Skript zur Vorlesung am 16.4.2015 (Seiten 123–125)

© R. Plato
Kapitel 55 Totale Differenzierbarkeit
Es gilt offenbar f 0 .x/
E > D rf .x/
E , der Gradient ist also
0
der zu f .x/
E transponierte Vektor.
Der Gradient ist ein wichtiges Instrument zur Analyse skalarer Funktionen mehrer Veränderlicher. So lassen sich damit Extremwertaufgaben lösen beziehungsweise die Richtung des stärksten Anstiegs und Abstiegs bestimmen.
55
Totale Differenzierbarkeit
55.1 Einführung
Für eine skalare Funktion f W D ! R mit einem skalaren Definitionsbereich D R, die in einem Punkt
x 2 D differenzierbar ist, gibt f 0 .x/ eine lokale Änderungsrate an, und darüberhinaus lassen sich die Funktionswerte f ./ lokal durch die Tangente Tf;x ./ WD
f .x/ C f 0 .x/. x/ approximieren, wobei per Definition für den Approximationsfehler f ./ Tf;x ./ DW r./
Folgendes gilt: r./x D f ./ fx .x/ f 0 .x/ ! 0 für ! x .
Der bei der Tangentenapproximation enstehende Fehler r./ geht also für ! x schneller gegen 0 als es die
Differenz x tut.
Es sollen nun entsprechende Aussagen für vektorwertige Funktionen fE W D ! Rm mit offenem Definitionsbereich D Rn getroffen werden. Die Rolle
der Ableitung in einem Punkt xE 2 D übernimmt dabei
die Jacobi-Matrix fE0 .x/
E , und die angestrebte Tangen-
E fE.x/
tialapproximation lautet fE./
E C fE0 .x/.
E E
x/
E
für E xE . Dabei muss diese Tangentialapproximation
auch noch hinreichend gut sein; das wird in Definition 55.2 unten präzisiert.
Für die Existenz einer Tangentialapproximation
reicht jedoch partielle Differenzierbarkeit, da diese lediglich Glattheit der betrachteten Funktion in Richtung
der Koordinatenachsen bedeutet.
Beispiel. Für die in Beispiel 52.7 auf Seite 120 betrachtete Funktion gilt f .x; 0/ D f .0; y/ D 0 für x; y 2 R
@f
@f
und daher @x .0; 0/ D @y .0; 0/ D 0. Das bedeutet aber
z. B.
1
2
D f .x; x/ 6 f .0; 0/ C f 0 .0; 0/..x; x/
für x ¤ 0.
.0; 0// D 0
M
Eine Glattheit in alle Richtungen ist nur unter stärkeren
Voraussetzungen gegeben. Der dafür benötigte Begriff
wird nun zunächst eingeführt.
123
55.2 Innere Punkte
Definition 55.1. Es heißt x
E 2 D innerer Punkt der
Menge D Rn , falls es ein " > 0 gibt, so dass die
Menge B.x;
E "/ WD f yE 2 Rn j j yE xE j < "g ganz in D
enthalten ist, d. h. B.x;
E "/ D . Ein Punkt xE 2 D heißt
Randpunkt der Menge D , falls er kein innerer Punkt
ist.
M
Bei der Menge B.x;
E "/ handelt es sich im Fall n D 2 um
einen Kreis und im Fall n D 3 um eine Kugel, jeweils
mit Mittelpunkt x
E und Radius ". Der Rand f yE 2 Rn j
j yE xE j D "g ist nicht Bestandteil der Menge B.x;
E "/.
Für den Fall n D 2 ist die Situation in Abbildung 86
dargestellt.
y
......
.......
.................................
.....
......... . . . . . . ........
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..
...... . . . . . . . . . . . .......
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.
"
xE
x
Abb. 86: Darstellung der Menge B.x;
E "/ R2 . Der
2
Kreisrand f yE 2 R j j yE xE j D "g ist nicht Bestandteil
dieser Menge.
Beispiel. Die Menge
Q D f.x1 ; : : : ; xn / 2 Rn j 0 < xk < 1 für k D 1; : : : ; ng
besteht nur aus inneren Punkten; auf einen Nachweis
wird hier verzichtet. Bei der Menge
Q D f.x1 ; : : : ; xn / 2 Rn j 0 xk 1 für k D 1; : : : ; ng
sind all diejenigen Punkte xE 2 Q Randpunkte, für die
xk D 0 oder xk D 1 für mindestens einen Index k
gilt. Für all solche Punkte x
E enthält nämlich die Menge
B.x;
E "/ für jedes " > 0 sicher Elemente, die nicht in Q
enthalten sind.
Das wird im Folgenden für einen der möglichen Fälle
noch ausgeführt. Im Fall xk D 0 wähle man für ein
beliebige Zahl " > 0 z. B. den Punkt yE D .y1 ; y2 ; : : : ;
yn / mit yk D "=2 und y` D x` für ` ¤ k . Dann gilt
j yE xE j D "= 2 < " und yE 62 Q. Daher kann xE 2 Q kein
innerer Punkt von Q sein.
124
© R. Plato
Teil II Mehrdimensionale Differenzialrechnung
Die Situation ist für n D 2 in Abbildung 87 dargestellt. Dort sind ein innerer Punkt xE und ein Randpunkt
yE angegeben.
M
z
E
TfE ./
y.
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xE
yE
Q
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;xE
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..............
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.........
........
. ...........
..............
E
f ./
xE
x
1
2
Abb. 88: Beispiel einer Tangentialebene
Abb. 87: Innerer Punkt x
E und Randpunkt yE
b) Wir führen nun die Notation
55.3 Die zentralen Begriffe zur totalen Differenzierbarkeit
Definition 55.2. Sei fE W D ! Rm eine Funktion mit
einem Definitionsbereich D Rn , die in einem inneren Punkt xE 2 D partiell differenzierbar ist. Man nennt
f in xE 2 D total differenzierbar oder auch fréchetdifferenzierbar, wenn in der Darstellung
E0
E D fE.x/
fE./
E C f .x/.
E E
E
xE / C rE./;
E 2 D;
der Fehlerterm rE W D ! Rm die Eigenschaft
E j
j rE./
j E xE j
fE D fE.xE C x/
E
fE fE0 .x/
E x:
E
Bemerkung 55.3. Sei fE W D ! Rm eine Funktion mit
einem Definitionsbereich D R, die in einem inneren
Punkt xE 2 D total differenzierbar ist.
Man nennt in diesem Kontext die lineare Abbildung
xE ֏ fE0 .x/
E xE das vollständige Differenzial von fE in
xE . Häufig wird in (55.3) anstelle von  das Zeichen d
verwendet, und (55.4) wird dann zu
E 2 Rn ;
(55.1)
die Tangentialapproximation an die Funktion fE bezüglich des Punktes x
E . Es gilt
E T E ./
E für E 2 D; E x:
fE./
E
f ;xE
(55.2)
Im Fall n D 2 und m D 1 ist der Graph dieser Funktion TfE;xE eine Ebene; man spricht dann auch von einer
Tangententialebene. Eine Illustration dazu finden Sie in
Abbildung 88.
(55.5)
M
Beispiel (Fehlerrechnung). Die Schwingungsdauer eines mathematischen Pendels (hier wird eine Punktmasse im Schwerpunkt betrachtet) ist gegeben durch die
Zahl
a) Man nennt
E
xE / DW TfE;xE ./;
(55.4)
d fE fE0 .x/d
E xE :
M
fE.x/
E C fE0 .x/.
E E
(55.3)
für xE 2 Rn ein, wobei noch x
E CxE 2 D angenommen
wird. Damit wird (55.1), (55.2) zu
! 0 für E ! xE
hat.
fE.x/
E
T D 2
q
`
g:
(55.6)
Dabei beschreibt ` die Länge des Pendels, und g ist die
Erdbeschleunigung. Die Situation ist in Abbildung 89
dargestellt.
Wir gehen hier der Frage nach, inwieweit sich relative
Messfehler in ` und g auf die Berechnung von T mittels
(55.6) auswirken. Dies geschieht näherungsweise mit
Hilfe des totalen Differenzials von T . Man berechnet
zunächst
@T
@`
D
p ;
`g
@T
@g
D
g
q
`
g
D
1
T
2g
© R. Plato
Kapitel 55 Totale Differenzierbarkeit
..........
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...
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...
...
...
...
...
...
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.........
.
...
..........
...........
..
........ ..
..........
................ .... ..........................
55.4 Regeln für
Funktionen
`
Abb. 89: Darstellung des mathematischen Pendels
.˛ fE C ˇ g/
E 0 .x/
E D ˛ fE0 .x/
E C ˇ gE0 .x/:
E
und erhält daraus und mit (55.5)
@T
@`
d` C
@T
@g
dg D
p d `
`g
1
2
q
g
`
p1 d `
`g
1
g
dg D
1
2
d`
`
dg ;
g
und daraus erhält man die näherungsweise gültige Abschätzung
ˇ dT ˇ
ˇ
ˇ
T
1
2
ˇ d ` ˇ ˇ dg ˇ
ˇ ˇCˇ ˇ :
`
g
(55.7)
Liegt beispielsweise der relative Fehler in der Länge des
Pendels bei 3% und der für die Schwerkraft bei 1%, so
lässt sich der relative Fehler der berechneten Schwingungsdauer des Pendels nach (55.7) näherungsweise
durch
1
.0; 03
2
(55.8)
1
T dg:
2g
Man ist an dem relativen Fehler interessiert und führt
hierzu eine Division mit T durch. Dies ergibt
dT
T
differenzierbare
Satz 55.6 (Linearität). Sind zwei Funktionen fE W D !
Rm und gE W D ! Rm mit Definitionsbereich D Rn
in einem inneren Punkt x
E 2 D jeweils total differenzierbar, so ist für beliebige Zahlen ˛; ˇ 2 R die Linearkombination ˛fE C ˇ gE W D ! Rm in xE 2 D ebenfalls total
differenzierbar. Für die dazugehörige Jacobi-Matrix gilt
dT total
125
C 0; 01/ D 0; 02
abschätzen.
Beweis. Wird hier nicht geführt.
Für zwei Funktionen fE W D ! Rm und g
E W E ! Rp mit
n
offenen Definitionsbereichen D R beziehungsweise
E Rm (mit n; m; p 1) gelte fE.D/ E . Dann ist die
die Hinterausführung g
E ı fE so erklärt:
gE ı fE W D ! Rp ;
xE ֏ g.
E fE.x//:
E
Satz 55.7 (Kettenregel). Sind mit den zuvor genannten
Bezeichnungen fE in einem Punkt x
E 2 D und gE in
fE.x/
E 2 E jeweils total differenzierbar, so ist die Verknüpfung g
E ı fE in xE 2 D total differenzierbar, und für
die dazugehörige Jacobi-Matrix gilt
.gE ı fE/0 .x/
E D gE0 .fE.x//
E fE0 .x/:
E
(55.9)
Beweis. Wird hier nicht geführt.
M
Ein einfaches hinreichendes Kriterium für totale Differenzierbarkeit liefert der folgende Satz:
Satz 55.4. Sei fE W D ! Rm eine Funktion mit Definitionsbereich D Rn , und weiter sei xE 2 D ein innerer
Punkt von D . Ist f stetig partiell differenzierbar in xE , so
ist sie dort auch total differenzierbar.
Beweis. Wird hier nicht geführt.
Bemerkung. Wie schon im eindimensionalen Fall bedeutet die Kettenregel (55.9) „äußere Ableitung mal innere Ableitung“. Man beachte jedoch, dass auf der rechten Seite der Gleichung (55.9) das Produkt zweier Matrizen zu berechnen ist. Außerdem kommt es dabei auf
die richtige Reihenfolge an.
M
Bemerkung 55.8. a) Wir sehen uns im Folgenden die
Kettenregel (55.9) für den folgenden Spezialfall an:
Total differenzierbare Funktionen sind stetig:
Satz 55.5. Jede in einem inneren Punkt xE 2 D total differenzierbare Funktion fE W D ! Rm mit Definitionsbereich D Rn ist stetig in xE .
Beweis. Der Beweis ist nicht schwer, wird hier aber
trotzdem nicht geführt.
Es ist fE W I ! Rm mit einem Intervall I R (das ist
ein Weg im Sinne der Definition 51.1).
und g W E ! R mit E Rm ; es ist also g skalarwertig.
In diesem Fall gilt g ı fE W I ! R. Die Kettenregel lässt
sich dann so schreiben:
.g ı fE/0 .x/ D r g.f
E .x// fE0 .x/:
(55.10)