Examensrepetitorium an der Universität Tübingen Aktuelle Fälle aus der Praxis des Verwaltungsgerichts Sigmaringen Sommersemester 2011 Fall 1: „Die Gewissensentscheidung eines Kommunalpolitikers" Präsident des VG Dr. Franz-Christian Mattes Im Gemeinderat der Großen Kreisstadt S in Baden-Württemberg wird die Ansiedlung eines größeren Betriebes B-GmbH im Gewerbegebiet an der Autobahn beraten. Die Stadt möchte nach langen Verhandlungen ein größeres Grundstück zum Preis von 50 € pro qm an die B-GmbH verkaufen. Die Angelegenheit wird im Gemeinderat der Stadt S in nichtöffentlicher Sitzung beraten. Gemeinderat G aus der dreiköpfigen Fraktion „Unabhängige Bürger“ ist der Auffassung, dass die Sitzungsunterlagen nicht ausreichend seien. Den Mitgliedern des Gemeinderates hätte der vollständige Entwurf des notariellen Kaufvertrages mit der Ladung übersandt werden müssen. Außerdem müsse der Gemeinderat diese Angelegenheit in öffentlicher Sitzung behandeln. Im Übrigen sei der ausgehandelte Grundstückspreis viel zu niedrig, der übliche qm-Preis liege in diesem Gewerbegebiet bei ca. 100 €. Dadurch entstehe der Stadt ein Schaden in Höhe von mindestens 800 000 €. Trotz der Einwände des G beschließt der Gemeinderat den Verkauf des Grundstücks. Der Kaufvertrag wird durch den Oberbürgermeister O vollzogen. Einige Zeit später wendet sich der überstimmte Gemeinderat G an die Presse und berichtet über die Beratungen im Gemeinderat über das abgeschlossene Grundstücksgeschäft. Er halte sich auf Grund seines Rechts auf Meinungsfreiheit für berechtigt und auf Grund einer Gewissensentscheidung für verpflichtet, die Bürger über diese für die Stadt S nachteiligen Vorgänge zu informieren. Diese Informationen des G werden in mehreren Zeitungsartikeln abgedruckt. Daraufhin beauftragt der Gemeinderat die Verwaltung, gegen G wegen seines Verstoßes gegen die Pflichten eines Gemeinderates ein „Ordnungsverfahren“ durchzuführen. G hält den Oberbürgermeister und den Ersten Bürgermeister wegen „ihrer Verstrickung in das illegale Grundstücksgeschäft“ insoweit für befangen. Außerdem -2müsse über das weitere Vorgehen in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung beraten und beschlossen werden. Die ganze Angelegenheit sei nicht geheimhaltungsbedürftig. Der Gemeinderat der Stadt S beschließt in einer nichtöffentlichen Sitzung in Abwesenheit von G, dem G wegen seiner schwerwiegenden Verstöße gegen seine Pflichten als ehrenamtlicher Gemeinderat, ein Ordnungsgeld in Höhe von 500 € aufzuerlegen. Ein entsprechender schriftlicher Bescheid des Oberbürgermeisters mit einer ausführlichen Begründung und einer Rechtsmittelbelehrung wird dem G ordnungsgemäß zugestellt. Nach Auffassung von G ist dieser Bescheid rechtswidrig. Er ist weiterhin der Auffassung, der Stadt S sei durch nichtige Beschlüsse und nichtige Kaufverträge ein erheblicher Schaden entstanden. Als gewählter Repräsentant der Bürgerschaft habe er die Pflicht, alles Mögliche zu unternehmen, um diesen Schaden abzuwenden. Für rechtswidrige und die Stadt schädigende Beschlüsse gelte die Geheimhaltungspflicht nicht. Jedenfalls sei sein Verhalten gerechtfertigt gewesen. Es habe ein übergesetzlicher Notstand vorgelegen. Ihm müsse eine Rechtsgüterabwägung zugestanden werden. Auch dann, wenn er sich letztlich hinsichtlich der Rechtmäßigkeit des fraglichen Verkaufsbeschlusses im Irrtum befunden hätte, wäre sein Verhalten gerechtfertigt, wenn er aufgrund seiner Kenntnisse, Fähigkeiten und einer gehörigen Anspannung seines Gewissens zu diesem Schluss habe kommen dürfen. Die Information der Öffentlichkeit sei in einer Demokratie ein zulässiger Weg, um rechtswidriges Handeln von Staatsorganen aufzudecken. Aufgabe: 1. Wie sind die einzelnen Maßnahmen rechtlich zu werten und mit welchen Mitteln hätte G während des laufenden Verfahrens dagegen vorgehen können? 2. Kann G gegen den Bescheid über die Auferlegung eines Ordnungsgeldes erfolgreich vorgehen?
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