele werden Luft- und Raumfahrt, Rüstung, Transport und Medien
genannt. Unklar bleibt in dem Bericht, was mit dem Bereich Medien
gemeint ist.
Die neuen Details könnte die Bundesregierung aus Unionsparteien und
SPD unter Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) in diplomatische Erklärungsnot bringen, selbst wenn die meisten
Spionageaktionen, wie vom BND erklärt, bis spätestens Ende 2013 eingestellt worden sein sollen.
Bei den vom Auslandsgeheim-
dienst ausspionierten EU-Institutionen handele es sich zwar um eine
überschaubare Anzahl von Zielen,
schreibt das Gremium. Neben den diplomatischen Vertretungen sind laut
dem Bericht besonders viele Einzelpersonen betroffen, darunter deutsche
Staatsbürger, die der BND laut Gesetz nicht überwachen darf. Aus den
vom BND zur Verfügung gestellten
Unterlagen gehe laut dpa meist nicht
hervor, um wen es sich handele und
warum die Person abgehört wurde.
(dpa/jW)
Siehe Seite 8
Theresa May übernimmt
Regierung in London
ANDREW YATES / REUTERS
Luxemburg-Stiftung fördert Nationalisten in der Ukraine. Von Susann
Witt-Stahl und Denis Koval
London. Die britische Innenministerin Theresa May (59/Foto) wird
ab Mittwoch neue Premierministerin ihres Landes. Das kündigte
Nochpremier David Cameron
amMontag an, nachdem sich
Mays einzige verbliebene Konkurrentin, Staatssekretärin Andrea
Leadsom, überraschend aus dem
Rennen um die Nachfolge Camerons zurückgezogen hatte. Nach
dem »Brexit«-Votum brauche das
Land rasch eine neue, starke Führung, begründete Leadsom ihren
Schritt. Ein langer Wahlkampf
vor einer Urwahl der Parteibasis
sei jetzt nicht ratsam. Kurz zuvor
hatte May Grundzüge ihrer Politik
präsentiert. »Als Premierminister
werde ich sicherstellen, dass wir
die Europäische Union verlassen«,
sagte sie. Es werde keine Versuche
geben, »durch die Hintertür« doch
in der Union zu bleiben. (dpa/jW)
SPD: Es hängt von der
Linkspartei ab
BILDQUELLE
Linker Populismus spielt taktisch mit
der Unbestimmtheit. Interview
mit Raul Zelik (Die Linke)
Berlin. Die SPD kann sich eine Koalition mit Grünen und Die Linke
nach der Bundestagswahl vorstellen – wenn die Linke auf einen
»realistischen« politischen Kurs
schwenkt. »Natürlich ist das eine
Option«, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley (Foto) am
Montag im ARD-Morgeninterview.
Die nötigen »Schnittmengen«
zwischen den drei Parteien seien
vorhanden. Eine große Koalition,
wie sie zur Zeit regiert, sei nie eine
Wunschoption gewesen.
»Es wird vor allem darauf ankommen, welchen Kurs die Linken
am Ende einschlagen«, sagte Barley weiter. Einen »realistischen«
wie Fraktionschef Dietmar Bartsch
»oder eher den Radikalo-Ansatz
von Sahra Wagenknecht«. (dpa/jW)
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