Die Brexit-Uhr tickt

Sozialismus mit Freiheit
Rigaer mit Kneipe
Jean Wyllys fordert einen Neuanfang
der brasilianischen Linken. Seite 3
Linkes Hausprojekt in Berlin schenkt
weiter Bier aus – vorerst. Seite 9
Kämpfen mit
Schmerzen
Mixed Martial Arts,
der härteste
Kampfsport, wird
beliebter und zieht
das große Geld an.
In Deutschland hat
die Szene Probleme
mit Neonazis.
Seite 19
Foto: imago/Fotoarena
Freitag, 3. Februar 2017
STANDPUNKT
Pochen allein
genügt nicht
72. Jahrgang/Nr. 29
Bundesausgabe 1,70 €
www.neues-deutschland.de
Die Brexit-Uhr tickt
Merkel mahnt den
Machthaber mild
Britische Regierung legt Zeitplan vor / EU-Austrittsgesetz nimmt erste Hürde
Kanzlerin nennt gegenüber Erdogan
Meinungsfreiheit »entscheidend«
Roland Etzel zum Auftreten der
Kanzlerin in der Türkei
»Merkel pocht bei Treffen mit Erdogan auf Meinungsfreiheit«, titelte eine Agentur ihre Meldung
über die Begegnung der Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten. Nun hat wohl kein Außenstehender gehört, wie vernehmlich das Pochen tatsächlich war,
aber auf den Putz gehauen hat sie
wohl nicht, auch nicht im übertragenen Sinne. Der Gastgeber,
berühmt-berüchtigt für spontane
cholerische Ausbrüche, darf da
als verlässlicher Seismograph
gelten. Nennenswerte Ausschläge
werden da aber nicht gemeldet.
Nun war das Auftreten der
deutschen Regierungsspitze keineswegs jämmerlicher als das des
letzten US-Vizepräsidenten oder
des NATO-Generalsekretärs Ende
vorigen Jahres. Aber es ist unter
dem Strich reichlich wenig, gemessen an den Forderungen der
Öffentlichkeit in Deutschland und
selbst an den ohnehin nicht ausufernden Erwartungen jener in
der Türkei.
Die Zehntausenden seit Juli
2016 aus politischen Gründen
Verhafteten hätten schon erwarten können, dass Merkels milde
Mahnung, »Meinungsfreiheit und
Gewaltenteilung in der Türkei«
einzuhalten, von Erdogan nicht
unwidersprochen als »Aufruf zur
Zusammenarbeit im Anti-TerrorKampf« fehlinterpretiert wird.
Warum fragte Merkel nicht nach
den im Gefängnis sitzenden demokratisch gewählten Abgeordneten? Opposition muss sein, erklärte sie – eine Aussage, wolkig
genug, dass sich Erdogan ihr gern
anschloss. Er ist auch für Opposition, sofern er die sich selbst aussuchen kann.
UNTEN LINKS
Hat Donald Trump aufgelegt oder
nicht? Nach einem Telefonat mit
dem australischen Regierungschef
Malcolm Turnbull heißt es, der
USA-Präsident habe das Gespräch,
für das eine Stunde vorgesehen
war, abrupt nach 25 Minuten beendet. Doch erstens hat Mister
Turnbull nichts davon bestätigt.
Zweitens kann man es jemandem
nicht verdenken, der morgens
schon beim Rasieren außer Atem
gerät, weil sein Gegenüber ihn in
Rage bringt, wenn er einem ehemaligen Partner seines Amtsvorgängers ins Wort fällt, mit dem er
auch noch einige Rechnungen offen hat. Drittens schließlich hat
Donald Trump dank seines Vorgehens 35 Minuten Regierungszeit gewonnen, die er für andere
wichtige Dinge nutzen kann. So
hat er angekündigt, das Abkommen mit Australien gründlich zu
prüfen, nach dem die USA 1250
Flüchtlinge aufnehmen wollen,
die Australien irgendwo geparkt
hat und loswerden will. Da bliebe,
viertens, auch noch eine Mauer,
die Trump rings um Australien
baut. Und Mr. Turnbull zahlt. uka
ISSN 0323-3375
Foto: imago/ITAR-TASS
Ankara. Bei ihrem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat
Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Einhaltung der Meinungsfreiheit in der Türkei gepocht. Sie habe »darauf hingewiesen, dass in
diesem tief greifenden Umbruch die Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit gewahrt
sein« müssen, sagte Merkel am Donnerstag
im Präsidentenpalast in Ankara. »Opposition
gehört zu einem demokratischen Staat dazu«, betonte sie. Die Bevölkerung habe sich
bei dem Putschversuch vom 15. Juli sehr
deutlich für die Demokratie eingesetzt. »Gerade deshalb ist jetzt eine entscheidende Frage die Meinungsfreiheit«, sagte Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Erdogan. Sie habe »sehr ausführlich« mit Erdogan über die Freiheit der Presse gesprochen. Merkel sagte dem türkischen Präsidenten gleichzeitig eine enge Zusammenarbeit im Kampf gegen jede Form des Terrorismus zu. Dabei verwies die Kanzlerin nicht
nur auf islamistische Anschläge, sondern
auch auf die verbotene PKK. AFP/nd Seite 8
Russland und
Ungarn in Harmonie
Präsident Putin zu Gast bei seinem
wichtigsten EU-Verbündeten Orban
Foto: AFP/Isabel Infantes
London. Auf 77 Seiten wird in dem am Donnerstag veröffentlichten »Weißbuch« der britischen Regierung der Fahrplan für den EUAustritt beschrieben. Allerdings findet sich darin kaum etwas Neues. Der Brexit-Fahrplan
enthält die zwölf Punkte, die Premierministerin Theresa May bei der Rede vor zwei Wochen vorgestellt hatte. Da hatte sie den harten
Brexit, den Ausstieg aus dem EU-Binnenmarkt
und der Zollunion, verkündet.
Oppositionspolitiker reagierten empört. Keir
Starmer von Labour sagte: »Diese Stellungnahme sagt gar nichts aus!« Stephen Gethins
von der Schottischen Nationalpartei bezeich-
nete es als befremdlich, dass das »Weißbuch«
erst nach der ersten Abstimmung über das Brexit-Gesetz präsentiert worden sei und nichts
Neues enthalte. »Das ist eine Sauerei.«
Die erste Abstimmung über das EU-Austrittsgesetz fiel überraschend deutlich für May
aus: 498 stimmten im britischen Unterhaus am
Mittwochabend dafür, 114 dagegen. Eine erste Hürde ist damit genommen. Mit dem nur
143 Wörter zählenden Gesetz sollen die Parlamentarier der Regierung die förmliche Erlaubnis erteilen, die Austrittsverhandlungen
mit der EU aufzunehmen. Das abschließende
Votum über die Vorlage soll kommende Wo-
che erfolgen, eine Mehrheit dafür steht außer
Frage. Derweil wurden weitere Folgen des Brexit-Votums deutlich. Laut einem Bericht des
Community Security Trust ist die Zahl antisemitischer Vorfälle in Großbritannien 2016 stark
gestiegen. Als möglichen Grund nannte die
Nichtregierungsorganisation auch das BrexitReferendum. Die britische Wirtschaft hingegen erfreut sich besserer Aussichten. Die britische Notenbank hob ihre Wachstumsprognose
für 2017 deutlich an. Das Bruttoinlandsprodukt werde um 2,0 Prozent zulegen, teilte die
Bank of England am Donnerstag mit.
Agenturen/nd
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Kein Vertrauen in die Jugend
Laut Umfrage zweifelt ein Drittel der Deutschen an der Demokratiefähigkeit der Jüngeren
Der jüngste Report des Kinderhilfswerks zeigt: Demokratieförderung bei Kindern und Jugendlichen ist ausbaufähig.
Von Maria Jordan
Ein Drittel der deutschen Erwachsenen traut der nachfolgenden
Generation nicht zu, später die
Verantwortung für den Erhalt der
Demokratie zu übernehmen. Zu
diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Umfrage, die das
Deutsche Kinderhilfswerk in Auftrag gegeben hatte.
Thomas Krüger, Präsident des
Deutschen Kinderhilfswerks, hält
das große Misstrauen gegenüber
Kindern und Jugendlichen für
»besorgniserregend«. »Vor allem
vor dem Hintergrund, dass es die
Aufgabe der jetzigen Erwachsenengeneration ist, die nächste Generation auf diese wichtige Aufgabe vorzubereiten.«
Für den Kinderreport 2017 befragte das Institut infratest dimap
bundesweit 1080 Erwachsene sowie 623 Kinder und Jugendliche
im Alter von zehn bis 17 Jahren.
Die Ergebnisse wurden am Donnerstag in Berlin vorgestellt.
Die Frage nach der Demokratiefähigkeit wurde auch im Hinblick auf die Parteienzugehörigkeit überprüft. Interessanterweise
ist das Vertrauen gegenüber der
Jugend bei Anhängern der FDP
(84 Prozent) mit Abstand am
größten. Danach folgen die Grünen mit 78 Prozent. Am skeptischsten ist man hingegen in den
Lagern von AfD (58 Prozent) und
Linkspartei (56 Prozent). Grundsätzlich wächst das Zutrauen mit
steigendem Alter und Einkommen.
Als Hauptverantwortliche für
die Demokratieerziehung steht
laut Umfrage die Familie mit 90
Prozent deutlich an erster Stelle.
Es folgen mit einigem Abstand
Schule und Kita (65 Prozent).
Krüger jedoch findet: »Das Bildungsthema kann nicht hoch ge-
nug geschätzt werden.« Der Präsident
des
Kinderhilfswerks
spricht sich dafür aus, die politische Bildung an Schulen weiter zu
fördern und schon die Kita als Bildungseinrichtung zu begreifen.
89 Prozent der Befragten sehen
die Stärkung des Gesellschaftskundeunterrichts als Mittel, die
demokratischen Überzeugungen
der Kinder zu fördern. Noch größer ist jedoch die Zahl derer, die
glauben, dass dafür mehr Geld für
die Kinder- und Jugendarbeit benötigt wird (92 Prozent).
64 Prozent der Kinder und 80
Prozent der Erwachsenen denken
auch, dass arme Kinder in der
Schule zu wenig unterstützt werden und dadurch weniger Chancen auf einen guten Bildungsabschluss haben. Zu geringe Einkommen der Eltern, die Situation
Alleinerziehender, Vernachlässigung durch die Politik und das Bildungswesen werden von den Befragten als wesentliche Ursachen
für Kinderarmut genannt.
Das Schulsystem in Deutschland sei ein Auslesesystem, in dem
sozial Schwächere benachteiligt
würden, sagt auch die Vizevorsitzende des Bundestags, Petra Pau
(LINKE). Es bestehe jedoch ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der sozialen Frage und Demokratie. »Demokratische Bürgerrechte und soziale Sicherheit
dürfen weder hierarchisiert noch
gegeneinander aufgerechnet werden«, so Pau. Kommentar Seite 4
} Lesen Sie morgen
im wochen-nd
Antizyklisch: Migration
von der BRD in die DDR
Kriminalistisch: Suizid
des Biologen Kammerer
Postfaktisch: Fakten
waren auch kein Spaß
Budapest. Der russische Präsident Wladimir
Putin ist am Donnerstag nach Budapest gereist, um mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban über eine Vertiefung
der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der
beiden Staaten zu sprechen. Die beiden wollten sich unter anderem zu Energie-Themen
austauschen, sagte ein außenpolitischer Berater Putins vor dem Treffen. Der rechtskonservative Orban ist Putins wichtigster
Verbündeter in der Europäischen Union, die
wegen des Ukraine-Konflikts eine Reihe von
Sanktionen gegen Russland verhängt hat.
Die wirtschaftliche Kooperation der beiden Staaten soll trotz der EU-Sanktionen vorangetrieben werden. Putin wurde nach russischen Angaben während des Treffens von
seinen Ministern für Wirtschaft, Energie,
Handel und Industrie begleitet. Konkret werde unter anderem über den Bau von zwei
neuen Reaktoren in einem Kernkraftwerk nahe Budapest gesprochen. Der Bau soll zwölf
Milliarden Euro kosten, zehn Milliarden davon sind russischer Kredit. AFP/nd
Lobbyisten sollen
erfasst werden
Zwei Vereine legen Entwurf für
verbindliches Register vor
Berlin. Mit einem Gesetzentwurf wollen die
Organisationen Lobby Control und Abgeordnetenwatch ihre Forderung nach einem verpflichtenden Lobbyisten-Register vorantreiben. Die Liste solle sichtbar machen, wer in
wessen Auftrag und mit welchem Ziel bei Politikern Lobbyarbeit betreibt, erklärten beide
Organisationen am Donnerstag in Berlin.
Schon im Juli hatten sie einen Entwurf als Diskussionsgrundlage ins Internet gestellt. Auf
der Basis von Verbesserungsvorschlägen liegt
jetzt eine überarbeitete Fassung vor.
Konkret wird vorgeschlagen, dass sich alle
Interessenvertreter registrieren müssen, die
Kontakt mit Parlament oder Regierung aufnehmen. Sie werden dabei unter anderem
verpflichtet, Angaben zu ihrem Budget, ihren Auftraggebern und dem Ziel ihrer Tätigkeit zu machen. Zur Überprüfung soll analog
zum Bundesdatenschutzbeauftragten ein
»Bundesbeauftragter für politische Interessenvertretung« eingesetzt werden. Bei einer
Verletzung der Regeln sollen den Lobbyisten
Geldstrafen drohen. dpa/nd
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