Der Tagesspiegel

SONNTAG
23 Jahre Todeszelle:
Debra Milke im
Interview – Sonntag
„Ku’damm 56“:
Mit Reise:
Die 50er Jahre werden
zum TV-Ereignis – Seite 31
Im Land des
Bourbon
BERLIN, SONNTAG, 20. MÄRZ 2016 / 72. JAHRGANG / NR. 22 705
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Diese Zeiten
BUNDESLIGA
2:1
1:3
0:1
1:1
1:1
1:0
Hertha besiegt
Ingolstadt
mit 2:1
Ganz oben
Leben in
der Zukunft
Das Humboldt-Forum soll mit einem
Dachrestaurant gekrönt werden.
Der Tagesspiegel zeigt, wo es sich schon
jetzt in luftiger Höhe essen lässt – Seite 11
Von Stephan-Andreas Casdorff
E
Foto: Prignet/Le Figaro Magazine/laif
Berlin - Hertha BSC hat sich im Kampf
um die Qualifikation für die Champions
League keine Blöße gegeben. Am Sonnabend besiegten die Berliner im Olympiastadion Aufsteiger Ingolstadt mit 2:1 und
festigten damit den dritten Tabellenplatz.
Vor 40 385 Zuschauern erzielten Genki
Haraguchi und Salomon Kalou die Treffer
für Hertha. Meister FC Bayern mühte sich
zu einem 1:0-Sieg in Köln.
Tsp
— Sport, Seiten 18-19
Wieder
Anschlag
in der Türkei
Istanbul - Bei einem Selbstmordanschlag auf einer Einkaufsstraße der türkischen Metropole Istanbul hat ein Attentäter am Samstag vier Menschen mit in den
Tod gerissen. Bei den Toten handelt es
sich um drei Israelis und einen Iraner. 36
Menschen wurden nach Angaben von Gesundheitsminister Mehmet Muezzinoglu
verletzt, sieben davon schwer. Unter den
Verletzten seien zwölf Ausländer, darunter mehrere Israelis. Erste Meldungen,
nach denen auch eine Person aus Deutschland verletzt sei, konnten zunächst nicht
bestätigtwerden.DasAuswärtige Amtforderte Reisende in Istanbul auf, zunächst in
ihren Hotels zu bleiben. Der Anschlag
wurde im europäischen Teil der Stadt verübt. Es bekannte sich bisher niemand zu
der Tat. Regierungsfreundliche Medien
machten den „Islamischen Staat“ (IS) verantwortlich. Zuvor waren auch Kurden
verdächtigt worden.
rtr/AFP
— Seite 2
W
ie jeder weiß, hat die CDU die
politischen Positionen der
SPD weitgehend übernommen. Zum ersten Mal seit Willy Brandt
wird Deutschland von einer sozialdemokratischen Kanzlerin regiert, die das
SPD-Parteiprogramm tatsächlich ernst
nimmt. Helmut Schmidt und Gerhard
Schröder hatten, anders als Angela Merkel, mit der SPD ja immer ihre Probleme. Dass Merkel, formal, Mitglied
und sogar Vorsitzende bei der CDU ist,
erinnert ein wenig an einen Vorfall in
der Karriere des ersten Bundeskanzlers
Adenauer. Konrad Adenauer wurde
1956 zum Ehrenhäuptling der Indianerstämme von Wisconsin ernannt, obwohl er mit Indianern etwa so wenig am
Hut hatte wie Angela Merkel mit der
CDU. Wenn einem von Indianern oder
von der CDU so ein Vorsitz angeboten
wird, wäre es natürlich unhöflich, abzulehnen.
Etwas Derartiges hat es meines Wissens in der Geschichte noch nicht gege-
Lammert für Abschaffung der Immunität
Bundestagspräsident schlägt vor, den Schutz von Abgeordneten vor Strafverfolgung ganz zu streichen
Von Jost Müller-Neuhof
Berlin - Bundestagspräsident Norbert
Lammert hat sich offen dafür gezeigt, die
im Grundgesetz gewährleistete Immunität von Parlamentariern zu streichen. Angesichts der Berichterstattung über Verdachtsfälle wie zuletzt beim Grünen-Politiker Volker Beck sieht Lammert „keine
Vorteile“ in den Regeln zum Schutz vor
Strafverfolgung, sagte der CDU-Politiker
dem Tagesspiegel am Sonntag. „Immunität wird in der Öffentlichkeit häufig als
Privileg der Abgeordneten angesehen, ist
in Wirklichkeit aber eher eine Belastung,
da ein Immunitätsverfahren immer mit erheblicher Publizität verbunden ist, die
schnell auch den Charakter einer Vorverurteilung annehmen kann.“ Im Übrigen
handele es sich nicht um eine Bestimmung zum individuellen Schutz von Abgeordneten, sondern um eine Regelung,
die die Funktionsfähigkeit des Parlaments sicherstellen solle. „Ich persönlich
hätte gegen eine Streichung nichts einzuwenden, zumal ich glaube, dass der Deut-
Wer steht
für was?
Von Harald Martenstein
sche Bundestag als Institution stark genug und nicht auf den Schutz der Immunität seiner Mitglieder angewiesen ist“,
sagte Lammert weiter.
Laut Grundgesetz darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten
Handlung nur mit Genehmigung des Bundestags zur Verantwortung gezogen oder
verhaftet werden. Strafverfahren oder Inhaftierungen sind auf Verlangen des Parlaments umgehend auszusetzen. Damit
soll verhindert werden, dass eine übergriffige Exekutive aus politischen Motiven Politiker verfolgen lässt. Seit Bestehen der Bundesrepublik hat diese Schutzfunktion jedoch an Bedeutung verloren.
Der Bundestag genehmigt Ermittlungsverfahren pauschal. Die Strafverfolger
sind allerdings in der Pflicht, ihre Absichten beim Parlamentspräsidenten anzuzeigen. Für weitergehende Maßnahmen,
etwa Durchsuchungen, Anklagen oder
Strafbefehle, muss das Parlament Beschlüsse fassen. In den Fällen der später
wegen Kinderpornografiebesitzes angeklagten SPD-Politiker Jörg Tauss und Se-
ben. Wenn morgen, nur als Beispiel, Barack Obama in den USA damit beginnen
würde, einen waffenstarrenden Grenzwall zu Mexiko zu errichten und die
Rechnung dafür nach Mexiko schicken
würde, wären die Amerikaner irritiert.
Das ist doch der Stil des Republikaners
Donald Trump. Die Leute würden auch
an ihrem Verstand zweifeln, wenn der
Papst Mormone wird oder wenn Margot
Honecker aus Chile einen Aufnahmeantrag an die Piratenpartei schickt. Das ist
irgendwie spukig, da stimmt was nicht.
Dann habe ich festgestellt, dass neuerdings Sahra Wagenknecht und auch Oskar Lafontaine so ähnlich reden wie die
AfD. Das ist der nächste Fall! Die Grünen in Stuttgart sind jetzt die Lieblingspartei der Automobilindustrie. Morgen
fordern sie vielleicht, dass es in Kantinen kein Obst und kein Gemüse mehr
geben darf. Wer steht für was? Mich
wundert gar nichts mehr. Wenn Horst
Seehofer sich in der nächsten Talkshow
einen Joint anzündet, dann sage ich nur:
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bastian Edathy war die Immunität auf diesem Weg aufgehoben worden. Derzeit ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen den Grünen-Abgeordneten Volker
Beck wegen eines Rauschgiftdelikts. Hier
hatte Lammert die entsprechende Mitteilung der Staatsanwaltschaft wegen Formfehlern zunächst nicht akzeptiert. Dadurch verzögerten sich die Ermittlungen.
Der Bundestagspräsident verweist auf
das Beispiel Niederlande, wo es überhaupt kein Immunitätsrecht gebe, und
England, das nur eine Informationspflicht der Strafverfolgungsbehörden
kenne, „ohne dass dort die Demokratie
gefährdet wäre“. Lammert schlägt vor, in
Der hat es jetzt auch.
Inzwischen bin ich davon überzeugt,
dass es sich um ein Virus handelt. Es
läuft genauso ab wie in dem berühmten
Horrorfilm „Die Körperfresser kommen“, da übernehmen Außerirdische
die Gehirne der Erdlinge. Es kommt aus
dem Weltall und es ist ansteckend.
Nur die SPD scheint bisher immun zu
sein. Eine Gruppe linker SPD-Abgeordneter fordert, ganz old school, Steuererhöhungen und ein sofortiges Lösen
der Schuldenbremse. Der Spitzensteuersatz soll um satte zehn Prozent steigen.
SPD, klarer Fall, höhere Steuern und
Schulden. Die Forderung nach höheren
Steuern in Kombination mit einer hohen
Staatsverschuldung ist tatsächlich das
einzige Alleinstellungsmerkmal, welches der SPD in der Großen Koalition
noch verblieben ist. Und irgendwie beruhigt es mich als Wähler, dass die SPD
nicht plötzlich für die Wiedergewinnung von Schlesien eintritt. Kommt vielleicht noch.
Umkehrung der jetzigen Praxis im Bundestag ein Verfahren wie im Brandenburger Landtag einzuführen. Dort seien Ermittlungs- und Strafverfahren gegen
Landtagsabgeordnete jederzeit möglich,
jedoch auszusetzen, wenn der Landtagspräsident, eine Fraktion oder ein Abgeordneter dies beantragten, weil durch die
Strafverfolgung die parlamentarische Arbeit beeinträchtigt werde.
Lammerts Haltung hat möglicherweise
auch mit den zunehmenden Transparenzansprüchen zu tun, denen sich der Bundestag ausgesetzt sieht. So hat das Verwaltungsgericht Berlin vergangenen September auf eine Tagesspiegel-Klage hin entschieden, dass die Parlamentsverwaltung
Angaben zu den bei ihr angezeigten Strafverfahren machen muss. Der Schutz des
freien Mandats stehe „allenfalls einer namentlichen Nennung der von Strafermittlungsverfahren betroffenen Abgeordneten entgegen“, hieß es. Auskünfte zur
Zahl der Verfahren oder zur Art der Delikte müssten aber gegeben werden. Der
Bundestag hat Berufung eingelegt.
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Am Sonntag gibt es in Berlin
und Umgebung kaum Sonne.
Zeitweise regnet es.
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INDEX
Foto: Thilo Rückeis; Jörg Carstensen/dpa
Hertha BSC – FC Ingolstadt
Hamburger SV – TSG Hoffenheim
1. FC Köln – Bayern München
VfL Wolfsburg – Darmstadt 98
Werder Bremen – FSV Mainz 05
Eintracht Frankfurt – Hannover 96
s scheint mit jedem Tag mehr so, als
sei die Dimension der Zukunft die
vorherrschende Kategorie in unser
aller Leben und damit, wohl besonders,
in der Politik. Heute schon sollen Antworten auf Fragen gegeben werden – gegeben
wohlgemerkt, nicht gefunden –, die sich
erst morgen stellen. Sage keiner, er oder
sie habe dieses Gefühl nicht schon gehabt, derart rasant bis rasend sind die Zeiten geworden. Und damit sind nicht nur
die Berichte über sie gemeint. Es ist
schon wahr: Die Beschleunigung kennt
gerade kein Ende. Deshalb wird auch die
Debatte darüber so dringlich.
In der Politik ist das in diesen Wochen
des nach früheren Maßstäben noch recht
jungen Jahres besonders gut zu sehen. Da
werden auf allen Feldern, innen- wie außenpolitisch, kurzfristige mit kurzsichtigen Reaktionen verwechselt, absichtsvoll
vertauscht. Dabei ist manches doch gar
nicht auf Dauer angelegt. Manches Mal
wird nur hier und dort korrigiert, in den
Lauf der Dinge eingegriffen, um schlicht
Zeit zu gewinnen, über die vordergründige Wirklichkeit hinauszukommen und
in die Zukunft weiterdenken zu können.
Um „modellhaft“ denken zu können, wie
es der Bundeskanzler der monumentalen
Bedächtigkeit, Willy Brandt, einmal ausdrückte. Pragmatische Lösungen, der
Lage geschuldet, werden gerade unglücklicherweise oft und laut in ihrem Wert
zum Grundsätzlichen erklärt, um sie
dann umso besser als nicht auf Dauer
tragfähig denunzieren zu können. Wer da
wagt, über die unmittelbare Gegenwart
hinauszugreifen wie die Bundeskanzlerin
der (im Wortsinn) phänomenalen Beharrlichkeit, Angela Merkel, sieht sich bald
schon wie Brandt dem Vorwurf staatspolitischer Unzuverlässigkeit ausgesetzt.
Von den eigenen Leuten!
Dennoch ist auch Tröstliches in dieser
Situation zu entdecken. So, dass von der
Außenpolitik ausgehend in die Innenpolitik hineinwirkend eine an Grundwerten
orientierte Linie das gegenwärtige Handeln bestimmt. Und dass dieses Handeln
durchgehalten wird, so weit es geht. Gerechtigkeit und Solidarität sind als
Maßstäbe eben nicht verloren gegangen.
Nicht sie sind Verhandlungsgegenstand,
sondern ihre Ausfüllung ist es. Unser Leben mitsamt seinen Anforderungen an
die Gesellschaft soll doch nicht nur gedacht, sondern gelebt werden. Von möglichst vielen möglichst gut. Und das gilt
über Deutschland hinaus. Solidarität ist
keine Illusion, sondern Chance auf Verwirklichung eines guten Lebens für immer mehr Menschen, wenn sie in größerem Maßstab gedacht wird: europäisch.
Wer daran sein Mütchen kühlt, der hat
vor allem anderen nicht den Mut, über
die praktische Politik des Tages hinauszuschauen und zu -gehen. Wer den Versuch, nach Grundwerten Politik zu gestalten, abwehrt, indem er sie abqualifiziert,
der stellt seine Werte infrage. Wer gegen
die notwendige Durchdringung komplexer Anforderungen beim Flüchtlingsthema – um ein einziges Beispiel der vielen, vielen großen Themen zu nehmen –
nur polemisiert, der ideologisiert.
Aber nun ist ja die vorherrschende
reale Kategorie die Zukunft. Das Vorausschauen wird Pflicht. Doch müssen wir
uns gelegentlich rückversichern – indem
wir uns unserer selbst vergewissern. In
diesen rasenden Zeiten gibt es Momente,
politisch und über das Politische hinaus,
die dazu mahnen. In diesen Momenten
fallen wir gleichsam aus der Zeit heraus.
Dass es aber erst dieser Momente bedarf
– das ist eine Debatte wert.