52 KAPITEL 8. DIFFERENTIALRECHNUNG Beweis. Sei U ein abgeschlossener Unterraum und n o U ⊥ = x ∈ V hu, xiV = 0 für alle u ∈ U . Dann ist U⊥ = o \n x ∈ V hu, xiV = 0 . u∈U n o Jede der Mengen x ∈ V hu, xiV = 0 ist abgeschlossen, der Schnitt also abgeschlossen. Jede dieser Mengen ist offenkundig ein Unterraum, daher gilt dies auch für den Schnitt. Wir wollen noch zeigen, dass U ⊥ ein Komplementärraum zu U ist. Offenkundig ist U ∩ U ⊥ = {0}, denn für ū ∈ U ∩ U ⊥ ist hū, ūiV = 0 und daher ū = 0. Wir müssen noch zeigen, dass U + U ⊥ = V ist. Ist x0 ∈ V , betrachte d = inf kx0 − ykV . y∈U Dazu gibt es ein y0 ∈ U mit kx0 − y0 kV = d. Um die Existenz zu zeigen, betrachten mir eine minimierende Folge {yn } ⊂ U mit lim kx0 − yn kV = d. n→∞ Diese Folge ist eine Cauchyfolge, denn betrachten wir die Parallelogrammgleichung mit x = x0 − y n , y = x0 − ym und erhalten 2 1 4 x0 − (yn + ym ) + kym − yn k2V = 2 kx0 − yn k2V + kx0 − ym k2V . 2 V Mit n, m → ∞ konvergiert die rechte Seite gegen 4d2 , also auch die linke Seite. Da 12 (yn + ym ) ∈ U ist der erste Ausdruck größer oder gleich 4d2 und der zweite Ausdruck konvergiert gegen 0. Also ist {yn }n∈N eine Cauchyfolge und der Grenzwert existiert wegen der Vollständigkeit von V . Gäbe es zwei Elemente y0 , y1 in U mit minimalem Abstand zu x0 , so hätte die quadratische Abbildung f : R → R : t 7→ kx0 − y0 + t(y1 − y0 )k2V zwei Minima bei t = 0, t = 1 und wäre damit konstant, also y1 − y0 = 0. Nun ist klar, dass x0 = y0 + (x0 − y0 ). Wir müssen also noch zeigen, dass x0 − y0 ∈ U ⊥ liegt. Sei u ∈ U , dann ist q(t) = hx0 − y0 + tu, x0 − y0 + tuiV ≥ 0, 8.3. ABLEITUNGEN 53 quadratisch in t und hat bei t = 0 ein einziges Minimum. Also ist q 0 (0) = 0, d. h. 0 = q 0 (0) = hx0 − y0 , uiV + hu, x0 − y0 iV . Also ist Rehx0 − y0 , uiV = 0. Im reellen Fall sind wir damit fertig, im komplexen Fall betrachte man noch q(it) ∈ R und auf gleiche Weise folgt d q(it)|t=0 dt = 0 und Imhx0 − y0 , uiV = 0. Definition 8.3.2.3 (Komplementärraum) Der Raum W aus dem vorigen Satz wird als Komplementärraum (zu U ) bezeichnet. Aufgabe 8.3.2.4 (Komplementärraum) Zeigen Sie W ⊥ = U oder auch (U ⊥ )⊥ = U . Lemma 8.3.2.5 (Riesz) Es sei (V, h·, ·iV ) ein Hilbertraum. Zu einer stetigen linearen Abbildung ` : V → R gibt es einen eindeutig bestimmten Vektor y ∈ V , so dass für alle x ∈ V gilt: `(x) = hy, xiV . Beweis. Ist ` = 0, so ist nichts zu zeigen. Ist ` 6= 0, so ist U = ker ` ein abgeschlossener linearer Unterraum. Die Tatsache, dass der Kern ein Unterraum ist, folgt aus Sätzen der Linearen Algebra, die, dass der Kern abgeschlossen ist, folgt, weil dieser das Urbild einer abgeschlossenen Menge unter einer stetigen Abbildung ist (Satz 4.2.6). Dann ist V = U ⊕ U ⊥ . Da die Kodimension von U gleich 1 ist, ist dim U ⊥ = 1. (Beachte: Aus der Linearen Algebra ist bekannt, dass das Urbild isomorph zur direkten Summe aus Kern und Bild ist.) Daher gibt es einen Vektor 0 6= ȳ ∈ U ⊥ , der diesen Raum erzeugt. Für diesen Vektor und für alle z ∈ ker(`) gilt hȳ, ziV = 0. Da hȳ, ȳiV 6= 0 ist, ist die Gleichung hcȳ, ȳi = `(ȳ) lösbar. Setze y = cȳ. Jedes x ∈ V hat eine Darstellung x = u + w mit u ∈ ker(`), w = αȳ. Also erhalten wir für x ∈ V hy, xiV = hy, u + αȳiV = αhy, ȳiV = α`(ȳ) = `(u + αȳ) = `(x). 54 KAPITEL 8. DIFFERENTIALRECHNUNG Definition 8.3.2.6 (Gradient) Sei (V, h·, ·iV ) ein Hilbertraum. Ist U ⊂ V offen und f : U → x0 ∈ U differenzierbar, so heißt der Vektor y ∈ V mit R im Punkt Df (x0 )(x) = hy, xiV der Gradient von f im Punkt x0 . Wir schreiben dafür auch ∇f (x0 ). Lemma 8.3.2.7 (Gradient, Darstellung) Ist (V, k · kV ) = (Rn , k · k2 ), so gilt ∂f ∂x1 (x0 ) ∂f (x0 ) ∇f (x0 ) = ∂x2 .. . ∂f (x0 ) ∂xn . Beweis. Folgt sofort aus unserer Definition des Skalarproduktes. Bemerkung 8.3.2.8 (Gradient und Ableitung) Man beachte, dass es verschiedene Skalarprodukte gibt und die Darstellung des Gradienten vom Skalarprodukt abhängt. Nur die Linearisierung ist durch f und den Punkt festgelegt, die Ableitung in Koordinaten hängt von der Wahl der Basis und der Gradient vom gewählten Skalarprodukt ab. Obwohl die Ableitung die natürliche Konstruktion ist, wird oft in praktischen Rechnungen der Gradient herangezogen. Wir formulieren die wichtigen Aussagen in beiden Varianten. Der Gradient hat mehrere Anwendungen, die wir gleich betrachten wollen. Wir erinnern an die Definition von Extrema (Definition 5.3.1) aus der Analysis I. Satz 8.3.2.9 (Extremalstellen) Es sei (V, k · kV ) ein Banachraum. Ist U ⊂ V offen und f : U → R differenzierbar, so verschwindet Df (x0 ) an jeder Extremalstelle x0 . Beweis. 8.3. ABLEITUNGEN 55 Definition 8.3.2.10 (Niveaumenge) Sei U ⊂ V offen, f : U → R differenzierbar und w ∈ Niveaumenge von f zum Niveau w als R. Wir definieren die Nf (w) = f −1 (w). Bemerkung 8.3.2.11 (Niveaumengen) Die Bestimmung und Charakterisierung von Niveaumengen ist eine wichtige Aufgabe, die Untersuchung dieses Problems hat viele Entwicklungen in der Mathematik angestoßen. Wir wollen zunächst zeigen, dass (im Hilbertraum) der Gradient senkrecht auf der Niveaumenge steht. Da aber die Niveaumenge kein linearer Unterraum ist, wollen wir eine etwas andere Formulierung wählen um diesen Sachverhalt auszudrücken. Wir werden später sehen, wie man diesen Sachverhalt sachgemäß formuliert. Satz 8.3.2.12 (Niveaumengen und Tangentialvektoren) Sei U ⊂ V offen, f : U → R differenzierbar, w ∈ R und Nf (w) die Niveaumenge. Ist γ : R → U eine differenzierbare Kurve mit γ(t) ∈ Nf (w) für alle t ∈ (−ε, ε) für eine Zahl ε > 0. Sei γ 0 (0) = v der Tangentialvektor an γ im Punkt 0, so gilt Df (γ(0))(γ 0 (0)) = 0. Ist (V, k · kV ) ein Hilbertraum, so gilt h∇f (γ(0)), viV = 0. Beweis. Wir betrachten die Funktion g : R → differenzierbar und auf (−ε, ε) konstant. Also ist R : t 7→ f (γ(t)). Diese ist 0 = g 0 (0) = Df (γ(0))γ 0 (0) = h∇f (γ(0)), vi. Die zuletzt genutzte Formel ist eine verallgemeinerte Kettenregel, die wir noch begründen wollen. Satz 8.3.2.13 (Kettenregel) Es sei (V, k · kV ) ein Banachraum. Ist U ⊂ V offen, γ : I → U eine stetig differenzierbare Kurve und f : U → R im Punkt x0 = γ(t0 ) differenzierbar, so ist f ◦ γ im Punkt t0 differenzierbar und es gilt (f ◦ γ)0 (t0 ) = Df (x0 )(γ 0 (t0 )). 56 KAPITEL 8. DIFFERENTIALRECHNUNG Beweis. Aufgrund der Differenzierbarkeit von f, γ haben wir Darstellungen f (x0 + h) = f (x0 ) + `(h) + R(h) γ(t0 + h) = γ(t0 ) + hv + R̃(h). |R̃(h)| |R(h)| → 0 mit h → 0 und → 0 mit h → 0. Dann ist mit v = γ 0 (t0 ) |h| khkV und ` = Df (x0 ) mit 1 |f ◦ γ(t0 + h) − f ◦ γ(t0 ) − h`(v)| = |h| 1 = f (γ(t0 ) + hv + R̃(h)) − f (γ(t0 )) − `(hv) |h| 1 = f (γ(t0 )) + `(hv + R̃(h)) + R(hv + R̃(h)) − f (γ(t0 )) − `(hv) |h| 1 1 ≤ |`(R̃(h))| + |R(hv + R̃(h))| |h| ! |h| R̃(h) R(hv + R̃(h)) khv + R̃(h)k V . = ` + |h| khv + R̃(h)kV |h| Da ` stetig ist folgt aus kR(h)k2 → 0 auch die Konvergenz |h| ! R̃(h) lim ` = 0. h→0 |h| Der zweite Faktor im zweiten Term ist beschränkt, der erste konvergiert gegen 0, damit konvergiert der Ausdruck 1 |f ◦ γ(t0 + h) − f ◦ γ(t0 ) − h`(v)| |h| mit h → 0 gegen 0 also ist `(v) die Ableitung von f ◦ γ in t0 . 8.4 Mittelwertsatz und Anwendungen Aus der Analysis I erinnern wir uns an den Mittelwertsatz der Differentialrechnung Satz 5.3.7, der besagt, dass die Differenz zweier Funktionswerte eine Darstellung als Produkt aus der Differenz der Argumente und der Ableitung an einer Zwischenstelle hat, also f (b) − f (a) = f 0 (ξ)(b − a) mit ξ ∈ (a, b). Die Verallgemeinerung dieses Satzes für höherdimensionale Räume sieht ähnlich aus, ist aber im Detail etwas anders. 8.4. MITTELWERTSATZ UND ANWENDUNGEN 57 Satz 8.4.1 (Mittelwertsatz) Es sei U ⊂ V offen und x, y ∈ U seien Punkte, so dass die Verbindungstrecke, d. h. die Menge n o S(x, y) = x + t(y − x) t ∈ [0, 1] in U enthalten ist. Ferner sei f : U → ein ξ ∈ S(x, y) mit R differenzierbar. Dann gilt: Es gibt f (y) − f (x) = Df (ξ)(y − x). Beweis. Wir betrachten die Funktion g(t) = f (x + t(y − x)). Diese Funktion g : [0, 1] → R ist stetig, auf (0, 1) differenzierbar und g(0) = f (x), g(1) = f (y). Daher gibt es ein ζ ∈ (0, 1) mit g 0 (ζ) = f (y) − f (x). Die Ableitung errechnet sich zu g 0 (ξ) = Df (x + ξ(y − x))(y − x). Aus dem eben bewiesenen Satz folgt sofort die Abschätzung n o |f (y) − f (x)| ≤ sup kDf (z)kV 0 z ∈ S(x, y) ky − xkV . Daraus kann man nun sofort eine Schranke für f herleiten, falls U eine beschränkte, offene Menge ist und die Norm kDf (x)kV 0 auf U beschränkt ist. Definition 8.4.2 (Gebiete) Es sei (V, k · kV ) ein Banachraum. 1. Eine zusammenhängende, offene Teilmenge von V heißt Gebiet. Ein Gebiet U heißt beschränkt, wenn es ein R > 0 gibt mit U ⊂ BR (0). 2. Ist U ⊂ V eine Menge, so dass für je zwei Punkte x, y ∈ U S(x, y) ⊂ U gilt, so nennt man U konvex. 3. Eine Menge U ⊂ V heißt wegezusammenhängend, wenn es zu je zwei Punkten x, y ∈ U eine Kurve γ : [a, b] → U gibt, mit γ(a) = x, γ(b) = y.
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