Zwischen Begehren und Signifikant

Zwischen Begehren und Signifikantenherrschaft
Elemente von Therapie und Supervision nach Jacques Lacan, Existenzanalyse und
Lebensphänomenologie
Rolf Kühn (Freiburg i. Br.)
Der folgende Beitrag versucht eine Standortbestimmung der Supervision im therapeutischen
Bereich, der keiner bestimmten Schule verpflichtet ist, wohl aber neo-psychoanalytische,
existenzanalytische und phänomenologische Elemente aufgreift, um sie als Dialektik von
Sinn/Begehren einer Berücksichtigung der originären Lebensrealität entgegenzuführen,
welche jeglicher Praxis von Therapie und Supervision zugrunde liegt.
Dies lässt sich zunächst durch die Befreiungsdimension der anfänglich vorrangig
berücksichtigten Lacanschen Theorie und Praxis mittels Formeln wie „Verzehre dein
Dasein!“, „Durchquerung des Phantasmas“ oder „Trennung von der jouissance des Großen
Anderen (A)“ beschreiben (Lacan 1980: 260f.; 2001: 252; Fink 2013: 85f.). Zur Erinnerung
an Lacans wesentliche Analysemomente schließt dies Freudsche Elemente der phantasmatisch
imaginierten Mutterbrust als „extimen“ Teil des Subjekts ein sowie auch die Einverleibung
der Psyche in normative Signifikanten des Anderen (groß A) über die Vatermetapher im
Ödipuskomplex. Es handelt sich dabei für das Subjekt um eine je begrenzte Ausgestaltung des
eigenen Begehrens, wozu Triebregungen und phantasmatische Momente narzisstischer
Selbstimagination von Geburt an zu absoluten Ansprüchen erhoben werden. Sie müssen aber
verdrängt werden, so dass die psychische wie ex-sistentielle Spaltung des Subjekts ein Effekt
davon ist, der seit frühester Kindheit zur Anrufung (demande) von gesellschaftlichen
Instanzen mit symbolischer Prägekraft wie Vater, Mutter, Lehrer etc. führt. Da diese
Anrufungen in einem stets ideologischen Kontext immer enigmatisch verzerrt auftreten,
bleiben sie als nicht übersetzte und scheinbar doch legitimierte Größen in der Psyche zurück,
welche sie über die imaginäre Phantasie in sich bindet, um im Rätsel des Großen Anderen (A)
Reste signifikanter Anrufung zu entschärfen. Es handelt sich folglich um nicht metabolisierte
Reste, welche nicht in die Symbolisierungsprozesse von Institutionen aufgehen und
unverarbeitet „herausfallen“, was zur neurotischen Überforderung führt. Daher steht das
Subjekt ständig unter dem Integrationsdruck von zurückbleibenden Lücken, um seiner
reflexiven Selbstergreifung als Ego eine Kohärenz zu verleihen, die aber nie abschließend
gelingen kann, worauf die Begriffe wie Wunde, Verschwinden, fading, Loch, Riss etc. ins
Lacans Seminarmitschriften durchgehend hinweisen.
Dass dieser Auffüllungsversuch von symbolischen Lücken im Modus von „Als-ob“Prinzipien erfolgt, hatte auch schon Alfred Adler im Anschluss an Kant und Vaihinger
1
erkannt, sofern etwa die teleologische Urteilskraft durchaus „Gesetzmäßigkeiten der Natur“
im Interesse unseres Erkenntnisvermögens annehmen darf, um transzendental-logisch
überhaupt die Ermöglichung von Naturkausalität zu ermöglichen (Kühn 1985). Was in Bezug
auf die Welt als imaginierter Realität weitgehend gelingen mag (was gerade auch die
hypothesegebundenen Wissenschaften zeigen), bleibt in der intersubjektiven Wirklichkeit
allerdings mehr als problematisch, da trotz subjektiv selbstgesetzter Anerkennung eine
erschreckende Grundlosigkeit im fremden Begehren des Anderen (A) zurückbleibt und immer
wieder zur Angst als Grundmanifestation der Psyche und Existenz führt. Mit anderen Worten
vermag das Subjekt nur über den verinnerlichten Blick des Anderen (A) den scheinbar ihm
angestammten Platz in diesem zu finden, was aber gerade nach Lacan das Ziel der Therapie
herausfordert, nämlich die libidinös aufgeladenen Koordinatenpunkte des individuellgesellschaftlichen Daseins aufzugeben – sie „zu verzehren“, insofern sich durch sie das
Subjekt im Blick des Großen Anderen (A) sieht, der so auf unbewusste Weise dem Subjekt
immer näher ist als dieses sich selbst (Finkelde 2015: 337ff.). Uns interessieren hier nicht
weiter
die
Verschränkungen
von
Hegelscher
und
Freudscher
Lektüre
der
Anerkennungsanalyse als überarbeitetes Über-Ich-Paradigma bei Lacan (vgl. Kühn 2015:
211ff.), sondern zentrale Details aus seiner neo-psychoanalytischen Kur, um sie mit dem
therapeutischen Befreiungspotenzial auch in lebensphänomenologischer Hinsicht zu
vergleichen und einen integrativen Wahrheitszugang subjektiver wie kultureller Art für die
Institution Supervision hier in Kürze zu entwerfen.
1) Signifikantenfreisetzung im Lacanismus und rein phänomenologisches Leben
Für Lacan und die Psychoanalyse im Allgemeinen ist das „Durchkreuzen des Phantasmas“
nicht als ein Abwägen von argumentativ zugänglichen Verhaltensoptionen aufzufassen,
vielmehr handelt es sich um einen plötzlichen Umschlagspunkt, wo dem Subjekt eine neue
Selbstverortung zustößt, die sowohl passive Elemente der Widerfahrnis wie dialektischdezisionistische, aber auch „mystische“ Züge im Sinne des unvorhersehbaren „Einfalls“ nach
Bion umfassen kann. Auf jeden Fall ist das Durchqueren immer auch ein implizit erster
signitiver Akt gemäß Lacan, der antizipativ als vorauseilender Sprung sein kann (vgl. auch
Kühn 2002), insofern sich das Subjekt als eine Zukunft entgegennimmt, die es nunmehr als
Veränderung bestimmen wird (futur antérieur) und wie eine „Hast“ als besondere Zeitform
auftritt
(Lacan
1980:
Begehren/jouissance
369f;
(Genießen,
2001:
Lust)
568). Hinsichtlich
impliziert
eine
des
solche
Zusammenhangs
von
Durchquerung
wie
Durchstreichung des Phantasmas die Loslösung von den ehemalig entfremdenden
2
Bedingungen der Subjektivierung, welche stets auch eine libidinöse Bindung an das Genießen
des Anderen (A) beinhaltet. Innerhalb des Lacanschen Axioms des Spiegelstadiums (Lacan
1963: 93-100) kann dies als eine Zurückspiegelung der libidinösen Fremdinvestitur auf das
Subjekt selbst verstanden werden. Ohne Zweifel wird dem Patienten damit in der Therapie
eine nicht unerhebliche Anstrengung zugemutet (auch wenn diesem Prozess seine Zeit
gewährt wird), um sich von seiner neurotisch gesuchten Glückseligkeit in Abhängigkeit von
lebensweltlich erwarteten Zusagen und Hilfen zu lösen. Dabei besteht die Furcht vor einem
solchen Schritt weniger angesichts eines spezifischen Leidens als darin, den Bezugsrahmen zu
verlieren, in dem Lust und Schmerz bisher überhaupt empfunden wurden. Mit anderen
Worten wird der Referenzcharakter auf ein Signifikat hin durchkreuzt, welches wie ein
Verlassen des phantasmatischen Rahmens der Lebenswelt – und damit wie ein Tod –
erscheint, um über die gegebene Neurose, Psychose und Paranoia hinaus neue Strukturen zu
erproben, in denen das Subjekt sich als selbstverantwortliche Autonomie selbst setzt.
Schon an dieser Stelle erheben sich für die Supervisionspraxis zwei radikal
lebensphänomenologische Rückfragen an ein solches Therapiekonzept, denn einerseits ist
nirgendwo die Garantie gegeben, dass der Spiegeleffekt jemals beendet wird, nur weil er
nunmehr vom Patienten auf sein eigenes Verhalten als bewusste Bedingung angewandt wird,
und zum anderen vermag die prinzipiell passiv-originäre Lebenssituiertheit nicht aufgehoben
zu werden. Diese impliziert als solche immer auch ein Imaginäres, um sich momentan der
Unerträglichkeit dieser Lebenspassibilität über eine im weitesten Sinne ästhetische Kreativität
zu befreien (Kühn/Stachura 2005: 119ff. u. 155ff). Sofern über die Transzendentalität einer
radikalen Selbstgebung des Lebens alle skopischen Elemente wie Spiegel, Schau, Blick etc.
aufgehoben sind, um gegenreduktiv allein die Unmittelbarkeit des ebenso unendlichen wie
konkreten Lebensgrundes zurückzubehalten (Henry 2015: 13ff.), ist auch die therapeutische
Dimension dieser Diskursform in eine grundsätzliche kulturelle Gemeinschaftlichkeit
vorverlagert, so dass es nicht mehr nur darum geht, über die Durchkreuzung von Phantasmen
eine jeweilige subjektive Neueinschreibung in das symbolische Feld zu erwirken, sondern
dieses Feld selbst als letzten Sinnhorizont aufzuheben, was insbesondere als Ziel von
Supervision innerhalb von Ausbildung und Fallbesprechung maßgeblich sein dürfte. Denn
wenn mit Lacans psychoanalytischem Register die Veränderung nur darin bestehen sollte, in
einer Art Idealimagination jene symbolische Ordnung zu antizipieren, in welcher ich eine
neue subjektive Referentialität oder signifitive Rechtsstruktur für meine Ex-sistenz festlegen
kann, dann gilt zwar, dass keine Intention jeweils den Vollzug dieses Aktes intentional
hinterfragen kann, durch den dies geschieht, wie auch Viktor Frankl (2005: 171ff.) zuvor
3
schon zu seiner Zeit hinsichtlich des „intentionalen Bogens“ von Vollzug/Hyperreflexion
erkannte. Aber in solch reinem Entschluss selbst kann eine einmalige lebendige Kraft erprobt
werden, die schon immer mehr ist als nur die Hoffnung, in Zukunft durch sich selber
anerkannt zu sein und nicht mehr dem „Mangel des Anderen“ (A) als „Markierung“ der
phantasmatischen Verzerrungen ausgesetzt zu sein. Anders gesagt tritt die Supervision
letztlich aus jeder Geschichte als Zeit heraus, um so nicht nur die Erwartung in
lebensweltliche Horizonte zu durchkreuzen, sondern auch die scheinbare Abhängigkeit der
radikalen Subjektivität als originärer Lebendigkeit von der ek-statischen Verzeitlichung
aufzuheben, welche trotz allem „Skandieren“ der Sitzungszeit in der Lacanschen
Therapiepraxis (Fink 2013: 65ff.) noch eine nicht hinterfragte Vorgabe bleibt.
Neueinschreibung in die symbolische Ordnung zwecks Anerkennung seiner selbst durch
sich selbst sowie die Hoffnung auf eine Vorzukunft für die Rolle, die ich verändert spielen
werde, lässt also weiterhin eine „fiktive Identität“ bestehen (Langlitz 2005: 204f.), denn es
verändert sich nur die Modalität der Einschreibung des Subjekts in das symbolische Netz
(Zižek 1993: 83ff.). Nach Lacans eigenen Worten schreibt der Patient seine Geschichte neu,
ohne sie unbedingt insgesamt aufarbeiten zu müssen, und zwar jetzt selber als „Herr der
Signifikanten“, wodurch die Ethik dieser Psychoanalyse zu einer „Ethik des Realen“ werden
soll. Dies kann durchaus auch ein persönliches Scheitern markieren, weil alles von der
Funktion des Signifikanten als solchem her in Frage gestellt wird, nämlich die bisherige
einseitig normative Handlung aufgrund begrenzt begrifflicher Zusammenhänge der
Lebenswelt und des seelischen Innenlebens als fest gefügten Strukturen. Diese
„kreationistische Sublimierung“, welche für Lacan an das Strukturelement der Destruktion
gebunden bleibt (Lacan 1986: 257; 2013: 555ff.), will zwar dem Realen ohne neuerliche
Setzung einer metaphysischen Substanz zustimmen, aber dieser Ort eines subjektiven ex
nihilo für den eigenen Veränderungsakt verlässt unserer Auffassung nach nicht ein gewisses
Herrschenwollen über die Signifikanten und mit denselben. Denn selber autonomer „Herr der
Signifkanten“ zu sein, anstatt einem „Herrendiskurs“ des Anderen (A) zu folgen, mag das
imaginäre wie symbolische Register durch den Antagonismus des Realen aufbrechen – es
bleibt jedoch die Herrschaft der Signifikanten als solche in transzendentaler Hinsicht weiter
gegeben. So wie Hegel nicht aus der Negativität herauszutreten vermag, um der Subjektivität
einen positiv phänomenologischen Status zu verleihen, so bleibt auch das subversive
Potenzial einer möglichen Transgression zur Durchkreuzung von Unterwerfungsgesten
letztlich eine Nicht-Koinzidenz von Eros und Ethos. Was diesseits jedes propositionalen
Wissens im Lacanschen Sinne weiterexistiert, ist das Reale als widersinnig symptomales
4
Begehren, welches ebenso rastlos wie autodestruktiv sein kann, auch wenn es mit Recht durch
seine neurotische oder hysterische Vehemenz gegen die Einseitigkeit der lebensweltlichen
Entfremdung aufbegehrt (Lacan 2001: 565ff.). Gewiss lässt sich dem Symptom nicht
angemessen mit dem humanistisch-ethischen Erbe über den Appell an Bescheidenheit,
Mäßigung, Begehrensverzicht und Gemeinwohl begegnen, wie es gesellschaftlich wie auch
religiös zu oft versucht wird, aber das ausschließliche Insistieren auf die „autonominelle
Rechtssubjektivität“ verkennt (Finkelde 2015: 345f.), dass sich lebensphänomenologisch
hinter dem Symptom die Frage nach dem abyssalen Verhältnis zwischen Leid/Leben selbst
stellt, das der Patient in seinem Erleben von Begehren/Symptom ebenfalls auf der subjektiven
Ebene einer Wahrheit entgegenführen möchte, welche die seine ist, ohne erneut in allgemeine
Projektionen seine Ausflucht nehmen zu müssen. Wenn sowohl das Subjekt wie der Andere
(A) über diese Frage gespalten sind, dann bleibt in der Tat nur die individuell ex-sistentielle
Antwort der Fraktur oder Kluft, welche aber der innersten Lebenseinheit als transzendentaler
Vorgegebenheit ausweicht, was für die Supervision eine zentrale Problematik bleibt.
Dass eine solche Einheit jedoch auch indirekt von Lacan vorausgesetzt oder beschworen
wird, zeigt die genauere Analyse jenes Aktes, den er als „analytisches Wissen“ für den
erfolgeichen Abschluss einer Analyse/Therapie in Anspruch nimmt, nämlich das
Fortschreiten des Subjekts ins Reale hinein als den gewachsenen Anspruch des Ich zu
proklamieren, „sich als fons und origio des Seins zu affirmieren“ (2001: 323-328). Quelle
oder Ursprung zu sein, ohne gleichzeitig die Fraktur oder die Spaltung des Subjekts
prinzipiell aufheben zu können, weil die Selbstbenennung als Selbstergreifung im Bereich neu
entdeckter oder verschobener Signifikantenketten verharrt, ist deshalb ein Sophismus, der nur
das Verhältnis im Akt/Signifikanten-Bezug umdefiniert, aber keinen wirklich neuen (oder
schon immer gegebenen) Ursprung erschließt. Mit anderen Worten verbleiben wir in einer
Logik des signifitiven Beherrschenwollens der subjektiven Ex-sistenz durch Zeichen und
Bedeutungen, auch wenn das Reale eine massive Erschütterung im subjektiven Bereich
hervorzurufen vermag, wie Lacan durchaus zugute gehalten werden kann. Ein Subjekt,
welches zu solcher Erschütterung bereit ist, verliert aber nicht notwendigerweise auch die
Illusion, sich sozusagen selbst neu „gebären“ zu können, indem sein Veränderungsakt gewisse
Koordinaten seiner bisherigen Subjektivierung verschieben konnte (Pluth 2007: 302f.). Eine
solch neue Performanz als die „Instaurierung des Subjekts als solchem“ mit Lacans eigenen
Worten zu qualifizieren (1967; Miller 1999), zeigt die Abkoppelung der Subjektwirklichkeit
als ältere radikale Ipseisierung durch die strukturalistische Gesamtversprachlichung seines
Daseins. Nur unter solcher Prämisse kann dann der gewollte „Akt“ der Durchquerung des
5
Phantasmas wie ein autopoietischer Akt erscheinen, der scheinbar keinerlei Vorgängigkeit als
immanenter Kraft in einer primordialen Ermöglichung besäße – im rein phänomenologischen
Leben, welches sich allein in seiner Selbstgebung radikal gründen, modalisieren oder
verändern kann.
Wenn Leiden nur eine verquert-libidinöse Einschreibung in symbolische Ordnungen wäre,
und keine Grundgegebenheit des Lebens selbst, welches sich als solches zunächst selbst
erleidet bzw. entgegennimmt, um sich darin in seinem absoluten Wesen zu erproben, dann
wäre die Lacansche Therapiekonzeption stringent, insofern seine anvisierte nominelle
Selbstsetzung für den Patienten aus der Zukunft heraus auch für das Leid rezipierbar wäre,
auch wenn an solcher Selbstsetzung ohne momentanen kollektiven Repräsentationshorizont
paranoide und psychotische Elemente mitwirken sollten. Denn der Witz nach Freud zeigt in
der Tat, dass Signifikanten, die dem ersten Vernehmen nach nichts zu besagen scheinen, auf
einer anderen Ebene eine Wahrheit zu offenbaren vermögen. In diesem Sinne muss man
Lacans Therapieverständnis nicht das Argument entgegenhalten, dass Befreiungshandlungen
nur gelingen können, falls darauf das Urteil falsch oder wahr anwendbar ist. Aber einen
nahezu rein dezisionistischen Akt (wenn auch mit Widerfahrniselementen) als einen Akt zu
verstehen, wo autogenetisch die „Wiederholung durch einen selbst stattfindet“ um darin das
Merkmal einer „Geburt“ zu setzen, bleibt bestenfalls eine metaphorische Neuschöpfung, auch
wenn sie nicht solipsistisch verstanden werden darf, da sie ebenfalls die signitiven
Verweisungen innerhalb etablierter Sinnbezüge zugunsten des Patienten bzw. innerhalb der
Supervision verschiebt.
Der Akt der Freisetzung des Subjekts ist folglich für Lacan identisch mit einer
individuellen Performanz, welche nicht nur auf einem Signifikantenfeld ritualisiert
lebensweltlicher Anerkennung basiert. Entscheidend ist gleichfalls, wie wir gesehen haben,
das Aufbrechen eines neuen Signifikanten im Realen, und zwar mit all seinen Auswirkungen
bis ins Innerste der libidinös unbewussten Verhaltensweisen hinein. Diese Schöpfung eines
neuen Terms gerade als innovative Beziehung zwischen den Grundsignifikanten kann eine
destruktiv
verheerende
Wirkung
besitzen,
aber
dieses
Leiden
nahe
eines
Psychozusammenbruchs eventuell (Lacan 1981: 238f.) bleibt dennoch eine signitive
Regelneubegründung bzw. die Entdeckung eines Signifikanten, welcher als Akt der
Veränderung ein „Loslassen“ wie ein „Auswerfen“ von neuen Signifikanten auf die Welt hin
darstellt. Allein dies ist jene für Lacan im leiblich-affektiven Buchstaben (lettre) verankerte
„Kraft“ (pouvoir), um als Akt der Konfrontation mit dem inkonsistent erfahrenen Anderen (A)
nicht nur dessen Mangel als Durchstreichung des Phantasmas zu verwirklichen, sondern
6
ebenfalls die Erfahrung zu machen, dass die eigene Freisetzung keine Autorität mehr in
Anspruch nehmen muss, welche als Gewissheit über diesen Akt selbst hinausginge. Dies
verharrt allerdings im Rahmen der Selbstevidenz eines neu aufgefundenen Signifikanten
wieder – und rührt daher noch nicht an jene abgründig lebendige Selbstgewissheit, welche für
jede praktisch oder selbstaffektiv gelebte Subjektivität die reine Lebenspassibilität bzw.
-abkünfigkeit als solche beinhaltet, wie wir sie für eine analytisch-therapeutische wie
kulturelle „Erneuerung“ in Anspruch nehmen und von Michel Henry die „zweite Geburt“
genannt wurde (2010: 124ff.).
Zwischen der apriorischen Radikalität der uns absolut gebärenden Lebenshervorbringung
als unserer unverbrüchlichen generatio und dem Scheincharakter symbolischer Absolutheit
des Anderen (A) besetzt die Lacansche Position in psychoanalytischer wie gesellschaftlicher
Theorie- und Praxishinsicht zwischen Wissen und Wahrheit mithin jene Stelle hauptsächlich
(Fierens 2012), wo auf den fragilen Modalcharakter der Wirklichkeit im Sinne
lebensweltlicher „Realität“ besonders für jede Supervision hingewiesen werden kann. Die
Frage nach der Kohärenz der Gesamtheit von Überzeugungen, welche für den Einzelnen
neurotische, psychotische, hysterische wie perverse Antworten hervorzurufen vermögen,
beinhaltet analytisch-therapeutisch (bzw. über existentielle Krisen) immer noch die
Möglichkeit, dass die entsprechenden regulativen Ideen für solche hypostasierte Gesamtheit
kurzfristig ausgesetzt werden können, um in einem Akt minimaler Anteilhabe das scheinbare
Gleichgewicht zwischen Realitätsprüfung und Phantasmarahmen zu durchkreuzen. Danach
mag sich ein Individuum/Patient als in einer „neuen Welt“ lebend vorkommen, was ein
unbedingt therapeutischer oder existentieller Gewinn ist, aber das Prinzip des Prekären solch
modaler Weltanpassung über eine gewissen Erfahrung des überraschend anderen Realen ist
damit noch keineswegs aufgehoben, sondern nur in einen veränderten Sinnhorizont verlagert,
der ebenfalls wieder zum Labyrinth der Bedeutungen mit entsprechenden entfremdenden
Geltungsansprüchen werden kann. Zwar mag dann zum Teil das Imaginäre als Zentrum des
Selbst für scheinbar ungebrochene Autonomie sowie das Symbolische als regulierende
Abschirmung der Sittlichkeit im Realen einen „Riss“ bekommen haben, aber die Hoffnung,
durch eine kaleidoskopartige Drehung von Realitäts-Signifikanten dem Realen gerechter
werden zu können, ist nicht grundsätzlich aufgegeben. Es besteht daher in unseren Augen
weiterhin ein Verhaften an Wissen über die Signifikanten als solche, und damit ein
Gebundensein an ein Wissen- oder Beherrschenwollen, welches noch nicht zur wirklichen
Leere von allen Bedeutungsanrufungen geworden ist, wie Lacan dies an sich über den
Zusammenhang von Begehren/jouissance als Nichts des „Objekts a“ anzustreben schien
7
(2001: 519f.). Diese Konsequenz solcher Leere für die Supervision setzt in der Tat die radikal
phänomenologische Heterogenität von Leben/Signifikanten voraus, um einerseits zu
verstehen, dass keine Gewissheit über einen Akt zu erreichen ist, welcher noch an einen realsymbolischen
Übergang
zwischen
eigener
signifitiver
Performanz
und
einer
Minimalübereinstimmung mit kollektiver Regelbegründung gebunden bleibt. Sowie
andererseits zu erproben ist, dass jede Abstraktion, Phantasie bzw. auch jedes Phantasma,
Imaginäre und Symbolische letztlich affektiv im Leben selbst ermöglicht ist und von daher
den radikal abgründigen Zugang zu diesem nicht verleugnen muss.
Denn auch jede exzentrische oder exzessive Subjektivität muss wiederum eine
nachträgliche Integration in die Normativität vornehmen, so dass auch die Einbringung in ein
futur antérieur den Sachverhalt nicht aufhebt, dass der Exzess als solcher bei aller
Aufbegehrung keine unmittelbar neue Norm sein kann. Er ist höchstens eine Art „paranoider
Vernunft“,
welche
als
korrigierendes
Strukturelement
in
die
Normativitätsgenese
hineinzunehmen ist, während das Leben schlechthin eben ein Übermaß darstellt, welches als
absolutes Voraus das ständige Mehr unseres Lebens als dessen immanente Selbstgebung
hervorbringt – es also gerade von einem signitiv-objekthaft nicht einholbaren Exzess aus
hervortreten lässt (Henry 2005: 27f.). Dies ist mehr als das mögliche Ahnen aller Individuen –
oder der meisten zumindest – in einem lebensweltlich bestimmten Feld, dass die Autorität des
Anderen (A) auf einem kollektiven Missverständnis beruht oder sie sich fundamental irrt. Es
bleibt nämlich auch dann oft noch ein vorauseilender Gehorsam, wie es die gewöhnlichsten
Alltagssituationen zeigen, in denen der Interpellation Folge geleistet wird, obwohl oftmals das
Individuum schon in eine grundsätzliche Delegitimation seines Daseins (als unwissendes,
schuldhaftes, inkompetentes etc.) eingeschrieben ist – das heißt nicht wirklich als Subjekt
ernst genommen wird, da es dem Vertrauen an „erhabene Objekte“ glaubenseinfordernder
Instanzen oder Medien schon lange abgeschworen hat. Lacans „Ethik des Realen“ setzt daher
nicht voraus, dass sich der Einzelne gegen alle verstörenden Anrufungen abzuschirmen
vermag, aber der utopische Zug seiner Ethik ist sicherlich, dass das einzelne Individuum sein
diesbezüglich unausgeschöpftes Potenzial unterschätzt, auch wenn es weiterhin an erneuerte
Signifikantenfelder gebunden bleibt, wie wir zeigten.
2) Weitere Ergebnisse für die Supervision
Wenn man Wittgensteins Verweisgeste in das Schweigen der Mystik als Grenzen der Welt
über die Begriffsbildung unseres Sprachgebrauchs eventuell noch als bloßes Stilmittel
verstehen könnte (Kühn 2005: 89ff.), um ein letztes nicht-propositionales Element
8
eigentlicher Sinnvermittlung zu suggerieren, so ist diese Frage ebenfalls in Bezug auf Lacan
erlaubt. Denn auch hier hängt der geforderte Akt der Freisetzung vom Ort seiner eigenen
Innerlichkeit als Autorität ab, die nicht nur auf ein vor-propositionales Unbewusste im Sinne
Freuds verweist, sondern darüber hinaus auf ein eigenes Begehren als Wahrheit, welche nicht
positivistisch oder rein argumentativ einholbar ist. Handelt es sich also um einen Sprung, der
wie bei Kierkegaard Glauben impliziert und bei Fichte (Kühn 2004: 58ff.) die subjektive
Tathandlung als Medium einer in die zukünftige Praxis hinein verweisenden Ich-Funktion
ohne Bild seiner selbst darstellt? Dies wäre dann ein Hinweis darauf, dass ein solcher Sprung
als „Kraft“ die klassische
philosophische Überschneidung von Wirklichkeit/Möglichkeit
aufhebt und daran erinnert, dass das Subjekt als Potenzialität immer schon mehr ist als das,
was es thematisch von sich selbst denkt und setzt. Dann wäre nicht nur die Distanzierung
gegenüber normativen Außenbereichen als Durchquerung des Phantasmas noch einmal
stärker plausibilisiert, sondern wir vermögen hier auch die Frage der eigentlichen Aufgabe
der Supervision an jenen äußersten Punkt zu führen, wo eben das genannte absolut
phänomenologische Mehr des Lebens in uns die Freisetzung von jedem historischen Ereignis
bedeutet.
An dieser phänomenologischen Radikalisierung des Lacanschen Selbstverständnisses ist
deutlich abzulesen, wie der Primat der Signifikantenvorherrschaft noch jene primordiale
Lebensabkünfigkeit als „Wort des Lebens (Logos)“ überhört, dessen Schweigen ein ganz
anderes ist als der Verweis ins Schweigen irgendeiner Autorität hinein, um eine Lehre zu
begründen (Henry 2005: 30ff.). Das unergründliche Mehr, welches Lacan als „Platz“ und
„Potenzialität“ im Begriff des Realen verborgen sieht, ist also nicht nur ein signitiver
Überschuss über die herrschende Doxa hinaus, sondern die lebendige Wirklichkeit des Lebens
schlechthin vor aller partikulären (oder auch politischen) Realtitätsdurchbrechung seitens
„exzessiver Subjektivität“ wie etwa bei Antigone, Paulus, Luther oder Lenin, wie sie von
Lacan illustrierend angeführt werden. Die Möglichkeit einer Autorität und Meisterschaft über
Signifikanten, welche bisherige Begriffsbildungen übersteigen, kann natürlich zu keiner
Gottgleichheit gelangen, aber dies schließt eben phänomenologisch eine bisher immer schon
gegebene originäre „Performanz“ der Lebensidentität nicht aus, die wir als Kern der
Supervision herausstellten, um die „Ethik des Realen“ als eine „Ethik des Extrems“ im Sinne
sprachperformativer Transgression bei Lacan auf ihre eigentliche Ermöglichung hin zu
befragen. Der „signifikante Einschnitt“ des autónomos wie besonders bei Antigone soll als
Handlungstat verwirklicht werden und wird – wie in allen Fällen – in einem propositionalen
Sprechakt nachträglich als neue mögliche Universalität auf der Ebene der Aporie ethischer
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Transgression erreicht. Dafür nimmt der Lacanadept Alain Badiou (2005: 238f. u. 539) eben
eine „Autonomination“ als „Selbstzugehörigkeit“ in Anspruch, die als „Name der Leere einen
reinen Eigennamen“ darstelle. Aber eine solche Leere als tragisch-transgressive Bewegung,
die sich im Eigenen zunächst in der Form eines Fremden erführe, ist nur in Bezug auf
lebensweltlich destruierte Signifikanten eine Leere – sie muss als Kraft subjektiver
Potenzialisierung hingegen die Fülle der Über-Mächtigkeit des Lebens enthalten, um ihr
eigenes Handeln durchtragen zu können, wie es in der Supervision zu erproben bleibt.
Was Lacan allerdings für die Intensität der Transgression lehren kann, welche in unseren
Augen an die Intensität des Lebens selbst gebunden bleibt, sich ständig als ein Mehr zu geben,
ist die neue Perspektive, auch das so genannte „Psychopathologische“ als eine alltägliche
Intervention wahrzunehmen, welche etwa über das hysterische Moment den Mangel des
Anderen (A) in ethisch-transgressiver Weise hinterfragt. Damit tritt eine Form von je
individuierter Wahrheit in die gesellschaftliche Realität ein, die Wahrheit meist nur noch
regelhaft-objektiv versteht und nicht subjektiv-affektiv. Begrenzt man diese Intervention des
„hysterischen Diskurses“ nicht nur auf kreative Neubegründungen von veränderten Wissensoder Sinnhorizonte für die Supervision, dann wächst der Vielfalt der Individuen eine
prinzipielle Anerkennung zu, welche im Übertragungsgeschehen von Analyse/Therapie als
Produktivität solcher Beziehung auf dem Boden der Wirklichkeit einer Liebe von Lacan
gesehen wurde, die sich als „Diskurs der Wahrheit“ kulturell schlechthin etablieren könnte
(2001: 518f.). Darauf zielt letztlich unsere Auffassung von Supervision ab, die nicht nur auf
den subjektiv-trangressiven Durchbruch als „Durchquerung des Phantasmas“ durch einzelne
Individuen wartet, sondern solche Wahrheit in jedem favorisiert bzw. voraussetzt. Dann wäre
es nicht abwegig, die analytisch-therapeutische Gesprächssituation und deren Supervision als
eine ständige intersubjektive Übertragungswirklichkeit zu konzipieren, die nicht mehr
bestimmte Verhaltensweisen kopiert, sondern eine wirklich „zweite Geburt“ aus der
Selbstgegebenheit des rein phänomenologischen Lebens in allen Situationen heraus
ermöglicht (Kühn 2015: 434ff.). Die Supervision arbeitet dann nicht mit einer zeitlichen
Retorsion, um von der erneuerten signitiven Zukunft her auf die Vergangenheit und deren
Belastung zurückzuwirken, sondern es wird die radikale Performanz als Intensität des Mehr
des Lebens in jedem Augenblick verwirklicht. Eine solche Supervision folgt dann weder
einem geschichtlich-gesellschaftlichen Messianismus noch einem prophetischen Sprachgestus
oder dem faszinierten Zuhören eines Gründers von Therapie- und Supervisionsausrichtungen,
sondern sie realisiert diese und andere Möglichkeiten aus der Unmittelbarkeit der immanent
als unendlich erprobten Lebensabkünftigkeit heraus. Der Diskurs der Supervision ist
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demzufolge kein Diskurs über eine neue Sinnhaftigkeit mehr, sondern die Intensität der
passiblen oder schweigenden Einheit von Hören/Sprechen des einen Lebens als stets
subjektiver Praxis ohne bloß formale Selbstlegitimierung und vom Anderen (A) noch
vorgezeichnete Normentransgression, die dann stets eine Abhängigkeit davon bliebe. Dieser
Diskurs der Supervision ist folglich Leben allein aus der Quelle des an sich lebendigen
Lebens und zeugt von nichts anderem.
3) Supervision als „Kartographie des Begehrens“
Beinhalten die bisherigen Hinweise eine gewisse subjektive wie gesellschaftliche
Neurosetheorie, so bleibt diesbezüglich noch zu ergänzen, dass heute mehr von „neurotischen
Charakteren“ gesprochen wird als von „Neurose“ im klassischen Sinn wie zu Freuds Zeiten,
da
sich
nicht
zuletzt
aufgrund
von
kulturellen
Bedingungen
die
neurotischen
Erscheinensweisen verändert haben (Müller-Surr 1950). Und dies führt uns auf einen
zentralen Punkt von Therapie und Supervision überhaupt zurück, nämlich auf den
Zusammenhang zwischen Fragen der Objektbeziehung im Begehren und einer gewissen
moralisierenden Normierung des Verhältnisses des Subjekts zu seinen Objekten als „Sinn“.
Von dieser Klarstellung sind alle Therapierichtungen betroffen, und für die Supervision
erlaubt uns dies eine letzte Stellungnahme zur Sicht des Patienten überhaupt, den wir
durchgehend in seiner einmaligen Lebendigkeit oder originären Subjektivität verstanden
haben. Wenn im therapeutischen Prozess die Besonderheiten und eventuell „Degradierungen“
des Subjekts zum Umfeld seiner Objekte zur Sprache kommen, dann schleicht sich hier sehr
leicht die Perspektive eines vorgegebenen „normalen“ Verhältnisses zu denselben ein. Dies
hat zu Folge, dass der Patient so betrachtet wird, als sei er aus seiner freien Autonomie
momentan herausgefallen, und es gehe darum, dieselbe wieder herzustellen, da sie bloß
verkannt oder vergessen wäre. Was sich hierbei als Gefahr für den Therapeuten und
Supervisor ergibt, ist die Voraussetzung seiner eigenen Werte als Referenzsystem, so wenn
beispielsweise die affektiven „Ungenügsamkeiten“ des Patienten analysiert werden. Das
heißt, es wird manchmal sehr rasch dann ein unterster Grad der Identifikation festgeschrieben,
um die guten und bösen Objekte zu benennen, die introjiziert und projiziert wurden. In diesem
Sinne werden Neurose und Perversion als subjektives Drama einer Entwicklung zu
Fixierungen von frühen (ödipalen) Instinktreferenzen, wobei die Natur der „Subjektivität“
selbst äußerst zweideutig bleibt. Bedeutet sie das psychologische „Selbstsein“ des Patienten,
dann wird in solcher Perspektive die Therapie zu einer (problematischen) Neuausrichtung
solcher Identifikation, damit das jeweilige Individuum durch die therapeutische Erfahrung
11
eine neue Referenz zur „Wirklichkeit“ gewinne. Und dies ist genau die Ebene, wo die
Normierung in einem moralisierenden Sinne sich leicht Einzug verschaffen kann, denn wenn
auch der Therapeut/Supervisor weitgehend von seinen eigenen Werten zu reduzieren vermag,
so ist es wissenschaftsgeschichtlich wie epistemologisch doch der Normalfall, dass die eigene
Wissenschaftlichkeit (hier der Therapierichtung oder Psychoanalyse) als unhinterfragter
Maßstab für den wiederzufindenen Bezug mit der „Wirklichkeit“ fungiert (Fink 2013: 295ff.).
Aber dies würde nichts anderes bedeuten, als genau das zu wiederholen, was bei den
neurotischen und perversen Objektbeziehungen als „Herrensignifikanten“ in Frage zu stellen
ist, nämlich generell eine Identifizierung, anstatt zu sehen, dass die Subjektivität letztlich
allein in einem Bezug zu ihrem lebendigen Begehren steht. Seit die Menschen ethisch denken,
haben sie eine Moral des Begehrens entworfen und dabei berücksichtigen müssen, dass das
Begehren in seiner Subjektivität aber auch oft als Paradox erlebt wird. Dennoch schreiben
Denker wie Platon, Spinoza und Simone Weil (Müller 1983), dass das Wesen des Menschen
das Begehren (eros, conatus) sei, womit allerdings noch nicht unmittelbar auf die Frage
geantwortet ist, was das Begehrenswerte als Inhalt oder Ziel dieses Begehrens wäre. In der
Therapie/Supervision tritt hinzu, dass das Begehren nicht einfach nur mit unserem Handeln in
Verbindung steht, sondern der Beweggrund von allem bildet, von allem Tun wie Verhalten,
so dass von diesem zentralen Punkt aus eben auch in der Supervision das Begehren als Weg
wie der Schlüssel zum „Sinn“ der je individuellen Existenz hin zu verstehen bleibt. Und
obwohl das Begehren (désir) im rein phänomenologischen Leben als solchem gründet, mit
dessen Selbstaffektion sogar identifiziert werden kann (Henry 2005: 46ff.), zeigt uns unsere
existentielle Erfahrung, dass das Begehren nicht mit Harmonie gleich zu setzen ist, denn es
kann auf dieser Ebene problematisch, vielgestaltig und sogar widersprüchlich sein. Aus
diesem Grund ist genau die (Gegen-)Übertragung der Ort und die Weise, wo die
therapeutische Erfahrung den Wegen des Begehrens zu seinen Objekten hin folgen kann und
dann ebenfalls zeigt, dass die Fixierung auf eine primäre Regression und Frustration nicht nur
in sich schon negativ ist, sondern vor allem durch den Zusammenhang von
Frustration/Bedürfen eine Festlegung des Begehrens auf eine bloße Anfrage vornimmt (Kühn
2015: 399ff). Hier schleicht sich dann nicht nur leicht die schon zuvor genannte
moralisierende Normierung ein, sondern das Begehren als solches bleibt dann ohne Antwort,
weil die Gefahr besteht, sich therapeutisch bzw. in der Supervision allein auf die Regulierung
des Abstandes des Begehrens zu seinem Objekt zu konzentrieren.
Dann verstrickt man sich nur zu leicht in die Widersprüche des Narzissmus und die
imaginären Verzerrungen des Ich, um auf diese Weise das alte Gefälle von Arzt und Patient
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wiederzubeleben, obwohl im Zentrum jeder Psychotherapie/Analyse die Subjektivität nicht
der Allmacht des Therapeuten ausgeliefert sein soll, um die angebliche Distanz zu den
Objekten zu verringern. Und auch bei Psychose und Wahn (Schlimme 2015) bleibt für die
Erfahrung der (Gegen-)Übertragung zu beherzigen, dass der Patient uns gleich ist, weshalb
wir – um erstaunliche Worte bei Lacan (2013: 560) zu gebrauchen – „mit ihm durch Bande
der Nächstenliebe, der Achtung nach unserem eigenen Bild verbunden sind“. Der Patient ist
also kein bloß zuhörendes Selbst, sondern er ergreift im therapeutischen Prozess das Wort,
und dadurch bewegt sich das Begehren nicht allein auf der Ebene eines instinktiven Strebens
letztlich, sondern in einer inneren Historialität und Bedeutung über alle empirischen
Anzeichen hinaus. Daher ist das Begehren weder die bloße Folge eines élan vital noch des
begrenzt Ausgesagten, welches sich als „Sinn“ zu artikulieren versucht; das Begehren ist in
seinem Wesen über beides hinaus und zugleich deren Wurzel. Und weil der Patient als
Erwartung an das Begehren des Anderen (A) nach Lacan gebunden ist, sind in ihm auch
parallel oder sogar zugleich die grundlegenden Gefühle vernehmbar, nämlich Liebe und Hass:
„Er/sie soll sterben!“ Und ebenso: „Wie schön ist er/sie. Ich liebe ihn/sie!“ (Lacan 1948).
Zwischen diesen beiden Grundtonalitäten, die stets auch Freude und Leid bedeuten, bewegt
sich mit seinen Oszillationen das Begehren, in denen es sich als „Intervall“ des Subjekts
immer wie neu konfiguriert, um selbstverständlich auch imaginäre Formen des Phantasmas zu
transportieren. Aber die grundlegende Problematik, auf welche die Supervision vor allem
achten sollte, besteht eben nicht darin, ob ein Objekt eine Instinkt- oder Triebbefriedigung
darstellt, sondern der eigentliche Inhalt des Begehrens ist das Begehren des Begehrens, um
das herum alle Objekte kreisen. Als Objekt des unbewussten Begehrens tritt es auf als
Wunsch nach Anerkennung, und dabei kann natürlich ein Fetisch diese Rolle übernehmen, so
wie wir wissen, dass ein Fetisch sowohl im gesellschaftlichen (Marx) wie psychischen Sinne
(Freud) seine imaginäre Anerkennung zu fordern vermag. Und zwar mit den Folgen eines
trügerischen Tausches, der sich auf der Ebene des Begehrens zu vollziehen scheint, aber im
Grunde nur eine Bedeutung des „Begehrens des Begehrens“ übernimmt und es damit
verschiebt.
Wenn indes die ex-sistentielle Trennung das Subjekt an sein Sein verweist und kein Objekt
diese Position jemals wirklich einnehmen kann, so signalisiert jedes begehrte Objekt im
Grund eben einen Rest, der sich nicht nur einfach auf die normierte Wirklichkeit bezieht,
sondern auf das Reale, das nie fehlt – auf das rein phänomenologische Leben, wie wir zuvor
schon ausführten. Die Wirklichkeit enthält alle kulturellen Symbole des Begehrens, aber das
der Subjektivität in ihrer immanenten Erprobung eigentliche Begehren ist ein „Objekt“
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(besser Objektales), welches sich dieser Erfahrung in einem gegenständlichen Sinne gerade
entzieht. Für die Supervision von Therapie und Ausbildung bedeutet dies, dass sich eine
solche Erfahrung – bei aller biographischen Erinnerung und Antizipation von „Sinn“ – im
jeweiligen Augenblick entscheidet, denn das wirklich Neue ist nur in dem Moment, der noch
nicht in den Koordinaten des Vergangenen auftrat und auch noch nicht als das Zukünftige in
der Erwartung tendenziell mitkalkuliert ist. Das Neue als Reales ist das Sich-Aussetzen ans
Unausweichliche, welches der bloßen Anfrage/Bitte entgeht und daher das eigentliche Objekt
des Begehrens bildet, denn was in der Existenz Öffnung und Trennung ist, das ist als reine
Subjektivität die Einheit von Leben/Begehren ohne Objekt – und von solcher Natur ist die
reine Aussetzung als Leere, welche man dann auch Freiheit (in) der Subjektivität nennen
kann.
Damit vermag das Subjekt auch auf die Erwartung des Anderen (A) in dessen Begehren
zuzugehen, um in Affekt und Wort diese gegenseitige Erwartung im Augenblick für eine
Übertragung frei zu halten, die nicht rivalisierend oder ängstlich insistiert, um etwa eine
Objektbeziehung in Frage zu stellen (was dann Scham und Panik auslöst), sondern die
Aussagen ohne jede Depersonalisierung und Neubildung des Symptoms offen entgegennimmt
– eben als das Neue des Augenblicks, wie Lacan (2005) in der späteren Konzeption des
sinthome unterstreicht. Sagt eine Patientin: „Ich habe geträumt, dass ich mit dem Therapeuten
in heftigster Umschlingung in der Nacht geschlafen habe“, dann ist hier nicht zunächst eine
ödipale Regression festzuhalten, sondern die Stimme eines Begehrens, welchem kein Objekt
entspricht und das sich in seiner Subjektivität sucht. Die bisherigen Feststellungen zur
Supervision bewegen sich daher nicht in einem luftleeren Raum, denn wir wissen, dass jeder
intersubjektive Austausch ebenfalls bestimmt bleibt von den Spuren, welche die Kultur in
unseren Gesellschaften hinterlegt hat, um so die Anfragen des Begehrens zu kanalisieren.
Dies bedeutet aber, dass sich die Neurosen, Obsessionen und Perversionen hier strukturell
wieder finden, denn die Identifikationen, die dem Subjekt zur Stabilisierung der
gesellschaftlichen Norm abverlangt werden, sind ebenso inkonsequent, konfus, verschroben
und sogar wahnhaft wie die familiär praktizierten Identifikationen, so dass der Konformismus
oft die logische Konsequenz solcher Anpassung ist. Wenn es in der Therapie tatsächlich um
das Begehren des Subjekts als Bezug zu seinem Selbst als Sein oder Existenz geht, dann muss
die Supervision von Therapie wie Ausbildung solchen „Zeitgeist“ (Frankl 2008: 163ff. u.
219ff.) stets mit erkennen und so weit es geht überwinden. Die von Freud genannte
Sublimierung ist hierbei ein möglicher Weg, denn ihr engerer Sinn als Orientierung einer
sexuell orientierten Energie auf andere Ziele hin lässt sich dann nämlich fassen als die
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Bewegung des Begehrens auf einen Wert oder Sinn hin, der nicht unmittelbar
gesellschaftliche Geltung erheischt, sondern eine „Entleerung“ für das Leben im
wohlverstandenen Sinne bedeutet, nämlich als eine schöpferische Leistung, die nicht ohne
eine bestimmte Wahrheit ist, die dann den Konformismus umbilden und vielleicht sogar
aufbrechen kann (Lacan 2001: 560ff.).
Kommen wir hier zu einer letzten Schlussbemerkung hinsichtlich der Supervision, so wäre
zu sagen, dass in deren Rahmen das Begehren eines Subjekts/Therapeuten auf das Begehren
des Supervisors trifft – und dies auf dem genannten kulturellen wie gesellschaftlichen
Hintergrund. Wir haben klar gestellt, dass die Supervision von Therapie darüber wachen
sollte, dass der Patient nicht nur seine Vergangenheit zu rekonstituieren hat, auch nicht an
vorgegebenen Normen gemessen werden soll, sondern sich in seiner Erzählung als der „Ort“
des Lebens selbst erfährt. Sehr gut spüren die Patienten, dass sie in den Fragen des
Therapeuten mit dem konfrontiert werden, was dessen Begehren selbst ist, so dass stets
deutlich werden sollte, dass nicht unser Begehren die Linie für das Begehren des Patienten
vorgibt, sondern es sich eben auf ihn als den Anderen richtet – auf seine Freiheit und
Verantwortung in einer anderen Sprache. Die Supervision soll daher gewährleisten, dass in
der Therapie das Begehren für einen Anderen als den Therapeuten heranreifen kann. Diese
Situation ist und bleibt paradoxal, da sie eine gewisse Regel auferlegt, die nicht nur der
Psychoanalyse eigen ist. Denn da der Patient all seine Anfragen und Bitten dem
Therapeuten/Analytiker
als
Träger
derselben
überantwortet,
antwortet
dieser
notwendigerweise auf keine, aber dies ist keine absolute Nicht-Antwort, sondern in jeder
Sitzung ergibt sich momentan jene schon genannte Leere, die auch am Ende jeder Sitzung
wiederkehrt, nämlich eine Trennung, damit die genannte Leere die Möglichkeit für die
Situierung eines Begehrens des Patienten wird, bzw. dieses genauer in sich zu hören. Die
Präsenz als eine in der Nicht-Antwort ermöglichte Antwort des Patienten an sich selbst ist wie
ein Einfall, ein Stück Phantasie – kein Archetyp, kein fertiger Sinn als vorausgesetztes
Wissen, sondern eher die Öffnung auf das Wirkliche des „Ganzen“ hin in einer plötzlichen
und ab-gründigen Öffnung, die das Subjekt selbst ist. Dass dies in keiner Therapie verschüttet
werde,
bleibt
die
zentrale
Ausrichtung
innerhalb
einer
tiefenpsychologisch
wie
phänomenologisch-existenzanalytisch geführten Supervision
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