Wutprofiteure EPA/YOAN VALAT/DPA-BILDFUNK Mit Kritik an EU und den sogenannten Eliten wurde die radikale Rechte zu einem Gewinner der Europawahlen im Mai 2014. Seither setzt sich ihr Aufstieg fort, das britische Referendum gab ihr weiteren Auftrieb. Von Gerd Wiegel SEITEN 12/13 GEGRÜNDET 1947 · DIENSTAG, 12. JULI 2016 · NR. 160 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Politische Konfusion Potemkinsche Dörfer Brennender Stadtteil Gefährliche Ungleichheit 2 3 7 9 Erneut schwere Auseinandersetzungen Gewerkschaftsinstitut fordert Lohnmit Polizei im Athener Alterna steigerungen in der Bundesreputivenviertel Exarchia blik. Von Simon Zeise TTIP vs. Klimaschutz Neue Veröffentlichung von Verhandlungsdokumenten zeigt: Abkommen mit USA gefährdet Energiewende. Nächste Gesprächsrunde zum Vertrag gestartet. Von Jana Frielinghaus REUTERS/JAVIER BARBANCHO D as Timing stimmte: Am Montag begann in Brüssel die 14. Verhandlungsrunde zwischen den Vertretern der Europäischen Union und denen der USA zur »Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft« (TTIP). Auf der Agenda stehen bis zum Freitag unter anderem die Energieversorgung und der Handel mit Rohstoffen. Passend dazu veröffentlichte die Umweltorganisation Greenpeace erneut geheime Dokumente. Es handelt sich um die aktuellen Positionen der EU-Kommission, die als Grundlage für die aktuellen Gespräche dienen. Daraus geht hervor, dass Brüssel den Abbau von Regelungen beim Verkauf von Strom vorschlägt, die Kernelemente der deutschen Energiewende zum »Handelshemmnis« machen könnten. So sollen den Unterlagen zufolge Stromkonzerne beim Netzzugang nicht mehr zwischen verschiedenen Energiearten unterscheiden. Dies bedeutet, dass etwa gegen den in Deutschland gesetzlich geregelten Einspeisevorrang für Strom aus erneuerbaren Quellen oder gegen Vergütungssätze für Energie aus Solar- und Windkraftanlagen geklagt werden könnte. Außerdem schlägt die Kommission vor, dass höhere Energieeffizienz künftig nur noch durch freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie erreicht werden soll. Zuletzt hatte Greenpeace Anfang Mai TTIP-Verhandlungsunterlagen publik gemacht (siehe jW vom 3.5.). Christoph von Lieven, Sprecher von Greenpeace, forderte die Bundesregierung auf, die Verhandlungen zu stoppen. In Berlin demonstrierten Aktivisten der Organisation vor der Vertretung der EU-Kommission am Brandenburger Tor, wo erneut auch der Glascontainer aufgestellt wurde, in dem Bürger Widerstand europaweit: Am Sonntag hängten Aktivisten in Madrid ein Anti-TTIPPlakat auf. Anlass war der Spanien-Besuch von US-Präsident Barack Obama bereits Anfang Mai geleakte Dokumente einsehen konnten. Die Kommission müsse für »Europas Errungenschaften« kämpfen, verlangte Lieven. Statt dessen aber habe sie »ihr Rückgrat schon zu Beginn der Verhandlungsrunde an der Garderobe abgegeben«. Bundesregierung und Unternehmerlobby plädierten am Montag unverdrossen für einen zügigen Abschluss der Verhandlungen. »Der Zeitrahmen für einen Abschluss der Verhandlungen mit der jetzigen US-Administration ist sehr ehrgeizig und verengt sich zunehmend«, hieß es aus dem Wirtschaftsministerium von Sigmar Gabriel (SPD) lapidar. Notwendig seien »erhebliche Fortschritte«. Auf Nachfrage der Nachrichtenagentur Reuters erklärte eine Ministeriumssprecherin, es sei ausgeschlossen, dass TTIP die deutsche Ökostromförderung gefährde. Die Frage des Energiemixes bleibe weiterhin Sache der einzelnen EU-Länder, und das sehe auch die Kommission so, sagte die Sprecherin in Berlin. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sprach sich für schnelle Verhandlungsfortschritte aus und appellierte an die EU-Staats- und Regierungschefs, mehr Werbung für TTIP und das Abkommen mit Kanada, CETA, zu machen. Gerade nach dem britischen Referendum über den EU-Austritt müsse es darum gehen, die Europäische Union zu stärken und »für neue Wachstumsimpulse zu sorgen«, sagte BDI-Präsident Ulrich Grillo gestern. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums macht die Kommission in der aktuellen Runde auch zu Rohstoffen und digitalem Handel Textvorschläge. Zur Beseitigung technischer Handelshemmnisse werde Brüssel erstmals Ideen für eine engere Zusammenarbeit in Branchen wie Autoindustrie, Maschinenbau und Chemikalien einbringen. Weiter soll erneut über einen transparenteren Investitionsschutz in Form eines internationalen Handelsgerichtshofes gesprochen werden. Bislang bestehen die USA auch für TTIP auf privaten Schiedsgerichten. Siehe Seite 8 BND hatte »Freunde« im Visier Bericht bestätigt: Deutsche Auslandspionage bespitzelt EU- und NATO-Verbündete I n der Affäre um die Spionage des Bundesnachrichtendienstes (BND) unter befreundeten Mächten sind neue Details über den Umfang der Überwachungsaktionen bekanntgeworden. Aus einer Bewertung des Bundestagsgremiums zur Kontrolle der Geheimdienste (PKGr), aus der die Nachrichtenagentur dpa zitiert, wurde »eine niedrige zweistellige Zahl von Teilnehmern« abgehört, die Regierungen von EU- oder NATOLändern zuzuordnen sind. Darunter sind Staats- oder Regierungschefs und Minister, deren Umfeld – also der Amtssitz, der Stab oder das Büro – sowie militärische Einrichtungen. Es gehe um »mehrere Dutzend« solcher Fälle, so die dpa. Besonders intensiv hat der BND diplomatische Vertretungen von EUoder NATO-Verbündeten weltweit ausspioniert. In diese Kategorie fallen mehr als zwei Drittel der insgesamt 3.300 Ziele mit EU- und NATO-Bezug, die der BND bis etwa Ende 2013 im Visier hatte. Hinzu kommt eine »mittlere zweistellige« Zahl von Organisationen und Einrichtungen von Nichtregierungsorganisationen oder der Wirtschaft, berichtete dpa. Als Beispiele werden Luft- und Raumfahrt, Rüstung, Transport und Medien genannt. Unklar bleibt in dem Bericht, was mit dem Bereich Medien gemeint ist. Die neuen Details könnte die Bundesregierung aus Unionsparteien und SPD unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in diplomatische Erklärungsnot bringen, selbst wenn die meisten Spionageaktionen, wie vom BND erklärt, bis spätestens Ende 2013 eingestellt worden sein sollen. Bei den vom Auslandsgeheim- dienst ausspionierten EU-Institutionen handele es sich zwar um eine überschaubare Anzahl von Zielen, schreibt das Gremium. Neben den diplomatischen Vertretungen sind laut dem Bericht besonders viele Einzelpersonen betroffen, darunter deutsche Staatsbürger, die der BND laut Gesetz nicht überwachen darf. Aus den vom BND zur Verfügung gestellten Unterlagen gehe laut dpa meist nicht hervor, um wen es sich handele und warum die Person abgehört wurde. (dpa/jW) Siehe Seite 8 Theresa May übernimmt Regierung in London ANDREW YATES / REUTERS Luxemburg-Stiftung fördert Nationalisten in der Ukraine. Von Susann Witt-Stahl und Denis Koval London. Die britische Innenministerin Theresa May (59/Foto) wird ab Mittwoch neue Premierministerin ihres Landes. Das kündigte Nochpremier David Cameron amMontag an, nachdem sich Mays einzige verbliebene Konkurrentin, Staatssekretärin Andrea Leadsom, überraschend aus dem Rennen um die Nachfolge Camerons zurückgezogen hatte. Nach dem »Brexit«-Votum brauche das Land rasch eine neue, starke Führung, begründete Leadsom ihren Schritt. Ein langer Wahlkampf vor einer Urwahl der Parteibasis sei jetzt nicht ratsam. Kurz zuvor hatte May Grundzüge ihrer Politik präsentiert. »Als Premierminister werde ich sicherstellen, dass wir die Europäische Union verlassen«, sagte sie. Es werde keine Versuche geben, »durch die Hintertür« doch in der Union zu bleiben. (dpa/jW) SPD: Es hängt von der Linkspartei ab BILDQUELLE Linker Populismus spielt taktisch mit der Unbestimmtheit. Interview mit Raul Zelik (Die Linke) Berlin. Die SPD kann sich eine Koalition mit Grünen und Die Linke nach der Bundestagswahl vorstellen – wenn die Linke auf einen »realistischen« politischen Kurs schwenkt. »Natürlich ist das eine Option«, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley (Foto) am Montag im ARD-Morgeninterview. Die nötigen »Schnittmengen« zwischen den drei Parteien seien vorhanden. Eine große Koalition, wie sie zur Zeit regiert, sei nie eine Wunschoption gewesen. »Es wird vor allem darauf ankommen, welchen Kurs die Linken am Ende einschlagen«, sagte Barley weiter. Einen »realistischen« wie Fraktionschef Dietmar Bartsch »oder eher den Radikalo-Ansatz von Sahra Wagenknecht«. (dpa/jW) wird herausgegeben von 1.862 Genossinnen und Genossen (Stand 4.7.2016) n www.jungewelt.de/lpg
© Copyright 2024 ExpyDoc