Lacan_Verbot_Transgression

Verbot und Transgression
als tiefenpsychologisch-phänomenologische Problematik
Zur Dialektik von Begehren/Gesetz in Auseinandersetzung mit Jacques Lacan
ROLF KÜHN (FREIBURG IM BREISGAU)
Gibt es bei Freud einen gewissen Fortschritt für das Subjekt, insofern es vom Es zum Ich
unter Anerkennung der Realität voranschreiten kann, so ist der Fortschrittsgedanke sowohl
bei Lacan wie in einer radikalen Phänomenologie problematisch, wenn auch aus
unterschiedlichen Gründen. Ist nämlich die radikale Lebensselbstgebung ohne Aufschub und
Entzug, dann ist sie im transzendentalen Sinne endgültig, wodurch Arché und Telos
zusammenfallen, was in einer entsprechenden Therapieform mit dem Selbstempfinden als
absoluter Subjektivität korrespondiert. Lacan weist seinerseits die Idee zurück, durch die
analytische Technik könne das Gute oder das Heil des Menschen erreicht werden, was in
diesem Beitrag eine besondere Untersuchung zu Verbot/Transgression motiviert hat. Die
„Realisierung des Seins“ lässt sich bei Lacan als Anerkennung der „Herrschaft des signitiven
Todes“ verstehen, anstatt einem stets verschobenen imaginären Herrn (Signifikant, Symbol,
Andersheit) als Gebieter über unser Begehren zu dienen. Das analytisch-ethische Therapieziel
bei Lacan ist daher weder ein Wissen noch ein Zustand, sondern ein Zugang zu jener
„Realisierung des Seins“ unter dem Primat des Todes als ein von der bisherigen Geschichte
des Einzelnen geprägter Weg, indem jene Teile dieser Geschichte dem Subjekt wieder
verfügbar gemacht werden sollen, die als unvereinbar mit dem Idealbild des Ich verdrängt
wurden, um auf diese Weise die bisherigen rätselhaften Seiten des Begehrens zu integrieren. 1
Dieses Wissen bleibt jedoch eher ein Nichtwissen, weil ein Fehlen/Verschwinden
anzuerkennen sei, welches zugleich die bleibende „Kluft“ zwischen Sein/Sinn bildet, sofern
man letztere irrtümlicherweise als feste Identität denken sollte. Insofern ergeben sich hier
auch Übereinstimmungen wie Unterschiede zur phänomenologisch fundierten Daseins- und
Existenzanalyse, da durch letztere kein Sinnabschluss der Existenz gesucht wird, sondern nur
ein authentisches Verhalten in allen Umweltbezügen bzw. ein je neuer situativer Sinn,
welcher ständiger Veränderung unterliegt.2
1
Vgl. Schriften I , Freiburg/Olten, Walther 1973, 347ff.
Vgl. zur weiteren Diskussion L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (1942), in:
L. Binswanger, Ausgewählte Werke, Bd. 2, Heidelberg, Winter 1983; G. Condrau, Daseinsanalyse, Dettelbach,
Röll 21998: A. Längle u. A. Holzhey-Kunz, Existenzanalyse und Daseinsanalyse, Wien, Facultas 2008; W.
Rohr, Viktor E. Frankls Begriff des Logos. Die Sonderstellung des Sinnes in Substanz- und Relationsontologie,
Freiburg/München, Alber 2009.
2
1
1) Trans-gression als Technik und Lebensbewegung
Dies impliziert schon einen ersten Hinweis auf Normen und Gebote, denn die symbolischen
Legitimierungen, die mir etwa als Therapeut oder Analytiker übertragen wurden, bleiben dem
Nachweis einer seinsmäßigen Befähigung oder eines genügenden Wissens vollständig
entzogen, so dass in der Tat jeder „Sinn“ als Äquivalenz zu einer eingehaltenen Regel oder
einer Zusprechung von Anderen obsolet wird und die Transgression angezeigt sein kann,
auch wenn sie ihre eigene symbolische Dialektik birgt, wie wir noch sehen werden.
Allerdings gibt es bei Lacan dennoch so etwas wie die „Macht“ der Psychoanalyse, insofern
in letzterer eine „grenzenlose Liebe“ erreicht werden soll, die auch als „Ethik der
Psychoanalyse“ bei ihm zu verstehen bleibt.3 Denn wenn das ursprüngliche Verschwinden
(Tod) des Subjekts vermittels jenes Objekts durch den Analytiker selbst wiederholt wurde,
dessen Finden den ursprünglichen Verlust (jedes Phantasmas) schlechhtin bedeutet, dann
ergäbe sich grenzenlose Liebe in dem Maße, wie sie „auf ihr Objekt Verzicht tut“. Aber dies
sei kein Fortschritt im moralischen oder sonstigen Sinne, sondern Heraustreten aus dem
Ichideal als imaginärer Faszination sowie aus der imaginären Bindung an den Anderen als
Objekt. Bei Alfred Adler entspräche dies dem Verzicht auf die Fiktion eines absicherbaren
Persönlichkeitsbildes, bei Frankl einer sapientia cordis diesseits aller Modellvorgaben für den
Existenzvollzug in jeder Situation und Beziehung. Allerdings bleibt in Bezug auf das neopsychoanalytische Heraustreten aus den Grenzen jeglicher Selbstfaszination zu fragen, ob
damit bereits schon jene phänomenologische Passibilität erreicht wird, die auch noch den
letzten Versuch einer Selbstbestimmung über den „Verzicht“ aufhebt, um ein Gegebensein
des Lebens ohne weitere Bedeutungsverleihung unsererseits anzuerkennen. Lacan nähert sich
dieser Wirklichkeit, indem er Freuds technischen Begriff des „Durcharbeitens“ nicht nur als
die Frage nach dem verbleibenden „opaken Verhältnis zum Ursprung, zum Trieb“ fasst, durch
den die „analytische Erfahrung hindurchgegangen ist“, sondern auch als die bleibende Frage
nach „Gerechtigkeit und Mut“ aufwirft, wenn alle „Wiederholungen“ und „aufgeschobenen,
ängstigenden Begehren“ benannt und integriert wurden. Diese Frage sei vielleicht nicht zu
lösen, da „der zeitgenössische Mensch […] es vorzieht, diese Suche in Begriffe des
Verhaltens, der Anpassung, der Gruppenmoral oder anderer Albernheiten aufzulösen. Daher
die Schwierigkeit des Problems, das die menschliche Bildung des Analytikers stellt.“4
Damit erweist sich die Untersuchung von Verbot/Transgression bereits als jene Frage,
welche nicht nur Analytiker, Therapeut wie Supervisor aus allen scheinbaren Sicherheiten
3
Vgl. J. Lacan, Le Séminaire: Livre VII: L´éthique de la psychanalyse (1959-1960), Paris, Seuil 1986 (dt. Das
Seminar. Buch 7: Die Ethik der Psychoanalyse, Berlin, Quadriga 1995).
4
Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse (1973), 288 u. 290.
2
von Theorie- und Gruppennormierungen herausführt, sondern auch die Frage nach der
Epoché im radikal phänomenologischen wie tiefenpsychologischen Sinne wird damit virulent.
Wir können im Augenblick festhalten, dass Therapie einen Grenzgang mit einem je
unverwechselbaren Individuum bedeutet, und was diesseits wie jenseits einer solchen Grenze
liegt, ist sicherlich die Frage der Transgression par excellence, wie sie sich nur reduktiv
erschließen kann, wenn die Grenze selbst als Struktur eines Dimensionalen (Weltseins) noch
aufzuheben ist, um der „Wahrheit“ radikaler Subjektivität Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen. Denn es ist nicht zu übersehen, dass die Lacansche Bestimmung des Subjekts als
Verschwinden, Trennung und Entfremdung eigentlich nur eine formale Sprachstruktur
beinhaltet, indem der über den Signifikanten hervorgerufene Teilsinn des Subjekts als
Übernahme eines sich selbst zugefügten Verlustes als Mangel fortgesetzt wird. Aber wie zu
unterstreichen ist, lässt eine originäre oder transzendentale Geburt im Leben ein solches
Fehlen-an-Sein als abstrakte Strukturbestimmung des Menschen letztlich nicht zu, insofern
die affektive Leiblichkeit als pathische Intensität eine impressionale Fülle enthält, die auch in
einer existentiellen Entfremdung nicht verloren gehen kann, da sich die radikal individuierte
Subjektivität niemals von sich selbst in diesem ihrem rein phänomenologischen Wesen
„entfremden“ kann. Beruft Lacan sich auf Marx, um das „Geheimnis“ des Übergangs eines
Gebrauchswertes in einen (marktgebundenen) Tauschwert als Beispiel für den entfremdenden
Verlust aufzugreifen, der beim Patienten erkläre, was in all unseren Austauschformen mittels
Signifikanten stattfinde, so hat er damit übersehen, dass bereits in jedem Bedürfen (besoin)
eine Selbstaffektion5 gegeben ist, die gerade nicht aufgehoben werden kann.
„Seinsmangel“ und „Seinsverfehlen“ können damit im analytisch-therapeutischen
Gespräch thematisiert werden und machen zunächst einen großen Teil dieses Prozesses aus,
wozu gerade existenz- wie daseinsanalytische Methoden integrativ verwandt werden können.
Aber das eigentliche Therapieziel dürfte über solche Dekonstruktion von belastenden
imaginären Besetzungen und Selbstverboten hinaus darin bestehen, jene Fülle der je eignen
wie einmaligen Subjektwirklichkeit als ständig gegebener Quelle oder Gabe des Lebens zu
erproben. Letztere ist nämlich von nichts mehr abhängig, gerade auch nicht mehr von einem
durch sein Sprechen geteilten und entfremdeten Subjekt, bzw. von seinen verfehlten
Beziehungen zu Anderen, da die reine Subjektivität in sich zunächst die Erfahrung imaginärer
Andersheit oder Spiegelung nicht macht, sondern der Einheit und Identität mit dem rein
immanenten Lebensursprung verbunden ist, welcher ebenfalls jeder normbezogenen
5
Vgl. J. Lacan, Le Séminaire VI: Le désir et son interprétation, Paris, Éditions de la Martinière 2013, 134f.; zur
Kritik an der Einseitigkeit eines solchen Entfremdungsbegriffs: R. Kühn, Subjektive Praxis und Geschichte.
Phänomenologie politischer Aktualität, Freiburg/München, Alber 2008, 280-312.
3
Transgression vorausliegt. Denn der „Andere“ vermag gerade in einem gleichursprünglichen
Ethos derselben transzendentalen Lebendigkeit oder Intensität niemals zum Objekt meiner
Handlung gemacht zu werden, wie es die unterschiedlichsten Formen der Perversion
implizieren, da sie alle ein ungeklärtes Verhältnis von Macht/Ohnmacht beinhalten, wie sich
an Masochismus und Sadismus zeigen ließe. Aber vor allem ist sich das rein
phänomenologische „Subjekt“ zunächst nicht selbst ein solches Objekt, zu dem die Lacansche
Sichtweise als Entfremdungsstruktur hin tendiert, um auf diese Weise „Gegenstand“ der
Psychoanalyse in einer neuen „Wissenschaftlichkeit“ zu sein, was sicher über Freuds
anfänglichen Determinismus im Sinne eines Biologismus von Trieb und Energieverdrängung
hinausgeht. Aber es bleibt dennoch ebenfalls ein Determinismus, insofern das sprachlichstrukturalistische Element eine hypostasierte Verfehlungs- oder Entfremdungsnotwendigkeit
impliziert, welche kein Außerhalb von sich als Signifikantenkette kennt, das heißt eine noch
mögliche andere Bestimmung des Subjekts, ohne zur Metaphysik zurückkehren zu müssen.
Ob Lacan – wie Lévi-Strauss, Foucault, Althusser etc. zur selben Zeit in Frankreich – daher
eines Antihumanismus zu bezichtigen ist, soll hier nicht weiter erörtert werden,6 da für den
therapeutischen
wie
allgemein
lebensweltlich-gesellschaftlichen
Rahmen
zumindest
festgehalten werden kann, dass diese Form der Neo-Psychoanalyse ein gewisses Potenzial der
Freiheit kennt, die das Ich sowie die Beziehung zu Anderen und Tod aus einer illusionären
Perspektive herauslösen möchte, um den Widerstand gegenüber dem „Realen“ (le réel)
zugunsten
weniger
neurotisch
oder
narzisstisch-hysterisch
geprägten
Bewegungen
aufzulockern und vielleicht zu einer universalen Form der „Liebe“ hinzufinden, welche dem
nicht-objekthaft besetzten Eros im Begehren entspricht.
Dieses sich von seinem Ich-Spiegel als Identifikationen mit Anderen lösende Selbst
benötigt dann im Idealfall keinen Signifikanten als äußere Regel mehr, da Erwartung und
Anfrage nicht länger als äußere Bestätigung gesucht werden, um seine Illusion einer
imaginären Bedeutung aufrecht zu erhalten, die meist mit einer unerkannten „Knechschaft“
im Sinne Hegels und Lacans verbunden bliebt, 7 nämlich sein Leben schonen zu wollen, um
daraus zeitweiligen Genuss und begrenzte Befriedigung zu erzielen, anstatt dem Begehren des
Lebens selbst stattzugeben, in allem sein je eigenes Begehren zu sein. Aber wenn das „Reale“
das ist, was die Realität gründet, ohne in ihr anwesend zu sein, weil es in der Sprache
aufgrund der Differenz stumm bleibt, dann „fehlt“ es nicht nur, sondern wir wären für immer
davon getrennt. Die Verwechselung des Sichtbaren mit dem Realen (Spiegelsituation) ist für
6
Vgl. hierüber J.-M. Palmier, Lacan. Le Symbolique et l’Imaginaire, Paris, Delarge 51972, 129-143, bes. im
Vergleich zu Lévi-Strauss’ „strukturaler Anthropologie“.
7
Vgl. D. Finkelde, Exzessive Subjektivität. Eine Theorie tathafter Neubegründung des Ethischen nach Kant,
Hegel und Lacan, Freiburg/München, Alber 2015, 268ff.
4
Lacan das Imaginäre schlechthin,8 aber das Unsichtbare ist rein phänomenologisch nicht nur
der Gegensatz von sichtbarer und imaginärer Realität, sondern deren prinzipielle
Erscheineswirklichkeit, von der wir qua Subjektivität im Sinne des Selbsterscheinens des
Lebens nicht getrennt sein können – da wir kein ontologisches Nichts im Sinne eines NichtErscheinens
bilden.
Das
„Therapieziel“
kann
phänomenologisch,
existentiell
wie
tiefenpsychologisch aus diesen Gründen nicht nur darin bestehen, das ontisch oder empirisch
bzw. anthropologisch Begrenzte aller Realitätserfahrung zu akzeptieren und eventuell zu
variieren, sondern die fundamental notwendige Umkehrung des Ich zum Mich soweit zu
treiben, dass darin die Anwesenheit als Selbstgebung der Wirklichkeit (Leben) erprobt zu
werden vermag, da sie uns immer schon vorausliegt, weshalb wir uns auch nicht den
Abspaltungen und Verschiebungen des Ich, der Signifikanten und Gebote letztlich
anzuvertrauen haben. Indem Lacan die Differenz als Bedingung des Menschen besonders im
Sinne des Verschiebens einer ständigen Leerstelle versteht, ohne jemals die Einheit des
Realen zu erreichen, bleibt er in der Tat dem philosophischen Monismus der Transzendenz
verhaftet, deren Stummheit oder Mangel nicht zu einer Immanenz der lebendigen Präsenz
führen kann, die ihr eigenes affektiv-impressionales inneres „Wort“ kennt, ohne in dieser
selbstaffektiven Sphäre die Illusionen hinsichtlich Begehren, Gesetz und Freiheit als
verfehlten Objektivierungen wiederholen zu müssen, sofern durch die radikale Passibilität die
Grenze jeglicher Autonomieillusion schon im Tiefsten der Subjektivität erprobt wird.9
Das unzugängliche „Unbewusste“ als die Ursprungserfahrung der (Neo-)Psychoanalyse ist
daher nicht das Letzte der dem Menschen gewährten Wirklichkeit, denn sofern es nur ein
„Fehlen“ nach Lacan signalisiert (Träume, Fehlleistungen etc.), gibt es ein noch älteres
„Unbewusstes“ des Lebens, welches weder Fehlen noch Besitz ist, sondern ständige
transzendentale Geburt, welche nicht erst „Selbstbewusstsein“ angesichts der „tödlichen
Wahrheit“ in jedem „Fehlen“ werden kann (zumindest dem Anspruch der Psychoanalyse
nach), sondern bereits ein cogitare als Pathos ist. Dieses benötigt schon nach Descartes kein
vorstelliges Bewusstsein mehr,10 und damit auch nicht mehr die Hoffnung oder Erwartung,
über die mögliche Erfüllung einer Norm oder eines Gebotes zu dem hinzufinden, was wir
noch nicht wären. Jede Verwundung des Selbstbewusstseins, dessen so genannte
„Fehlleistungen“ etc., müssen nämlich zunächst erprobt werden, um als solche gelebt oder
8
Vgl. J. Lacan, „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans
l’expérience psychanalytique“, in: Écrits, Paris, Seuil 1966, 93-100 (dt. „Das Spiegelstadium als Bildner der
Ichfunktion“, in: Schriften I [1973], 61-70); dazu auch F. Wörler, Das Symbolische, das Imaginäre und das
Reale. Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell, Bielefeld, Transcript 2015, 183ff.
9
Vgl. R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenkliche, Freiburg/München, Alber 2009,
Kap. Kap. II,6: „Vom Ich der Vorstellung zum lebendigen Mich“.
10
Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen
des Menschen, Freiburg/München, Alber 2005, 38f., 47ff. u. 94f.
5
erinnert werden zu können, und selbst der Tod als Sterben ist ein impressionaler Prozess, der
die Frage offen lässt, wie wir ihn rein phänomenologisch überhaupt (durch-)leben können,
ohne nicht die Kraft des Lebens dafür bis in unser letztes Empfinden hinein noch in Anspruch
nehmen zu müssen. Und dies gilt für alle Erscheinensphänomene der Existenz und
Beziehung, weshalb defizitäre oder differe(ä)ntielle Ansätze uns diesen Sachverhalt letztlich
nicht beantworten können – auch nicht als bloße „Spur“, aber in Therapie und Supervision als
alltägliche Frage immer wieder ansteht. Natürlich muss tiefenpsychologisch auf die
Brüchigkeit von vermeintlicher Ganzheit, unberechtigt selbstverständlichen Erwartungen und
tröstenden Erinnerungen hingewiesen werden, aber die unbewussten Randerfahrungen als
jeweilige „Grenzerfahrung“ des Menschen seit Freud, welcher die angebliche Unversehrtheit
von Wollen, Denken und Fühlen in Frage stellen wollte (worin er im Übrigen der Romantik
und Schopenhauer folgte), hypostasieren nur diese Grenze, anstatt ihre bereits stattgefundene
„Überschreitung“ (trans-gresser) mit zu sehen – das heißt eine unverbrüchliche Gebung des
Lebens als dessen „Selbstgabe“. Daher hat jede Therapie, Analyse und Supervision über die
als beeinträchtigt empfundenen Funktionen des Lebens hinaus (Depression, Impotenz,
Misserfolg etc.) zum rein phänomenologischen Wesen dieses Lebens selbst zurückzuführen,
da es
sich von der kritischen
bzw. dekonstruktivistischen
Betrachtung
solcher
Funktionsgrenzen nicht beschränken lässt. Und vor allen verfehlten Beziehungen, vor denen
uns die gesamte moralische, religiöse oder staatliche Gebots- und Vorschriftssymbolik an sich
bewahren soll, gibt es eine viel ältere Proto-Relation, welche jede Bezüglichkeit schlechthin
stiftet und von daher nicht nur der innerste Motor aller wohl verstandenen Transgression ist,
nämlich Gebot und Schuld nicht als Grenze von Leben und Liebe selbst zu sehen, sondern
alle Begrenzungen auf letztere hin zu überschreiten.
Es geht uns hier nicht darum, die Faszination oder Unterwerfung unter ein absolut Anderes
(Gott) wieder einzuführen, da die religiöse Problematik in der Therapie nur den je Einzelnen
betrifft.11 Aber es stellt sich dennoch die Frage, ob die unendliche Mühe in der
(Neo-)Psychoanalyse, um die Selbstillusionen bis hin zu der zuvor genannten Grenze der
Liebe und des Lebens aufzudecken, nicht etwas mehr Leichtigkeit als unmittelbare
Gewissheit gewönne, falls entgegen den epistemologischen und methodischen Prämissen von
Differenz und Transzendenz bzw. Signifikant und Diskurs in eine rein phänomenologische
Immanenz eingestimmt werden könnte, aus der kein Lebendiger jemals heraus gefallen ist –
auch kein Neurotiker, Psychotiker, Hysteriker oder Perverser, um die alten psychiatrischen
11
Vgl. V.E. Frankl, Der unbewusste Gott. Psychotherapie und Religion, München, DTV 81992.
6
Klassifizierungen bei allen Fraglichkeiten und Überschneidungen heute weiter zu benutzen. 12
Blickt man daher über die von Lacan angestrebte ethische Selbstbegrenzung der
Psychoanalyse hinaus, so kann man sich fragen, ob seine Formulierung, „die Wahrheit
spricht“,13 nicht doch mehr intendiert als nur das Fehlen der Einheit und Ganzheit in Form
ständiger Verschiebung des Begehrens? Sollte damit die zuvor genannte Grenzerfahrung
nämlich doch einen universalen Erkenntnisanspruch hinsichtlich des an sich unsichtbaren und
nicht zu benennenden Realen implizieren, dann führte Lacan zumindest über das neopsychoanalytisch selbst umgrenzte Erfahrungsfeld hinaus, um anzudeuten, dass Grenze nicht
identisch mit (wissenschaftlicher oder objektiver) Gewissheit sein muss, in deren Raum sich
Freud wohl nur bewegen wollte. Gibt es nämlich irgendwie eine Verbindung zwischen
Realem und Wahrheit, welche sich negativ im Unbewussten oder Fehlen des Subjekts nach
Lacan bekundet, dann wird angesichts einer dergestalt zumindest indirekt postulierten
Universalität die Hypostasierung der Sprache tendenziell hinfällig, insofern sich eine
Spannung ergibt, welche vielleicht psychoanalytisch nicht aufgehoben, aber zumindest
reflektiert werden muss – und sei es nur im Interesse einer Therapie für Menschen, welche
selbst in dieser Spannung stehen und darunter leiden. Mit anderen Worten erfordert dies ein
Heraustreten aus dem eigenen neo-psychoanalytischen Bezugssystem, um der Anforderung
ständiger Aufhebungen besetzten und aufgeschobenen Begehrens gerecht zu werden, und
zwar über jene Grenze hinaus, welche nur eine Grenze transzendenten Denkens und
entsprechender analytischer Praxis darstellt, nicht aber des rein phänomenologischen Lebens
als solchem. Die Transgression ist daher in den therapeutischen Prozess und dessen MetaReflexion selbst eingeschrieben, weshalb unser Beitrag für eine Pluralität und Integration von
Phänomenologie, Tiefenpsychologie und Existenz- bzw. Daseinsanalyse plädiert.14
Dabei dürfen selbstverständlich die Unterschiede wie Überschneidungen nicht verwischt
werden, aber der Patient ist nicht mit irgendeinem System konfrontiert, sondern mit einer je
subjektiven Erfahrung seines Begehrens, welches notwendigerweise allen therapeutischen
Theoretisierungen vorausliegt. Wenn der (Neo-)Analytiker daher vornehmlich in der Rede des
Patienten Aufmerksamkeit für die Äußerungen des Fehlens als Infragestellung des Ich
aufbringen soll, um damit das gewohnte Sprechen zu unterbrechen, welches auf Befriedigung
12
Vgl. als klassisches deskriptives Werk im Sinne einer phänomenologischen Psychiatrie K. Jaspers, Allgemeine
Psychopathologie (1913), Berlin, Springer 91973.
13
Vgl. im Einzelnen H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott. Ein Gespräch zwischen
Psychoanalyse und Glauben – Jacques Lacan und Simone Weil, Düsseldorf, Patmos 1983.
14
Ohne noch weitere Möglichkeiten hierbei auszuschließen; vgl. auch H. Petzold für einen sehr breiten Ansatz:
„Transversale Identität und Identitätsarbeit – Die Integrative Identitätstheorie als Grundlage für eine
entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch begründete Persönlichkeitstheorie und Psychotherapie
– Perspektiven ‚klinischer Sozialpsychologie’“, in: H. Petzold (Hg.), Identität. Ein Kernthema moderner
Psychotherapie – interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden VS Springer 2012, 407-603.
7
durch den (scheinbar wissenden) Anderen aus ist,15 dann ist eine weit größere
Aufmerksamkeit für das nicht verlustig gegangene rein subjektive Leben in solchem Fehlen
selbst noch offen zu halten, was wir als das „doppelte Hören“ qualifizieren. Es ist das eine,
analytisch-therapeutisch ein Sprechen zu begleiten, welches auf der Suche nach einer keiner
äußeren Anerkennung mehr bedürftigen eigenen Wahrheit ist (um in der wechselseitigen
therapeutischen Verwiesenheit keine Lossprechung vom Fehlen des Begehrens zu
intendieren, was eine neue Verfehlung wäre), und es ist das andere, dieses Begehren als in
sich selbstaffektiv dennoch schon erfüllt zu sehen. Denn nur dergestalt kann letztlich die
Illusion eines befriedigenden Objekts, dem der Therapeut vielleicht durch seine Fragen und
Bemerkungen unabsichtlich weiterhin Nahrung verleiht, aufgehoben werden, da eine von
„Haben“ und „Wissen“ abgetrennte immanente Gewissheit nicht „nichts“ ist, sondern eben
jene Wirklichkeit (das „Reale“), um die erwähnte Reduktion und Transgression zwischen
Ich/Mich überhaupt durchführen zu können. In diesem Sinne umspielt der Trieb (Eros,
Narzissmus, Verschiebung und Verdrängung) nicht nur trügerisch sein nie ihm genügendes
Objekt, welches als Anfrage im Unbewussten daher notwendigerweise wiederkehrt, sondern
er birgt auch die Ursprünglichkeit der Kraft des Lebens, um diesen Prozess durchzustehen.
Lacan scheint diese rein subjektive Kraft zu intendieren, die weder biologistisch noch
vitalistisch oder genetischer „Instinkt“ ist, sondern eine rein phänomenologische Gegebenheit
des Lebens als dessen immanente Selbstbewegtheit, wenn er fordert, der Analytiker dürfe für
sich selbst niemals die „Durcharbeitung“ des Begehrens für abgeschlossen halten – denn
woher kommt das Vermögen dazu, wenn es sich selbst als solches noch nicht erkannt hat?
Man kann Lacans Infragestellung des Gesprochenen auf ein auf Bedürfnisse reduziertes
Sprechen sowie der Anrufung an den Analytiker als Hinweise auf ein unsichtbares und
unbenennbares radikal phänomenologisches Leben verstehen, an dessen Stelle keine
therapeutischen Angebote einer imaginären Substitution als fälschlich verstandener „Sinn“ zu
treten haben. Deshalb bleibt zu vermeiden, dass durch die zeitliche oder sonstige konstitutive
Form des Settings die geglaubte Besitzergreifung irgendeiner fertigen Wahrheit stünde, um
den Patienten vielmehr in das Weiterarbeiten seines Unbewussten zu entlassen, wozu
„Interpunktieren“ wie „Skandieren“ des therapeutischen Prozesses mit variabler Zeitdauer
dienen sollen.16 Die Auflösung der Täuschungen und Illusionen bezieht sich daher sowohl auf
den Patienten wie den Therapeuten/Analytiker, der sich von allen Prestigebildern seines Ich
15
Vgl. J. Lacan, Schriften II, Freiburg/Olten, Walther 1975, 80; Écrits (1966), 359; B. Fink, Grundlagen der
psychoanalytischen Technik. Eine Lacanianische Annäherung für Klinische Berufe, Wien-Berlin, Turia + Kant
2013, Kap. 1: „Zuhören und Hören“ (S. 17-46).
16
Vgl. nochmals B. Fink, Grundlagen der psychoanalytischen Technik (2013), 63ff. u. 79ff., sowie auch N.
Langlitz, Die Zeit der Psychoanalyse. Lacan und das Problem der Sitzungsdauer, Frankfurt/M., Suhrkamp 2005.
8
und seiner Macht zu lösen hat, um auch das ihn bewegende ursprüngliche „Fehlen“ und
dessen „Durcharbeiten“ nicht für ein inzwischen etabliertes „Wissen“ seinerseits auszugeben.
Um auf dem Weg der Entkleidung entsprechender Vorstellungen nun auch dem Patienten die
Möglichkeit der Anerkennung des „Realen“ im Fehlen des mitgeteilten Begehrens zu bieten,
muss es demzufolge eine Verbindung geben, welche weder die Autorität der Theorie noch der
Person sein kann, sondern nur ein schweigender Grund, der den therapeutischen Prozess als
gemeinschaftliches oder proto-relationales Leben trägt. Diese „Beziehung“ ist also nicht nur
die Bedingung des (neo-)psychoanalytischen Zugangs zum „Realen“ als offene Möglichkeit
der Therapie, sondern eine solche Beziehung muss bereits immanent in einer vorgegebenen
Inter-Subjektivität existieren, damit der Zugang zum Realen sich tiefer als bereits immer
schon bestehender Zugang „zu leben“ erweist. Damit ist eine Trans-gression prinzipieller Art
angezeigt, indem sich weder die therapeutische Beziehung noch die Grenzerfahrung des
„Fehlens“ oder „Todes“ darin als Begrenzung für dieses Leben selbst erweisen, da sonst trotz
aller analytischen Technik eine imaginäre Barriere beibehalten würde, die dem Leben in
seiner Selbstmitteilung nicht entspricht, weil die immanente Sphäre des Lebens kein ekstatisch Dimensionales mit irgendwelchen Horizont- oder Intentionalgrenzen bildet. Kurz
gesagt, kann das „Reale“ als lebendige Wirklichkeit keiner letztlich infinitesimalen
Annäherung unterliegen, so wie das Leben auch keinem Fortschritt oder Rückschritt
unterliegt – und nur in dieser unmittelbar selbstaffektiven Gewissheit sich zu manifestieren
vermag.17
2) Verbot und Gesetz als Verhältnis von Grenze/Grenzenlosigkeit
Kommen nun Patient und Analytiker/Therapeut zum selben Ziel oder bleibt nicht eine offene
Frage, wenn das Subjekt im Lacanschen Sinne zur Anerkennung seines Fehlens (Todes)
gelangt ist? Denn die Patienten können nicht alle selber zu Analytikern werden, um in der
Anerkennung des eigenen Fehlens in ständiger „Durcharbeitung“ positiv zu leben, das heißt in
Freiheit jene „Gabe“ zu leben, welche das Leben in einem naiven oder radikal
phänomenologischen Sinne ist, ohne eine erneut restaurierte imaginäre Funktion zu
übernehmen. Führt die Tiefenpsychologie von Freud bis Lacan und darüber hinaus an diese
von allen Täuschungen befreite „Leere“ des Lebens, so bleibt diese dann gerade als die
„Fülle“ des Begehrens selbst weiterzuleben, die wir dessen reine Immanenz im Sinne
17
In seinem Spätwerk scheint sich Lacan einer solchen Position mit der Sicht des Symptoms als eines leiblichaffektiven sinthomes angenähert zu haben; vgl. Le Séminaire XXIII: Le Sinthome (1975-1976), Paris, Seuil 2005;
J. Godebski, Le tout dernier enseignement de Lacan. Un renouvellement de la clinique?, Paris, L’Harmattan
2009.
9
pathischer Leiblichkeit oder Narrativität nennen,18 denn sonst verlegt die analytischtherapeutische Technik nur das aufgefundene „Fehlen“ des Subjekts in eine unendliche
Selbstregression weiteren „Durcharbeitens“ hinein, ohne den Sprung in die aufgezeigte
positive Freiheit zu tun. Das heißt, die Trans-gression schlechthin zu vollziehen, nämlich den
Lebensvollzug von keiner Bedingung irgendeiner Vorstellung mehr abhängig zu machen –
und sei es der (neo-)psychoanalytische Verdacht sich selbst gegenüber, die letzte Täuschung
noch nicht ausgeräumt zu haben. In dieser Hinsicht können wir also schon vorwegnehmen,
dass nicht nur die Transgression von Normen und Geboten eine subjektive oder „innere
Notwendigkeit“ darstellen kann (wie Kandinsky dies für seine abstrakte Malerei in Anspruch
nahm), sondern die äußerste Transgression betrifft das Hinter-Sich-Lassen von jeglichem
Bild, welches vorgibt, das Leben zu sein oder vermitteln zu können. Denn der „Tod“ im Sinne
Lacans19 dürfte nicht nur eine Unterwerfung unter den „Nicht-Sinn“ darstellen, sondern das
Abrücken von jeder Bedeutungsverleihung, sei es Sinn oder Nicht-Sinn. Vielleicht vermag
die Therapie/Analyse nur bis an diesen Punkt zu gehen, dass über die Biographie als
enttäuschten „Sinnzusammenhang“ keine vergangene, gegenwärtige oder kommende
Wahrheit bzw. Identität für das Subjekt im zeitlichen Sinne erreichbar ist. Aber gerade ein
solcher „Nicht-Sinn“ würde dann noch eine weitere „Unterwerfung“ als bei Lacan verlangen,
nämlich zu erproben, dass prinzipiell keinerlei geartete „Unterwerfung“ in der Sinndimension
ansteht, weil wir bereits immer schon ohne jeden Entzug und Aufschub – ohne „Fehlen“ –
vom Leben selbst affiziert, das heißt „angenommen“ sind, ohne eine vorstellungsmäßige
Sicherheit davon zu besitzen, es sei denn in einem reinen Gefühl als Sichempfinden des rein
subjektiven Lebens.
Darin kann sich in der Tat das Begehren verwirklichen, das heißt ohne Signifikanten von
einem Objekt als einem möglichen Guten, es sei denn dieses Begehren als Vollzug des
genannten Lebens in seinem eigenen Selbstbegehren als solchem. Dann vollzieht sich ein
dergestalt radikal subjektives Leben als die vorgeschlagene Transgression aller sich welthaft
anbietender Finalitäten, einschließlich jener, welche Therapie/Analyse vordergründig oder
mit letztem Anspruch verheißen können, sofern im weitesten Sinne eine illusionsfreie
Selbstaufklärung intendiert ist, welche als die „Unmöglichkeit des Realen“ im Rahmen des
Sprechens als dem Unbewussten erkennbar sein soll. Sofern diese Einsicht an die Kategorie
der Andersheit oder Differenz geknüpft bleibt, handelt es sich dabei jedoch nur um eine
logische Möglichkeit, die insofern nicht hypostasiert werden darf, weil trotz dieser
18
Vgl. R. Kühn, Wie das Leben spricht: Narrativität als radikale Lebensphänomenologie, Cham (CH), Springer
2015.
19
Vgl. Le Séminaire XI: Les quatre concepts fondamentaux fondamentaux de la psychanalyse (1973), 263f.
10
„Unmöglichkeit“ das sich-gebende Leben sich weiter in uns fortzeugt – mithin das uns
gründende Leben ist, was selbst hinsichtlich reflexiv oder analytisch diagnostizierter
„Unmöglichkeit“ eine ontologische Wirklichkeit darstellt, die älter als alles verfehlte „Reale“
ist. Diese phänomenologisch-ontologische Notwendigkeit als „Gabe“ zu sehen, dürfte der
entscheidende Schritt über die (Neo-)Psychoanalyse hinaus sein, ohne die Schwierigkeiten
dieses Begriffs der Gabe zu verkennen.20 Aber es kann nicht von der Hand gewiesen werden,
dass in der Praxis der Therapie Patienten diesen Schritt oder Sprung am Ende für ihren
eigenen Lebensvollzug in der Alltäglichkeit zu tun vermögen. Das eigene (leere) Sprechen
allein kann jedoch wohl kaum in seine Wahrheit gelangen, denn ein solches Ankommen
behält die Struktur des Aufschubs als unendlichen Horizontverweis in sich. Erfahrbar bleibt
indessen, dass das Leben selbst bereits schon in uns „angekommen“ ist – ebenso einmalig wie
für immer als unsere unzurücknehmbare Individuierung. Es geht also schließlich auch nicht
darum, einen letzten logischen oder existentiellen Widerspruch von Sinn/Nichtsinn zu
ergreifen und mutig in der „Offenheit“ dieses Widerspruchs zu leben, wie ein mögliches
Gespräch zwischen Simone Weil und Lacan hinsichtlich der „Leere“ des Begehrens zeigen
kann,21 sondern über die Unerhörbarkeit der Bitte in der begehrenden Anfrage (demande)
hinaus das Leben als jenes Schweigen zu vernehmen, welches sich selbst seine eigene Fülle
ist. In solchem Schweigen kommen Ohnmachtserfahrung des Sprechens und jeglichen
Wissens – auch in der Beziehung zu Anderen (A) – zusammen, ebenso jene des Seins als ein
unmögliches Haben wie des reflexiven Ich als eines disseminierenden Sinnzentrums für alles
Erscheinen. Die in diesem Schweigen implizierte radikale Passibilität ist dann weder ein
Eines noch Eigenes im isolierten Sinne eines substanzhaften Wesens des Subjekts, sondern
eben eine reine Proto-Relation im Leben ohne vorstellbare Relata, und sie ist es, welche der
„Transgression“ in Bezug auf scheinbar fest gefügte Dinge, Situationen, Beziehungen und
Bedeutungen von vornherein ihre je erneuerte dynamische Relationalität verleiht, das heißt
ohne Fixierung auf ein Objekt, Gesprochenes oder isoliert Begehrtes.22
In diesem Sinne können wir sagen, dass die eigentliche, unendliche wie konkrete
Transgression immer schon stattgefunden hat, nämlich als das Ankünftigwerden des absolut
phänomenologischen Lebens in seiner leiblichen Inkarnation, welche wir als Fleisch bzw.
Begehren sind, so dass Fleisch/Begehren als Intensität jene Transgression bildet, welche es
des Näheren noch als therapeutische Problematik in Bezug auf individuelle, gesellschaftliche
20
Vgl. zum Beispiel J. Derrida. Falschgeld. Zeit geben I, München, Fink 1993; A. Caillé, Anthropologie der
Gabe, Frankfurt/M., Campus 2008.
21
Vgl. H. Müller, Die Lehre vom Unbewussten und der Glaube an Gott (1983), 390ff.
22
Für einen entsprechenden Erfahrungsbericht aus der Sicht der Traumatisierung vgl. R. Mayr, Wahrheit
LEBEN. Eine lebensphänomenologische Orientierung an Michel Henry, Salzburg, Bibliothek der Provinz 2014.
11
wie moralische (religiöse) Normativität als Verbote und Weisungen zu verstehen gilt. Um das
Lacansche Verständnis in dieser Hinsicht zu verdeutlichen, ist daran zu erinnern, dass das
Subjekt in seiner Bewegung auf den Genuss (jouissance) hin gespalten ist, denn im Anschluss
an Hegels Rechtslehre ist solcher Genuss einer Teilung mit Anderen sowie der Vernunft
unzugänglich, während das Begehren die gegenseitige Anerkennung zweier Bewusstseine
oder darüber hinaus impliziere, das heißt auf eine allgemeine Gesetzgebung oder
„Objektivierung“ hin ausgerichtet ist. In diesem Sinne ist das Begehren als prinzipieller
Einschluss der Erwartung(en) des Anderen bei Lacan aufzufassen, 23 auch wenn diese
Gegenseitigkeit eine unaufhebbare Differenz beibehält, indem mein Begehren nie mit dem
Begehren des Anderen im imaginären wie symbolischen Realitätsbereich zusammenfallen
kann. Hieran wird schon ersichtlich, dass das Begehren einen grundsätzlichen Bezug zum
Gesetz hat, wodurch das Grenzenlose und Unvermittelte in bestimmter Hinsicht domestiziert
wird, was auch der Freudschen Auffassung weitgehend entspricht. Rechtlich ist es in der Tat
so, dass ich nur dann etwas gänzlich für meinen Genuss in Anspruch nehmen kann, wenn ich
zugleich die juristischen Bedingungen für den Besitz des entsprechenden Objekts in Händen
halte, was einschließt, dass die Anderen auf ein gleiches Genussrecht in einem vertraglich
festgelegten Zeitraum verzichtet haben.
Damit taucht für unseren therapeutischen Zusammenhang hier nunmehr die Frage auf, wie
weit überhaupt mein Genuss reicht, denn wenn der Andere unablösbar zu meinem Begehren
gehört, wie wir sahen, dann enthält dies auch immer eine Begrenzung meines Genießens
durch das Genießen des Anderen (A) – und umgekehrt. Nehmen wir hinzu, dass dabei die
Sprache sowohl als Unterwerfung wie Freigabe des Begehrens des Anderen auftritt, so findet
zugleich Subjektivierung wie Objektivierung meines Begehrens statt; mit anderen Worten
gibt es eine Spannung zwischen dem Phantasma einer Fusion mit dem Anderen und der
Beschränkung meines Begehrens, sofern es ein unendliches Genießen sein möchte. Dies
macht verständlich, warum Lacan prinzipiell formuliert, dass „die Transgression notwendig
ist, um zum Genießen überhaupt Zugang zu haben“,24 und daher (wie im Traum) den „Nabel
des Begehrens“ darstelle, nämlich zugleich Trennung wie Verbindung in Bezug auf den
Anderen zu sein. Die unmittelbaren Implikationen mit der Erotik, Ethik und Religion sind hier
mehr als offensichtlich und wurden besonders vor Lacan schon von Georges Bataille (18971962) ausgearbeitet,25 so wie auch Bezüge zur Lebensphänomenologie Henrys erkannt
23
Vgl. Le désir et son interprétation (2013), 297ff.; dazu auch B. Baas, Das reine Begehren, Wien, Turia + Kant
1995; H.-D. Gondek u. P. Widmer (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz
des Begehrens. Kant und Lacan, Frankfurt/M., Fischer 1994.
24
Le Séminaire VII: L´éthique de la psychanalyse (1986), 208; vgl. gleichfalls Séminaire XX: Encore, Paris,
Seuil 1975 (dt. Das Seminar XX: Encore, Berlin/Weinheim, Quadriga 1986).
25
Vgl. L’érotisme, Paris, Minuit 1972 (dt. Die Erotik, München, Fink 1994).
12
werden können. Denn wenn wir schon zuvor in diesem Beitrag die „Transgression des
Lebens“ als eine rein immanente Bewegung desselben ohne Entzug und Begrenzung
angeführt haben, so kreist die weitere Klärung der Transgression um den Punkt, ob eben nicht
jedes Genießen ein „Sich-Genießen“ (auto-jouissance) des radikal phänomenologischen
Lebens impliziert.26 Auch therapeutisch gesehen enthielte dann das Genießenwollen keinen
Exzess als Hybris wie schon bei den Griechen noch eine totalen Verlust seiner selbst durch
eine Fülle des Genießens im Sinne des „Verschwindens“ des Subjekts bei Lacan, sondern eine
Proto-Relationalität des einen ungeteilten Lebens in Übereinstimmung mit seiner
unmittelbaren Selbstgebung in jedem Augenblick, ohne ein „Nichts“ des Objekts in Bezug auf
die Befriedigung des Genießens leugnen zu müssen.
Insoweit sich das Begehren laut Lacan als Kette von Metonymien innerhalb von zu
genießenden Objekten bewegt, behindert es das Lustprinzip nicht prinzipiell, sondern passt
sich dem Gesetz im weitesten Sinne an, während das Genießen als solches eine Befreiung von
dieser horizontalen Bedeutungsebene verlangen würde. Dies impliziert jedoch einen Bruch,
einen Sprung ins Unmögliche, was die Transgression kennzeichnet; aber wir wissen auch,
dass es zugleich eine originäre Leere für jede Befriedigung des Begehrens gibt, weil die
genannte Metonymie durch den Phallus das stete Fehlen des Subjekts im wie am Sein
symbolisiert, so dass hier schon die Frage auftaucht, ob eine absolute Transgression überhaupt
möglich ist. Dieser Phallus ist der symbolische Verlust des verlorenen Seins des Subjekts
durch die Unterwerfung unter das Gesetz (Differenz) des Signifikanten, 27 so dass Genießen
letztlich immer eine Abwesenheit bedeutet, da durch die Unterwerfung unter die Sprache
sowohl Genießen wie Nicht-Befriedigung als Kastration sich ständig fortschreiben. Besonders
Bataille hatte nun schon für den Zusammenhang von Genießen/Mangel durch den Anderen
als Grundtraumatisierung darauf hingewiesen, dass das Genießen daher im Grunde eher ein
„Todestrieb“ als ein Lustprinzip sei. Dies heißt dann in letzter Konsequenz gerade auch für
die Transgression, das insbesondere sie (etwa im Inzestwunsch) den Tod oder den Verrat des
Anderen in sich trägt. Denn der Sohn muss etwa die Liebe der eigenen Mutter zurückweisen
oder sein eigenes Begehren abtöten, was auch für inzestuöse Beziehungen zwischen
Vater/Tochter oder unter Geschwistern bzw. in strukturell neurotischen Konstellationen gilt.
Auf die Erotik bezogen, wo das Verlangen nach Transgression sicher am meisten gegeben
ist (sieht man von der kriminellen und kriegerischen Gewalt ab), stellt sich der Sachverhalt
hier so dar, sich entweder ganz von einer Liebe einnehmen zu lassen (Transgression) oder
26
27
Vgl. M. Henry, Affekt und Subjektivität (2005), 27f., 49f. u. 151f.
Vgl. J. Lacan, Des Noms-du-Père, Paris, Seuil 2005.
13
aber einer solchen Fusion einen Widerstand entgegen zu setzen, mithin ein gewisses Nein
gegenüber dem Anderen zu leben, was ein begrenztes Nein als „Verrat“ dem Partner
gegenüber einschließt.28 Diesseits der Transgression wäre damit stets nur ein „unreines
Begehren“ zu verwirklichen, da die Transgression des äußersten Begehrens die Auslieferung
des Subjekts an ein „reines Begehren“ bildete, welches durch kein endlos sich wiederholendes
Phantasma bei der Objektwahl mehr begrenzt wäre, sondern sich effektiv als ein Akt
verwirklichte, der über jedes Gesetz hinausginge, wie es etwa die Liebe Antigones zu ihrem
getöteten Bruder bis in den eigenen Tod hinein zeigt. Aber ein Begehren, welches zu einem
solchen Tod führt (wie auch im Selbstmord), ist eine Leidenschaft, der die Heterogenität in
Bezug auf den Anderen fehlt und daher die grundsätzliche Frage nach der ethischen Relevanz
des Begehrens gegenüber dem Anderen – oder von diesem her – stellt, wenn es in einer
gegenseitigen transgressiven Bemächtigung auftritt. In diesem Sinne ist die neopsychoanalytische Auffassung der Transgression bei Lacan 29 kein wirkliches Überschreiten
des Verbotes, sondern der Aufweis von der Rückkehr des letzteren unter der Form einer
„kurzen und erdrückten Befriedigung“, welche ohne die Differenz zum Gesetz (Phallus) nicht
auskomme.
Therapeutisch dürfte damit signalisiert sein, dass zwar mit den Patienten geklärt werden
muss, welche Normen, Regeln und Verbote (neurotisch) ein Genießen verhindern, um
Begehren und Sinn in einer subjektiven Existenz wieder zusammenfinden zu lassen. 30 Aber
zugleich sind absolute Transgressionsansprüche ein Problem, welches die grundsätzliche
Traumatisierung mit einem imaginären Phantasma ganz verdecken könnte, um die
primordiale Relationalität des Subjekts zu einem gewährenden Grund des Genießens als
Leben zu verdunkeln, da letzteres nicht Gegenstand von Transgression zu sein vermag,
sondern zunächst vor allem Empfang als Passibilität, was transgressive Gewalt gegenüber
jedem anderen Lebendigen ausschließt. Licht auf diese radikal phänomenologische wie
therapeutische Konstellation wirft hier ebenfalls die Frage der Perversion, denn der Perverse
versucht zwischen Gesetz und Genießen eine Entsprechung herzustellen, indem sein
Begehren sich nicht mehr um das Verbotene kümmert, sondern dessen Schranke aufhebt, um
ein freies Genießen für sich zu ermöglichen. Aber zugleich bindet er sich an das Gesetz des
Anderen schlechthin (Loi bei Lacan), indem er glaubt, sein Objekt niederträchtig reduzieren
28
Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte
Psychotherapie und Supervision – zugleich ein Beitrag zu Jacques Lacan, Freiburg/München, Alber 2015,
151ff.; A. Badiou u. B. Cassin, Es gibt keinen Geschlechtsverkehr? Zwei Lacanlektüren, Zürich, Diaphanes
2012.
29
Vgl. Le Séminaire VII: L´éthique de la psychanalyse (1986), 208; dazu auch S. Lippi, Transgressions.
Bataille, Lacan, Paris, Erès 2008, 17-26: „De la transgression à la trahison“.
30
Vgl. J. Lacan, Le mythe individuel du névrosé ou poésie et vérité dans la névrose, Paris, Seuil 2007.
14
zu können (Sadismus) oder durch einen Vertrag an sich zu binden (Masochismus). Lässt sich
dies am meta-ethischen Zusammenhang von Sade und Kant diskutieren, wie Lacan31 ihnen
einen Text gewidmet hat, so können hier auch nach perversen Elementen in der Religion
fragen, indem vom Gläubigen manchmal versucht wird, „Gott“ durch Gebete und Opfer zu
erreichen. So wie hier der absolut (göttlich) Andere letztlich Genuss verheißt, oder zumindest
an Himmel und Hölle als Genuss und Strafe glauben lässt, so plant auch der Perverse die
Inszenierung von Situationen (etwa Orgien), um darin als Subjekt in der Fusion mit Anderen
unterzugehen, so wie auch im religiösen Ritual gelegentlich Martern organisiert werden, um
die Einheit mit dem Göttlichen zu zelebrieren. So kann ebenfalls das Fasten wie ein
auferlegtes Gebot praktiziert werden, da dies zugleich ein Genießen nicht ausschließt, denn
selbst wenn der Essensentzug wie eine Bestrafung wirkt, ist der „Vater“ (Gott) da und liebt
den Fastenden.32
Natürlich ist der Perverse selbst manchmal von seinem Tun angeekelt, wie die Brüder nach
der Tötung des Vaters in Freuds Werk „Totem und Tabu“. Aber in diesem Ekel drückt sich
zugleich die Anerkennung einer Grenze aus, denn der Ekel ist wie ein Symbol der Kastration,
indem eben das Genießen nicht absolut zu sein vermag. Insofern der (symbolische) Vater
hierdurch dem Perversen zu Hilfe eilt, zeigt der Bezug zwischen Transgression/Ekel auch
wieder einen implizit gegebenen Verrat am Begehren des Anderen in dieser perversen
Überschreitung des Gesetzes an. Hierbei ist allerdings deutlich von der Perversion als
psychischer Struktur (wie etwa in der Neurose) und in der kriminellen Perversion zu
unterscheiden, da letztere die Form der Zerstörung des Anderen durch dessen Auslöschung im
Tod annimmt. Exhibitionisten, Alkoholiker und Drogensüchtige zeigen hingegen zusätzlich,
dass sie den Anderen brauchen, um im Blick des Anderen ebenfalls als „Ekel“ noch existieren
zu können, denn diese Passivität bleibt noch ein Akt, um zu zeigen, dass ein reines
Objektwerden nicht möglich ist und damit auch das Genießen des Perversen unvollständig
wie enttäuschend bleibt, wie es gerade auch die Romane von Bataille herausstellen. 33 Und der
Schmerz wird offensichtlich in der Perversion dazu genutzt, um das Begehren genießen zu
können, denn das Begehren verlässt das Subjekt meist sehr rasch nach der Befriedigung,
während der Zeitzyklus des Schmerzes länger andauert. Daher versucht der Perverse, einen
Mechanismus des Begehrens zu installieren, der dieses Begehren immer wieder nährt. Im
Sadismus ist dies sehr eindeutig, aber jeder Andere kann in einer (tiefenpsychologisch
gesehenen) perversen Struktur zum Gegenstand von gewollten Schmerzen und Aufteilungen
31
Vgl. „Kant avec Sade“, in: Ecrits II, Paris, Seuil 1971, 119-150.
Vgl. in solchem Zusammenhang auch die Erlebensweisen von Anorexie: I. Marcinski, Anorexie.
Phänomenologie einer Essstörung, Freiburg/München, Alber 2014
33
Vgl. S. Lippi, Transgressions (2008), 32f.
32
15
werden, die das gegenseitige „Genießen“ – eben den Schmerz – weniger schnell aufhören
lassen, weshalb solche Bindungen als Ehe oder Beziehungen lange dauern können, wie die
Therapie alltäglich zeigt.
Beim Perversen ist das Begehren als Transgression dabei an keinen Mangel gebunden,
denn das Verbot zu genießen, wie es mit dem Anderen an sich auftritt, wird verneint, um das
Genießen als universal zu behaupten. Wenn es sein muss, macht sich der Perverse daher zum
Instrument des Genießens durch den Anderen, um sich (imaginär) außerhalb seiner eigenen
subjektiven Trennung zu versetzen, so als wäre er dieser Andere, um nicht auf ihn (als NichtKastration) verzichten zu müssen. Man kann sich fragen, ob hier Parallelen zur Mystik
bestehen, denn auch der Mystiker glaubt oft, sich durch Leiden mit Gott vereinigen zu
können, auch wenn seine bewussten Motive andere sind. In gewisser Weise wird hier die
Trennung zu Gott aufgehoben, aber während der Perverse letztlich zu einem Objekt, zu einem
Fetisch seiner eigenen Leidenschaft wird, sieht sich der Mystiker als Ich, Person oder Subjekt
in Gott aufgehoben.34
In der Perversion wird mithin die eigene Subjektivierung, welche nach Lacan an sich einer
Differenz oder Teilung unterliegt, zu einem Subjekt ohne Schranke, um sein eigener Fetisch
anstelle des Gesetzes (Phallus) für den Anderen zu sein. Der perverse Blick auf das Wirkliche
wird das Genießen des Anderen, das heißt zum eigennützigen Vertrag, um Opfer auspeitschen
zu können (Sade), was bedeutet, dass die Identifikationen mit dem Anderen hier nicht in der
Leere als Nicht-Erfüllung des Begehrens zu existieren vermögen. Deshalb braucht der
Perverse den Anderen im doppelten Sinne des Wortes: als „Partner“ und als Unterwerfung
unter den Blick und die Stimme, welche befiehlt oder manipuliert, wie etwa beim verführten
oder missbrauchten Kind. Das Paradox der Perversion ist daher nur scheinbar, denn das
Genießen wird (oft auf sehr gefährliche Weise) nur über den Schmerz des Anderen erreicht,
mit dem der Perverse dann doch nicht im fusionnellen Sinne eins werden kann, da die
Identifikation mit dem Opfer als Objekt die Begegnung mit dem Anderen als Subjekt
ausschließt. Nach Freud ist die Perversion eine Fixierung auf ein primäres oder kindliches
Lustempfinden,
was
neo-psychoanalytisch
impliziert,
dass
die
Signifikantenkette
immobilisiert wurde, um über ein faszinierendes Bild jenen genannten Fetisch zu installieren,
der als Erinnerung zugleich immer wieder wie ein Schirm als projektive Bildfläche dient, auf
welcher die Objektivierung des Opfers stattfindet.35 Mit Lacan kann man daher sagen, dass
34
Vgl. für diese Zusammenhänge bereits das klassische Werk von P. Janet, De l’angoisse à l’exstase. Études sur
les croyances et les sentiments I: Un délire religieux, Paris, Alcan 1926; für Formen der „Mystik“ innerhalb von
Grenzerlebnissen vgl. jetzt auch M. Hulin, La mystique sauvage, Paris, PUF 2008; J. Lacan, Encore (1975),
98ff., zum Verhältnis von „zerrissenem Leib“ und mystischer Sprache.
35
Vgl. J. Lacan, Écrits (1966), 518f.
16
der Perverse sein Genießen nicht – wie sonst beim Begehren – an die prinzipiell bewegliche
Form der Anfrage oder Bitte (demande) bindet, da der Perverse bereits weiß, dass er auf die
Befriedigung wird verzichten müssen, aber dennoch daran glaubt – und deshalb zur
Erreichung seines Zieles alles in Bewegung setzt. Aber als in seinem Begehren geteilt, das
heißt als Instrument oder Gehilfe der Objektivierung des Anderen, wird der Perverse selbst
zum eigenen Verfall als Opfer des Ekels, wie wir sahen.
Wir haben damit genug Elemente in Händen, um zu verstehen, dass jede Überschreitung
einer Grenze, um ein äußerstes Genießen zu erreichen, insoweit unmöglich ist, als das Subjekt
dabei auf den Verzicht durch eine unübersteigbare Grenze stößt, welche in der
tiefenpsychologischen Sprechweise von der Kastration gebildet wird. Über den alltäglichen
Begriff hinaus impliziert die Transgression daher eine Erfahrung menschlichen Erlebens des
Unbegrenzten, welches zugleich die unübersteigbare Grenze bleibt, so dass sich eine
Dialektik herausbildet, welche eine menschliche Struktur schlechthin bezeichnet, die einem
Maß des Möglichen für den Menschen entspricht und gleichzeitig auf der Höhe des
Unmöglichen ist, so wie Jaspers einmal formulierte: „Das Maximum ist das Minimum des
Menschen.“ Diese Dialektik von Grenze/Grenzenlosigkeit beinhaltet daher eine Korrelation
von Kontinuität/Kontiguität der menschlichen Erfahrung als einer Linie, welche die
Transgression dann weniger zu einem spektakulären Bruch mit einer Norm macht als zu einer
kontinuierlichen existentiellen bzw. ekstatischen Handlung, welche sich zwischen dem
Begrenzten und Unendlichen hin und her bewegt. Deshalb hatten wir auch schon den Begriff
der Transgression für den ursprünglichen Zusammenhang von Subjektivität/Leben letztlich
verwandt, denn die Proto-Relation zum rein phänomenologischen Leben ist für unser
Empfinden zugleich äußerste Ohnmacht wie die Fülle überhaupt in der Passibilität unserer
pathischen Selbstaffektion, wodurch die Transgression bzw. das ihr entsprechende Begehren
in jeder Therapie/Analyse zur Sprache kommen und nach einer Antwort seitens des
phänomenologisch-tiefenpsychologischen Wesens des Menschen suchen. Im Beispiel des
klinischen Falls vom „kleinen Hans“ bei Freud entfaltet Lacan daher den uns schon bekannten
Zusammenhang von Identifikation anhand der Vatermetaphyer, um die Transgression
(Verlassen des Hauses) vornehmen zu können.36 Denn der symbolische Vater ist insofern der
Angelpunkt der Transgression, als das Subjekt im Übersteigen der Grenze seinen Platz
36
Vgl. J. Lacan, Le Séminaire IV: La relation d’objet (1956-1957), Paris, Seuil 1984, 325f. (dt. Die
Objektbeziehung, Olten/Freiburg, Walther 1982). Zu einer erneuerten tiefenpsychologischen Bestimmung des
„Sohnseins“ führt der Vergleich zwischen dem „verlorenen Sohn“ im Neuen Testament und der absoluten
Geburt als „Sohn“ im radikal phänomenologischen Leben durch L. Wondracek, Psychoanalyse und
Lebensphänomenologie. Ein Beitrag zur Klinischen Psychologie, Freiburg/München. Alber 2013, Kap. III,6.2.2:
„Menschsein als Sohn: zwischen Ödipus und dem Ursohn“ (S. 191-193).
17
einnimmt und zugleich die Gefahr reduziert, um das Mögliche des Unmöglichen der
Entgrenztheit zu erkunden.
Dennoch bleibt die existentielle Transgression eine Einbildung, da Grenze wie
Unbegrenztes nur jeweils in einer Bewegung gegeben sind, welche beides sucht und jeweils
neu verneint, um im Möglichen des Unmöglichen weiterzuschreiten. Betrachtet man diesen
Elan radikal phänomenologisch und nicht nur tiefenpsychologisch als Vater/Mutter-Metapher
von Verbot (Inzest) und Gesetz (Identifikation), dann wird an dieser Stelle gut sichtbar, dass
eben das rein selbstaffektive Leben die effektive Transgression bereits enthält, da es in sich
innerhalb seiner Selbstbewegung keine mundane Grenze mehr kennt, sondern jede
Konstellation von Möglich/Unmöglich in Bezug auf seine unendlich modalisierte Intensität
erlaubt. Daher sind auch Zweifel erlaubt, ob nach Lacan in der Transgression nur ein
Genießen der Grenze stattfindet, während das Begehren selbst weiterhin dem Phantasma
solch beschränkten Genießens unterliegt. Denn erfährt man im Genuss des Verbotes nur seine
eigene Ohnmacht, um durch deren engen Spalt die Möglichkeit der Unbegrenztheit zu
erahnen, die nicht oberhalb des Lustprinzips weitergeführt werden kann – nämlich als das
objektlos mögliche Begehren? Dies hieße, die Transgression noch an die paroxystische
Intention des Über-Schreitens selbst zu binden, während gerade bereits in der Passibilität der
Ohnmacht das reine Sich-Genießen des Lebens als absolute Selbst-Affektion gegeben ist. Nur
aufgrund der differe(ä)ntiellen Sichtweise des Subjekts bei Lacan lässt sich formulieren, dass
„es ein nur jeweils kurzes Hervorbrechen des Genießens im Leben eines Subjekts manchmal
gibt“, etwa in einem Traum, Lapsus oder in leidenschaftlicher Erotik, 37 weil die Bewegung
von Möglich/Unmöglich stets unvollständig bliebe.
Wenn in der Tat die Vater/Mutter-Konstellation tiefenpsychologisch die ursprünglichste
sein soll, dann ist naturgemäß bereits die Selbstoffenbarung des Lebens als dessen reines
„Sich-Genießen“ in einem empirischen oder strukturellen Unbewussten begrenzt, und nie
wird jene ursprüngliche Transgression des Lebens erprobt, bereits absolut phänomenologisch
von seiner Ur-Mächtigkeit affiziert zu sein. Wenn der Neurotiker demzufolge sich nicht dem
integralen Genießen aussetzt und über die Möglichkeiten des erotischen Lebens etwa nur
träumt, dann letzthin nicht, weil er den Tod in der wirklichen Transgression fürchtet, sondern
tiefer noch die Berührung mit einem absoluten Leben, welches die Normalität und Sicherheit
des Alltags übersteigt, um eine andere Erprobung des eigenen subjektiven Lebens zuzulassen.
Die Transgression muss daher in der Therapie als das konkrete Durchbrechen solcher Angst
eingeübt werden, so dass Sinn/Begehren innerhalb bestimmter Fixierungen bisher nicht mehr
37
S. Lippi, Transgressions (2008), 42f.
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auseinander brechen, um allein dem Phantasma des gewünschten „Unmöglichen“ Platz zu
lassen. Da das Ursprüngliche nur in der eigenen Existenz als Gefühl gelebt werden kann,
vermag dieses Unmögliche auch nur in der Bewegung des entsprechenden subjektiven
Empfindens verwirklicht zu werden. Die Transgression als „Verwindung“ (torsion) von
Grenze/Phantasma, um das Begehren „oberhalb der überschrittenen Grenze“ erst beginnen zu
lassen, reproduziert daher nur die Spannung zwischen Haben und Sein als eines Verhältnisses
von Phallus/Kastration. Bildlich gesprochen wäre die Transgression damit eine bloß
„spaltweit geöffnete Tür“, die nicht durchschritten wird,38 weil die Vollendung nur im Tod
liegen könne, den wir fürchteten, insoweit die Transgression das Verlassen eingefahrener
Wege und „Verrat“ am Anderen bedeuten kann. Sind wir wirklich im Leben, gibt es auch
letztlich nicht diese Furcht, womit die Frage der Transgression bereits vom Ursprung her
gänzlich beantwortet ist – keine Furcht vor irgendeinem Tod mehr haben zu müssen.
38
Vgl. J. Lacan, Séminaire IX: L’identification (1961-1962), Paris, Éd. Transcription 1960, 289, sowie Le
Séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, Paris, Seuil 1991, 19.
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