Bedingtes, abhängiges Entstehen: Blindes Reagieren oder mitfühlende, befreiende Erkenntnis Ob Buddhas in der Welt erscheinen oder nicht, das ›abhängige Entstehen‹ ist ein Naturgesetz, und wird von ihnen dargelegt. Buddha In dieser Lehre beschreibt der Buddha, wie wir uns in einem Kreislauf des Leidens bewegen und dabei immer wieder inneres, emotionales Leiden für uns schaffen. In seiner Suche nach der Ursache von Leiden entdeckte er eine Reihe von Faktoren, die dies bewirken. Es sind Faktoren, die sich in gegenseitiger Abhängigkeit erzeugen und bedingen. Er sprach von einer zwölfgliedrigen Kette, die uns gefangen hält. Jedes der Glieder geht aus dem vorherigen hervor und ist wiederum Ursache für das nächste Glied. Deshalb wird dieser Prozess ›abhängiges Entstehen‹ oder auch ›bedingtes Entstehen‹ (paticca-samuppada) genannt. Hier werden wir einige der für die Alltagspraxis relevantesten Glieder betrachten. Verblendung, Unwissenheit Der Buddha verfolgte die Kette von Ursache und Wirkung zurück, bis er zur Wurzelursache allen Leidens gelangte. Er fand, dass die Verblendung, das Nichtverstehen, der grundlegenden Merkmale allen Daseins, der Urgrund für alles Leiden ist. Es ist die Verblendung, die als Wurzel aller kognitiven Täuschungen und allen emotionalen Leidens wirkt. In Abbildungen wird Verblendung durch eine blinde Person dargestellt. Wir sehen die Dinge dieses Daseins nicht so, wie sie tatsächlich sind. Das heisst, dass wir seine drei Grundeigenschaften der Vergänglichkeit, der Unzulänglichkeit und der Nicht-Selbstexistenz verkennen. Auch verstehen wir die „Wahrheiten vom Leiden und seinen Ursachen“ nicht. Letztlich übersehen wir auch noch die Wirkung von Ursache und Wirkung unseres Handelns. Unser Sein und Tun beruht also auf der denkbar ungünstigsten Grundlage, nämlich auf einer sehr unrealistischen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bildekräfte, Tendenzen Immer wenn wir der Verblendung unterliegen, reagieren wir in einer Art und Weise, durch welche unvorteilhafte kognitive und emotionale Tendenzen und Gewohnheiten entstehen. Diese wiederum bilden die Grundlage für unser weiteres Leben. Diese Bildekräfte sind das, was reagiert, handelt und wirkt. Diese Bildekräfte oder kognitiven und emotionalen Tendenzen werden dargestellt durch einen Töpfer, der Töpferwaren erzeugt. Dies weist darauf hin, dass unsere Reaktionsweisen Resultate erzeugen. Sind die Reaktionsweisen unheilsam, bewirken sie leidenschaffende Erfahrungen, sind sie heilsam, entstehen positive Erfahrungen in uns. Verlangen, Begierde, Anhaften, wie auch Ärger Wut und Hass, aber auch Neid, Eifersucht und Dünkel, schaffen leidvolle Seinsweisen für uns. Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Grosszügigkeit schaffen erfreuliche Seinsweisen für uns. Wir selbst gestalten unser Leben. Wie wir mit den uns zustoßenden Erfahrungen umgehen, wie wir auf sie reagieren, prägt unser weiteres Verhalten in diesem Leben. Was wir sind, ist – vereinfacht ausgedrückt – ein dicht verwobenes Gebilde von kognitiven, emotionalen und körperlichen Prozessen. Prozesse die in gegenseitiger Abhängigkeit eng verflochten sind. Körperliche Erfahrungen wirken sich auf unseren Geist, unsere Gefühle sowie die Gefühlstönungen aus, und umgekehrt. Es gibt keine innere Regung, die sich nicht in unserem Körper ausdrückt: Eine Enttäuschung – und wir fühlen uns schlaff. Ein Lob – und wir fühlen uns voller Energie. Die sechs Sinne Teil dieser Prozesse sind die sechs Sinne. Sie umfassen die fünf Sinne des Sehens, des Hörens, der Körperempfindungen, des Geruchs, des Geschmacks sowie, als zusätzliche Sinneswahrnehmung, Gedanken und Gefühle. In Abbildungen wird dies durch ein Haus mit sechs Fenstern, durch die man nach draußen blicken kann, veranschaulicht. Die sechs Fenster entsprechen diesen sechs Sinnen. Kontakt Wenn die sechs Sinnesorgane aktiv sind, ist Kontakt unvermeidlich. Sind wir wach und haben gesunde Ohren, braucht es ein Geräusch, und Hören findet ganz von selbst statt, ob wir es wollen oder nicht. Sobald Objekt, Organ und Bewusstsein ›online‹ sind, ist Erfahrung unvermeidlich. Außer im Tiefschlaf findet in jedem Augenblick unseres Tages, unseres Lebens, Kontakt zwischen unserem Bewusstsein, den Sinnesorganen und den Dingen unserer äußeren oder inneren Welt statt: ein ununterbrochenes Bombardement durch Sinneseindrücke, durch Input. Wenn wir nun noch auf jeden dieser Eindrücke reagieren, ist es kein Wunder, dass unser Leben anstrengend und stressvoll wird. Im Bild wird Kontakt durch zwei Personen, die sich umarmen, dargestellt. Damit wird die intime Beziehung von Bewusstsein und Objekt unterstrichen. Gefühlstönung (vedana) Sobald Kontakt stattfindet, entsteht Erfahrung und damit eine Gefühlstönung (vedana). Eine Gefühlstönung kann sämtliche Schattierungen von sehr schmerzhaft oder unangenehm über neutral und angenehm bis zu äußerst lustvoll aufweisen. Diese Gefühlstönung wird durch einen Pfeil dargestellt, der einer Person im Auge steckt. Er symbolisiert das unaufhörliche Aufprallen von Sinneserfahrungen, von Moment zu Moment. Bis zu diesem Punkt läuft der ganze Prozess automatisch und ohne unser Zutun ab. Gefühlstönungen (vedanas) entstehen in uns pausenlos – und es sind diese Gefühlstönungen, auf die wir reagieren. Hier folgt nun jener Teil des Prozesses, den wir beeinflussen können. Verlangen, Begehren, Haben wollen Auf eine angenehme oder erhoffte angenehme Gefühlstönung (vedana) folgen zumeist Verlangen, Begehren, Es ist eine Art Durst. Der Durst nach immer neuen, möglichst angenehmen Erfahrungen. Es ist der Wunsch, die Dinge so zu verändern, dass sie unseren Vorstellungen und Erwartungen entsprechen. Als Bild ist dieser Aspekt durch eine durstige Person dargestellt. Umgekehrt ist es im Falle einer unangenehmen Gefühlstönung. Dann nämlich entsteht zumeist Ablehnung in Form von Ärger, Wut, Hass, Groll oder ähnlichem. Ablehnung ist nichts anderes als das Verlangen, eine unangenehme Erfahrung loszuwerden. Auch dieser Teil des Prozesses läuft bei ungeschulten Menschen meist automatisch ab. Das muss aber nicht so sein. Hier kommen wir nun – wie erwähnt – zum ersten Punkt in der Kette des abhängigen Entstehens, an dem wir den Lauf der Dinge beeinflussen und verändern können. Statt blind mit Begehren zu reagieren, können wir hier mit weiser Gelassenheit antworten – vorausgesetzt, wir sind wach und achtsam genug. Ergreifen, Festhalten Begehren und Durst bewegen uns zum nächsten Schritt: den erwünschten Dingen nachzugehen, um sie zu ergreifen und festzuhalten. Dieses Ergreifen und Festhalten wird durch ein Bild von einem Affen oder einem Menschen der Früchte von einem Baum pflückt veranschaulicht. Auch dieser Teil des Prozesses läuft meistens automatisch ab. Wir machen eine angenehme Erfahrung, und schon haften wir an ihr, wollen sie behalten oder möchten sie wiederholen. Diese Prozesse des Verlangens, Ergreifens und Festhaltens werden sehr gut durch das Beispiel der indischen Affenfalle illustriert: Eine ausgehöhlte Kokosnuss wird mit einem schmalen Schlitz versehen, mit süßer Nahrung gefüllt und an einen Baum gebunden. Der Affe riecht's, schiebt seine offene Hand durch den Schlitz und ergreift die Nahrung. Mit der Nahrung in der geschlossenen Hand kann er diese nun nicht mehr durch den Schlitz herausziehen. Die Jäger kommen, der Affe versucht verzweifelt zu flüchten. Doch: es soll kaum je einen Affen geben, der das Futter loslassen, die Hand öffnen, herausziehen – und sich befreien kann! Durch kontinuierliche Praxis sehen wir diese Abläufe des Gefangenseins und der möglichen Freiheit nicht nur in der formalen Meditation, sondern tagein, tagaus, auch im Alltag. Immer wenn wir achtsam genug sind und bereit loszulassen, können wir also hier die Kette sprengen, die uns an diesen Prozess fesselt. Dadurch sind wir frei – zumindest für diesen Augenblick. Ohne das in der Dharma-Praxis geübte kontinuierliche achtsame Gewahrsein aber wird der Prozess weiterlaufen: von Begehren zu Ergreifen und Festhalten und dann weiter zu Werden. Werden Durch das Ergreifen des Objektes verfestigt sich die Tendenz zum Anhaften. Damit geht eine erhöhte Identifikation einher. Diese Tendenz wird gestärkt und verfestigt sich schließlich zu Gewohnheit, ja zu Charakter. Wenn wir auch nur ein wenig bewusst leben, erkennen wir bald, wie sehr wir uns selbst prägen – durch unser eigenes Denken, Reden und Handeln in diesem Leben. Darum praktizieren wir. Aus der Gehirnforschung wissen wir nun auch um die Plastizität unseres Gehirns und um die Tatsache, dass neuronale Netzwerke die wir oft benutzen, sich verstärken und vertiefen. Und zwar jetzt, heute, morgen, in diesem Jahr. Was wir oft tun, wird zur Gewohnheit. Die Absichten und Motivationen, die am häufigsten hinter unserem Denken und Tun stehen, werden zu Charakter. In der Neurobiologie wird gesagt (ev. G. Hüther): Entsprechend der Art und Weise in welcher Aufmerksamkeit und Absicht angewendet werden, entstehen neue neuronale Strukturen. Die Fahrrinnen oder Pfade in unserem Gehirn verändern sich entsprechend. Schon Gottfried Keller erkannte: „Wer heute einen Gedanken sät, erntet morgen die Tat, übermorgen die Gewohnheit, danach den Charakter und endlich sein Schicksal. Darum muss er bedenken was er heute sät, und muss wissen, dass ihm sein Schicksal einmal in die Hand gegeben ist: Heute!“ Und je nach Absicht, entstehen eben freudvolle oder leidvolle Gewohnheiten und Charakterzüge, wie Shantideva es darlegt: „Was immer an Freude ist in der Welt, entspringt dem Wunsch für das Glück aller. Und was immer an Leiden ist in der Welt, entspringt dem Verlangen nach eigenem Glück.“ Um genau das bemühen wir uns in der Praxis: Wir steigen, so oft wie möglich, aus den unheilsamen Schienen aus und kultivieren und stärken Heilsames. So wird nicht nur unser Herz und Geist klarer, verbundener und freier, sondern unsere ganze persönliche Welt verändert sich! Darum heisst es: „Der Gedanke äußert sich als Wort. Das Wort äußert sich als Tat. Die Tat wird zur Gewohnheit – und Gewohnheit verhärtet sich zu Charakter. Also beachte sorgsam den Gedanken und seine Wege. Lasse ihn aus der Liebe entstehen, die der Fürsorge für alle Wesen entspringt.“ Ohne diese sorgsame Achtsamkeit entsteht also neues Werden – den alten Mustern gemäß. Werden wird durch eine schwangere Frau illustriert: das Werden von neuem Sein. Dieses Werden umfasst den ganzen Prozess, in dessen Verlauf eine Tendenz verstärkt wird, sei es eine unheilsame oder heilsame: - Jemand ignoriert uns, wodurch ein unangenehmes Gefühl entsteht. Es formen sich Gedanken darüber, warum wir abgelehnt wurden. Dabei spielen frühere unangenehme Erfahrungen mit eine Rolle. Dieser Denk- und Gefühlsprozess läuft wiederholt und sehr schnell ab. Dabei verhärtet sich unsere innere Haltung. Die ablehnenden Impulse und Gedanken mehren sich, und letztlich sind wir in einem Dickicht von Tendenzen des Unmutes verloren. - Eine gute Freundin findet einen tollen neuen Job. Dadurch entsteht ein angenehmes Gefühl in uns. Wir freuen uns über ihren Erfolg, und zunehmend freuen wir uns über die vielen guten Dinge im Leben überhaupt. Je schneller es uns gelingt, je eher wir bereit sind, aus den automatisch ablaufenden Prozessen auszusteigen, desto freier sind wir. Statt mit Verlangen und Ablehnung oder mit Anhaften und Widerstand zu reagieren, bringen wir nun vermehrt Achtsamkeit, Gelassenheit, Offenheit und Mitgefühl in die innere Situation. Das ist unsere Praxis. Sie wirkt nicht nur in positiver Weise auf uns selbst, sondern auch auf unsere Umwelt – in dem Masse, wie wir sie tatsächlich anwenden und leben.
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