Zur (Theorie-)Geschichte des Begehrens I. Ein weites Begriffsfeld: Begehren, Begierde, Wille, Verlangen, Wunsch, Streben, Trieb, Lust. II. Ein griechisch-antiker Beginn. (Platon, Aristoteles) III. Eine spätantik-römische Fortsetzung. (Stoa) IV. Eine christliche Problematisierung. (Augustinus) V. Eine frühneuzeitliche Wiederentdeckung. (Hobbes, Spinoza, Locke, Hume) VI. Eine aufklärerische Entschärfung. (Kant u.a.) VII. Eine anthropologische Entgrenzung. (Schopenhauer, Nietzsche) VIII. Eine metapsychologische Fundierung. (Freud) IX. Eine innerpsychoanalytische Radikalisierung. (Lacan) X. Philosophisch-politische Kontroversen. (Marcuse, Deleuze/Guattari, Foucault, Althusser, Žižek) XI. Kulturwissenschaftlich-ästhetisch-sozialtheoretische Anwendungen. (Jameson, Butler, Brown, Grosz, de Lauretis, Bersani, Silverman, Brennan, Berlan, u.a.) ad I: a. „Von der Seele Wesen aber müssen wir dieses sagen […] Es gleiche daher der zusammengewachsenen Kraft eines [...] Gespannes und seines Führers. Der Götter Rosse und Führer nun sind alle selbst gut und guter Abkunft, die andern aber vermischt. Und zunächst nun zügelt bei uns der Führer das Gespann, ferner ist von den Rossen das eine gut und edel und solchen Ursprungs, das andere aber entgegengesetzter Abstammung und Beschaffenheit. Schwierig und mühsam ist daher notwendig bei uns die Lenkung [...]“ (Platon, Phaidros) b. „In gewisser Hinsicht scheint es unendlich viele zu geben, und nicht nur, wie manche meinen, den überlegenden, mutvollen und begehrenden Teil, oder nach anderen den rationalen und irrationalen Teil. [...] Es gibt tatsächlich Teile der Seele, die sich prinzipiell stärker unterscheiden als die genannten“, nämlich: den ernährenden Teil, den wahrnehmenden, den empfindenden und – nur beim Menschen – den denkenden Teil. (Aristoteles, De anima) ad V: a. „Jedes Ding strebt gemäß der ihm eigenen Natur, in seinem Sein zu verharren. [Unaquaeque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur]“ (B. de Spinoza, Ethica, E3P6). b. „Allerdings, was der Körper kann, hat bislang noch niemand bestimmt […] Außerdem [lehrt die Erfahrung], daß die Entscheidungen des Geistes nichts sind als die Triebe selbst, die entsprechend der verschiedenen Disposition des Körpers verschiedenartig sind. Denn ein jeder handhabt alles von seiner Affektivität her [ex suo affectu omnia moderatur]; […] wer von entgegengesetzten Affekten bedrängt wird, weiß nicht, was er will […] daß beide, die Entscheidung und der Trieb des Geistes und die Bestimmung des Körpers, der Natur nach zusammen bestehen oder vielmehr ein und dieselbe Sache sind […] Wer also glaubt, er rede oder schweige oder tue sonst etwas aus einer freien Entscheidung des Geistes, der träumt mit offenen Augen.“ (E3P2S) c. „Jegliches Ding kann durch Zufall die Ursache von Freude, Trauer oder Begierde sein.“(E3P15) d. „Wir werden ein Ding allein aus dem Grund lieben oder hassen, daß wir es uns als etwas vorstellen, das mit einem Gegenstand, der den Geist gewöhnlich mit Freude oder Trauer affiziert, irgendeine Ähnlichkeit hat, selbst dann, wenn dasjenige, worin das Ding dem Gegenstand ähnlich ist, nicht die bewirkende Ursache dieser Affekte ist.“ (E3P16) e. „Wenn wir uns vorstellen, daß jemand etwas liebt, begehrt oder haßt, das wir selbst lieben, werden wir es ebendeshalb beständiger lieben usw.“ (E3P31) f. „Und hiermit glaube ich die wichtigsten Affekte und Schwankungen des Gemüts, die der Zusammensetzung der drei ursprünglichen Affekte, nämlich Begierde, Freude und Trauer, entspringen, erläutert und durch ihre ersten Ursachen erklärt zu haben. Meine Darstellung macht deutlich, daß wir von äußeren Ursachen auf viele Weisen bewegt und hierhin und dorthin getrieben werden wie von entgegengesetzten Winden bewegte Wellen auf dem Meer, unkundig unseres Ausgangs und Schicksals.“ (E3P59) ad VIII: a. „Die Kräfte, die wir hinter den Bedürfnisspannungen des Unbewußten des Es annehmen, heißen wir Triebe.“ (S. Freud, Abriß der Psychoanalyse) b. „Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie.“ (S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse) ad IX: a. „Alles menschliche Erfassen der Realität ist dieser ursprünglichen Bedingung unterworfen – das Subjekt ist auf der Suche nach dem Objekt seines Begehrens, aber nichts führt es hin. Die Realität, sofern das Begehren ihr zugrunde liegt, wird zu Beginn halluziniert.“ (J. Lacan, Seminar III) b. „Sicher soll die Befriedigung eines Wunsches Lust bringen, es hat aber der Träumer kein einfaches und eindeutiges Verhältnis zu seinem Wunsch. Er weist ihn ab, er zensiert ihn, er will nichts mit ihm zu tun haben. Wir treffen hier auf die wesentliche Dimension des Begehrens, das immer Begehren zweiten Grades ist, Begehren des Begehrens.“ (J. Lacan, Seminar VII) c. „Das Begehren ist das Begehren des Anderen.“ „Das Begehren ist weder der Wunsch nach Befriedigung noch der Anspruch auf Liebe, sondern die Differenz, die bleibt, wenn das erste vom zweiten subtrahiert wird.“ (J. Lacan, Ecrits) d. „Aber dieses Begehren selbst fordert, um im Menschen befriedigt zu werden, Anerkennung im Symbol oder im Imaginären durch eine Übereinstimmung im Sprechen oder durch einen Kampf um Prestige. Was bei einer Psychoanalyse auf dem Spiel steht, ist, daß im Subjekt das bißchen Realität heraufkommt, über das dieses Begehren verfügt, um symbolische Konflikte und imaginäre Fixierungen in Übereinstimmung zu bringen.“ (J. Lacan, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse). e. „Das Unbewußte, das sind die Wirkungen, die das Sprechen auf das Subjekt hat, das ist die Dimension, in der das Subjekt sich bestimmt in der Entfaltung der Sprechwirkungen.“ (J. Lacan, Seminar XI) ad X: a. „Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, nichts sonst.“ „Der Wunsch ‚will‘ nicht die Revolution, er ist revolutionär an sich“ „[a]lles kreist um […] die Wunschproduktion“ (G. Deleuze/F. Guattari, Anti-Ödipus) b. „Ich kann das Wort désir, Wunsch [bzw. Begehren], nicht ausstehen; selbst wenn ihr es anders verwendet, kann ich nicht umhin zu denken oder zu leben, dass Wunsch = Mangel, oder dass man vom Wunsch als unterdrücktem spricht. [...] jedenfalls brauche ich ein anderes Wort als Wunsch.“ (M. Foucault, Lust und Begehren) M. Saar (Universität Leipzig), HGB, Klasse Bara, 11.6.2015
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