SWR2 DIE BUCHKRITIK

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Chloe Hooper: Der große Mann
Leben und Sterben auf Palm Island
Aus dem Englischen von Michael Kleeberg
Liebeskind Verlag
22 Euro
Rezension von Claudia Fuchs
Dienstag, 12.04.2016 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Einen "moralischen Thriller über Macht, Elend und Gewalt", nannte der amerikanische
Schriftsteller Philip Roth den Tatsachenroman "Der große Mann" der australischen Autorin
Chloe Hooper. Die Originalausgabe erschien 2008 in Melbourne und rollt einen Kriminalfall
um den Tod eines australischen Ureinwohners auf einer Insel vor Queensland auf, der
landesweit für Schlagzeilen sorgte.
Ein Tatsachenroman aus Australiens höllischem Hinterland. Palm Island, ein tropisches
Insel-Paradies in der Nähe des Great Barrier Reef, gilt Ende der neunziger Jahre als einer
der gefährlichsten Orte Australiens. Alkohol, Drogen und Gewalt prägen den Alltag der
etwa dreitausend Aborigines, die in einem Reservat auf Palm Island leben, einer
ehemaligen Strafkolonie für die australischen Ureinwohner. Hier starb 2004 in der örtlichen
Polizeistation der 36-jährige Cameron Doomadgee unter ungeklärten Umständen. Weil er
einen Polizisten beleidigt haben soll, wurde er verhaftet. Vierzig Minuten später lag der
Aborigine tot auf dem Zellenboden. Chris Hurley, der ehrgeizige weiße Polizist vor Ort,
konnte nicht erklären, wie der Inhaftierte an die massiven inneren Verletzungen
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gekommen ist, an denen er schließlich starb. Cameron sei gestolpert, so Hurleys Version
der Geschichte, von der er auch in seiner Vernehmung nicht abwich. Mögliche Zeugen
des Vorfalls waren betrunken oder sie schweigen.
Die Journalistin und Autorin Chloe Hooper recherchierte den Fall zunächst nur für einen
längeren Zeitungsartikel. Bis dahin kannte sie, die aus der Melbourner Mittelschicht
stammt, Aborigines nur aus dem Fernsehen. In Gesprächen mit der Familie des Opfers
und in den Aborigine-Siedlungen des nördlichen Queensland lernte sie den Hinterhof des
demokratischen, lässig-lockeren Australien kennen. Mit dem Gesetz in Berührung zu
kommen, schreibt Hooper, heißt für jede indigene Familie, in ein Labyrinth zu geraten, wo
es nur Wände gibt und keinen Ausgang.
Chloe Hooper gelingt in ihrem Tatsachenroman ein doppeltes Meisterstück: Aus der IchPerspektive der recherchierenden Reporterin analysiert sie die sozialen und politischen
Hintergründe, die zu dem Mord an dem jungen Aborigine führten - als Schriftstellerin ist sie
nicht an die Chronologie der Ereignisse gebunden und frei in der Wahl ihrer literarischen
Mittel. Das erste Abendessen mit Camerons Schwestern, der Moment, wo sie "an den
Haken ging" und tief in die Geschichte hineingezogen wurde, schildert Hooper in
berührend einfacher Sprache, die auch der Ärmlichkeit der Behausung und der
warmherzigen Gastfreundschaft der Familie Ausdruck verleiht. Hooper als suchende,
niemals leichtfertig urteilende Autorin ist in diesem Roman immer präsent. Sie liest
anthropologische Fachbücher über die sogenannte Traumzeit der Ureinwohner, die
mündlich tradierte Schöpfungsgeschichte, und lauscht deren Geschichten über die Macht
der Regenbogenschlange.
Chloe Hooper schreibt ohne Zorn und Eifer über einen Mord, der jedoch nicht zu beweisen
ist und dessen Folgen die Familie des Opfers überwältigen. Camerons einziger Sohn
begeht nach dem Tod seines Vaters Selbstmord. Chloe Hooper nimmt uns mit auf ihre
Recherche und lässt uns auch teilhaben an ihren widersprüchlichen Gefühlen für den
hochgewachsenen, attraktiven Polizisten Chris Hurley, den "großen Mann", der sich
bewusst in abgelegene Aborigine-Siedlungen versetzen ließ. Einerseits war er bemüht um
ein gutes Verhältnis zu den schwarzen Aborigines, andererseits errichtete er hier ein
Reich, in dem sein Wort Gesetz war. Respekt erlangte er wohl auch dadurch, dass es in
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den Mythen der Ureinwohner die Figur des "großen Manns" gibt, die in wechselnden
Verkleidungen auftritt und bei den Ureinwohnern als Schreckensgestalt gilt. Chris Hurley
hatte seine Karriere sorgsam geplant. Undenkbar für ihn und seine selbstgewissen
Kollegen, dass der Tod eines Aborigines diese Planungen durchkreuzen würde.
Chloe Hooper schreibt in der Tradition von Truman Capotes Tatsachenroman "Kaltblütig"
über den Zusammenprall zweier Welten, der unausweichlich in Gewalt endet. Chris Hurley
ist landesweit der erste Polizist, der wegen eines ungeklärten Todesfalls in
Polizeigewahrsam angeklagt wurde.
In diesem lesenswerten Buch stimmt alles: Die genaue, einfühlsame Sprache, die
differenzierte Gesellschaftsanalyse und die packende Dramaturgie. Die Exkurse über die
Geschichte und die Kultur der australischen Aborigines lesen sich leicht, weil sie
exemplarisch in Beziehung zur Familie des Opfers gesetzt werden.
Hoopers Geschichte aus dem Herz der Finsternis fügt die Fakten so zwingend zusammen,
dass das Urteil des Lesers schon feststeht, bevor die Richter es am Ende über Chris
Hurley fällen. Man ahnt, wie es ausfällt.
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